von Andreas Kötzing

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5. August 2021

Kein historisches Jubiläum ohne „Event“-Movie: Zum 60. Jahrestag des Mauerbaus präsentiert die ARD mit „3 ½ Stunden“ ein TV-Drama, das einen „frischen Blick“ auf die Ereignisse rund um den Mauerbau verspricht. Eine neue Perspektive bräuchte es in der Tat, denn die Mauer in Berlin und die innerdeutsche Grenze wurden in Spielfilