von Jakob Mühle, Maren Francke, René Schlott

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1. April 2016

I Ein Film ohne Ausweg

von Jakob Mühle



Das preisgekrönte Holocaustdrama „Son of Saul” des ungarischen Regisseurs László Nemes zeigt einen Tag im Oktober des Jahres 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Im beklemmenden 4:3 Format heftet sich der Blick des Zuschauers an Saul Ausländer (eindrucksvoll gespielt von Géza Röhrig), einem Häftling des sogenannten jüdischen Sonderkommandos, das die Deutschen für den reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung in den Gaskammern und Krematorien eingesetzt hatten. Der Protagonist Saul hetzt 107 Minuten lang durch das Lager. Er ist auf der Suche nach einem Rabbiner, um einen toten Jungen, den er für seinen Sohn hält, nach jüdischem Ritus zu begraben. Der gesamte Film hat weniger als 90 Schnitte und kennt nur den Blick über Sauls Schulter oder jenen in sein Gesicht.[1] In dieser bedrängenden Nähe gibt es keinen Ausweg für den Zuschauer, so wie es für den Protagonisten keinen Ausweg aus der mörderischen Logik der Vernichtungsindustrie gibt.

Anders als viele andere Spielfilme des Genres, wie etwa „The Grey Zone” (USA 1997) von Tim Blake Nelson, der eine ähnliche Geschichte erzählt, gibt sich László Nemes nicht der Illusion hin, den Horror bebildern zu können. Dennoch ist das Grauen des KZ-Alltags für den Zuschauer stets präsent. Er begegnet uns in der Perspektive des Protagonisten, gefilmt mit Handkamera, unscharf verschwimmend an den Rändern seiner Wahrnehmung. Und was wir nicht genau erkennen können, ist deutlich zu hören: Das schmerzerfüllte Stöhnen einer Frau, das panische Schreien und Klopfen der Opfer in der Gaskammer, die unendliche Folge gebrüllter Befehle – sie werden genauso zum Hintergrundrauschen des Films wie das Vogelgezwitscher in den Wäldern um Auschwitz.

„Son of Saul” überschreitet in Bild und Ton die Grenzen traditioneller Darstellungstechnik. Aus diesem Grund wurde dem Regisseur vorgeworfen, sein Film sei „ästhetisch raffinierter KZ-Kitsch”[2] oder gar eine „Pornografie des Schmerzes”[3]. Die Kritik ist ungerecht. Der Regisseur verlässt sich bei der Erzeugung seiner Bilder ganz auf die Imaginationskraft und das Wissen seiner Zuschauer und schafft es dabei, Elemente des Lageralltags, die wir aus der Literatur kennen, zu bebildern, ohne je zum Voyeur zu werden oder das Grauen herunterzuspielen. So zeigt er etwa das „babylonische Sprachgewirr” im Lager (im Film werden insgesamt acht Sprachen gesprochen[4]) und den erbarmungslosen Tauschhandel zwischen den Häftlingen, wie es Primo Levi eindrucksvoll geschildert hat.[5] Oder wenn er der These vom Ausbleiben des jüdischen Widerstandes die Organisation des Aufstandes der Häftlinge vom 7. Oktober 1944 entgegensetzt.[6]

Anders als einige seiner kommerziell erfolgreichen Vorgängerfilme ist „Son of Saul” keine Geschichte des Überlebens. An einem Ort, an dem das Sterben die Regel ist, an dem die Asche der Opfer täglich mit Schaufeln und Schubkarren in den angrenzenden Seen versenkt wird, avanciert das traditionelle Begräbnis eines Jungen indes zur Anomalie der Vernichtungsmaschine, zu einem subversiven Akt der Menschlichkeit. Diese schlichte Moral erzählt die Geschichte, ohne sich dabei an den irrationalen Zufall des Überlebens zu heften – das ist die Stärke des Films von László Nemes.

 

II Ausgerechnet Ungarn?

Die Produktion von „Son of Saul“ in einem Land der Widersprüche


von Maren Francke

Nicht erst nach der Oscar-Prämierung von „Son of Saul“ war die ungarische linksliberale Zeitung „Népszabadság“[7] von dem Film begeistert. Und während sich selbst das konservative Blatt „Magyar Nemzet“[8] positiv äußert, werden Rufe nach Filmen über andere ungarische historische Themen laut. Der Journalist Zoltán Veczán versucht, diese Forderungen so zu erklären: Einerseits erkenne man die Verantwortung für die Erinnerung an den Holocaust an. Andererseits sei es jedoch verständlich Filme zu fordern, die sich mit dem ungarischen Leid in Folge des Vertrags von Trianon[9] oder dem kommunistischen Regime beschäftigen.[10]

Die Erinnerung an den Holocaust wird in Ungarn nicht unterdrückt, jedoch tendenziell verschleiert. Diese Abwehr der Verantwortung bestätigt auch Regisseur László Nemes.[11] Der Holocaust diente demnach nicht selten als Bezugspunkt für die stalinistische Herrschaft der 1950er Jahre[12]: Ihre Grausamkeiten sind allgemein bekannt und werden auf das Regime von Diktator Mátyás Rákosi der Jahre von 1949 bis 1956 übertragen. Dies gilt auch für die Trianon-Rezeption: Zwar mögen die Vertragsbedingungen Ungarn äußerst hart getroffen haben, jedoch ist dies keinesfalls gleichzusetzen mit dem Holocaust. Die Forderung nach Filmen über Trianon unisono mit der Erwähnung von „Son of Saul“[13] deutet an, dass die Vertragsfolgen als leidvoller als der Holocaust angesehen werden könnten.

Nemes dagegen zeigt in seinem Film am Beispiel des Sonderkommandos gerade das Leid des Holocaust. Sein Protagonist Saul will der Unmenschlichkeit und dem Morden etwas zutiefst Menschliches und letztlich Unmögliches entgegensetzen: Durch die Beerdigung des Kindes und die Bewahrung des Körpers vor dem Massengrab gibt er jene Individualität und Menschlichkeit zurück, die er als Häftling im Sonderkommando vernichten helfen soll. Zwar macht der Film diese Haltung verständlich, genauso nachvollziehbar ist aber die Äußerung seines Mithäftlings Abraham, Saul habe die Lebenden für die Toten verraten: Im Gegensatz zu Saul, der sich längst mit seinem Tod abgefunden hat, versuchen die anderen Mitglieder des Sonderkommandos durch Widerstand und Flucht zu überleben. In diesem Spannungsfeld bewegt sich der gesamte Film.

Obwohl Nemes die ungarische Erinnerungskultur gar nicht direkt berührt,[14] zeigt der Erfolg von „Son of Saul“, dass es ihm gelungen ist, die Beschäftigung mit dem Holocaust auch in Ungarn weiter ins Zentrum zu rücken. Dafür spricht nicht zuletzt, dass das Filmbudget von 1,5 Millionen Euro nahezu ausschließlich vom ungarischen Filmfonds finanziert wurde, und zwar nachdem Nemes in Deutschland, Österreich, Israel und Frankreich erfolglos nach Koproduzenten gesucht hatte. Zudem erhielt der Regisseur mit dem Kossuth-Preis die höchste ungarische Auszeichnung für kulturelle Verdienste. Mit diesem Preis unter dem Arm besuchte er nach der Preisverleihung eine Demonstration gegen die nationalkonservative Regierung Ungarns.[15]



III „Son of Saul“ in der Filmgeschichte des Holocaust

von René Schlott

Dieser Film ist eine Zäsur. Das Bilderverbot ist gefallen. Der „Feuerkreis um Auschwitz“ (Claude Lanzmann) ist durchbrochen. „Son of Saul“ ist zwar nicht der erste Film, der vom Sonderkommando in Auschwitz handelt, aber der erste, der bis in die Gaskammern vordringt. Zwar bleiben die Bilder noch im Ungefähren, sie kommen dem Nukleus aber so nahe wie nie zuvor – wenn auch nur auf der Tonspur.

Letztlich war es in unserem „visuellen Zeitalter“ (Gerhard Paul) nur eine Frage der Zeit, bis sich auch das Kino ein Bild von den Gaskammern in Auschwitz macht. Die Geschichte des Holocaust im Film kann daher auch als eine Geschichte des Eindringens in das Zentrum der Menschenvernichtung gelesen werden. Im TV-Mehrteiler „Holocaust“ aus dem Jahr 1978, der als der Durchbruch des Genres und des Themas Judenmord in der transatlantischen Öffentlichkeit gilt, blickte die Figur des Wilhelm Pfannenstiel (von 1931 bis 1945 Professor für Hygiene in Marburg) noch stellvertretend für die Zuschauer in das Innere einer Gaskammer im Vernichtungslager Belzec.[16] In Claude Lanzmanns „Shoah“ (F 1985) berichtete Filip Müller eindringlich und bildhaft von der Arbeit des „Sonderkommandos“ in Auschwitz. Steven Spielberg schließlich führte das Kinopublikum in „Schindlers Liste“ (USA 1993) in eine vermeintliche Gaskammer, die sich nach Momenten der Dunkelheit und der Schreie aber schließlich als Duschbad entpuppte. In „Son of Saul“ betritt die Kamera nun die Gaskammer unmittelbar nach der Ermordung ungarischer, von den Nationalsozialisten als Jüdinnen und Juden definierten, Menschen.

Die Filmkritikerin Verena Lueken hat dem Regisseur László Nemes deshalb „eine sensationelle Eitelkeit“ attestiert und ihm vorgeworfen, die „existentielle Leere“ von Auschwitz nicht auszuhalten.[17] Was aber ist mit jenen, die mit Begriffen wie „existentielle Leere“ nichts anfangen können und die mediengeprägt Bilder zur Beglaubigung des Holocaust brauchen? Folgt der Film den, mit dem Verschwinden der Zeitzeugen und dem wachsenden zeitlichen Abstand zum Holocaust „notwendigen Popularisierungstendenzen“[18]? Oder ist er Ausdruck der inzwischen vielbeklagten Trivialisierung, Kommerzialisierung und Banalisierung des nationalsozialistischen Judenmordes?[19] Immerhin hat mit dem 1922 geborenen Dario Gabbai einer der letzten Überlebenden des Sonderkommandos den Film in Los Angeles gesehen und lobend hervorgehoben, dass die Geschichte aus der Perspektive der Häftlinge gezeigt werde.[20]

„Son of Saul“ hält sich eng an die Details der überlieferten Handschriften von Häftlingen des Sonderkommandos und greift historische Figuren, wie den Kapo Mietek Morowa oder die an den Aufstandsvorbereitungen beteiligte Ella Gartner, auf.[21] Die Lektüre der sieben in Dosen vergrabenen und nach der Befreiung von Auschwitz aufgefundenen Zeugnisse von Häftlingen des Sonderkommandos hat den Regisseur nach eigener Auskunft zu dem Projekt inspiriert. Mit dem israelischen Historiker Gideon Greif, einem Experten für die Geschichte des Sonderkommandos und dessen Aufstand, stand Nemes zudem ein Vertreter der Fachwissenschaft als Berater zur Seite.[22] Der Film enthält, wegen der dramaturgischen Verdichtung auf einen Tag, lediglich einen signifikanten historischen Fehler: Zum Zeitpunkt des Sonderkommando-Aufstandes im Oktober 1944 war die Deportation der ungarischen Juden bereits weitgehend abgeschlossen.

Nemes erzählt eigentlich drei Geschichten: erstens die des fiktiven Protagonisten Saul, zweitens die des jüdischen Sonderkommandos in den Krematorien von Auschwitz und schließlich drittens die des Sonderkommando-Aufstandes. Er liefert außerdem eine Visual History jener vier Fotos, die ein Mitglied des Sonderkommandos 1944 aufnahm, und deutet sie als Akt des Widerstands.[23]

Als Clément Chéroux und Georges Didi-Huberman diese Bilder 2001 im Rahmen einer Ausstellung in Paris zeigten[24], mussten sie ähnliche Kritiken und Polemiken ertragen, wie sie „Son of Saul“ heute aus den deutschen Feuilletons entgegenschlagen, wo der Film „als filmisches Äquivalent zu einer Afrikareise, bei der man Selfies mit hungernden Kindern macht“[25], als „Geisterbahnfahrt mit fragwürdigem Schauder“[26] oder als „kakofonische Überwältigung“[27] verrissen wurde.

Woher rührt diese Abneigung der etablierten deutschen Filmkritikerinnen und -kritiker? Beim schweigsamen Verlassen des Kreuzberger Programmkinos mit gut zwei Dutzend Zuschauern an einem Sonntagabend im März 2016 jedenfalls kommt mir ein Satz in den Sinn, den der Auschwitz-Überlebende H.G. Adler nach der Lektüre von Raul Hilbergs „The Destruction of the European Jews“ in einem Brief im März 1962 schrieb: „Am Ende bleibt nichts als die Verzweiflung über alles und der Zweifel an allem, denn [es gibt] nur ein Erkennen, vielleicht auch noch ein Begreifen, aber bestimmt kein Verstehen.“[28]

Son of Saul (Originaltitel: Saul fia), Regie: László Nemes, Ungarn 2015, 107 Minuten, FSK 16.

Hier kommen Sie zur offiziellen Seite des Films.


[1] Vgl. das Interview mit László Nemes in DIE WELT online (21.3.2016).

[2] So Verena Leuken in FAZ.net (21.3.2016).

[3] So Susan Vahabzadeh in der Süddeutschen Zeitung online (21.3.2016).

[4] Siehe den Drehbericht „How 'Son of Saul' Defied the Dangers of Re-Creating the Holocaust” in: Hollywood Reporter (24.3.2016).

[5] Primo Levi, Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München 11. Aufl. 1992 [italienische Originalausgabe 1947, deutsche Erstausgabe 1961].

[6] Gideon Greif, Aufstand in Auschwitz. Die Revolte des jüdischen “Sonderkommandos” am 7. Oktober 1944, Köln 2015.

[7] So zum Beispiel Géza Csákvári, Külföldön is megőrülnek a Saul fiáért und o.V., Wow! (25.3.2016).

[8] So zum Beispiel György Kárpáti, A magyar film új aranykora? (25.3.2016) und Róbert Púzser, Holokauszt: egy monopólium végnapjai (23.3.2016).

[9] Ungarn verlor nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Territoriums, verankert im Vertrag von Trianon im Jahr 1920.

[10] Zoltán Veczáz, Gyászom, gyászod, gyászunk (23.3.2016).

[11] Johanna Adorján, Eine primitive Art des Widerstands (23.3.2016).

[12] Regina Fritz, Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit, Göttingen 2012, S. 286.

[13] So zum Beispiel bei György Pápay, Miért nincs Trianon-sikerfilm? und Albert Gazda, Trianon-mozi (23.3.2016).

[14] Abgesehen vom ungarischen Protagonisten müssten hierfür zum Beispiel die Deportationen ab Mai 1944 oder die Entrechtung der Juden in Ungarn dargestellt werden.

[15] O.V., A Saul fia alkotói is feltűntek a pedagógustüntetésen (23.3.2016).

[16] Holocaust (USA 1978), Szene in Teil 4, 09:30-11:30 min.

[17] Verena Lueken, Auschwitz sollte nicht gut aussehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. März 2016, S. 13.

[18] Ulrike Jureit: Rezension zu: Rosenfeld, Alvin H.: Das Ende des Holocaust. Göttingen 2015 , in: H-Soz-Kult, 22.09.2015.

[19] Siehe dazu zuletzt etwa: Alvin H. Rosenfeld, Das Ende des Holocaust, Göttingen 2015.

[20] Johanna Adorján, Eine primitive Art des Widerstandes. Interview mit László Nemes, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6. März 2016, S. 43.

[21] Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos, Verlag des Staatlichen Auschwitz-Birkenau Museums 1996.

[22] Gideon Greif, Wir weinten tränenlos ... Augenzeugenberichte des jüdischen ‘Sonderkommandos’ in Auschwitz, Köln 1995. 

[23] Miriam Yegane Arani, Holocaust. Die Fotografien des „Sonderkommando Auschwitz“, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder 1900 bis 1949, Göttingen 2009, S. 658-665.

[24] Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007.

[25] Susan Vahabzadeh, Pornografie des Schmerzes, in: Süddeutsche Zeitung, 9. März 2016, S. 11.

[26] Jan Schulz-Ojala, Flüstern und Schreie, in: Der Tagesspeigel, 9. März 2016, S. 19.

[27] Ursula März, Zum Gaffen gezwungen, in: Die Zeit, 10. März 2016, S. 53.

[28] Zitiert aus: Raul Hilberg, Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt am Main 1994, S. 175.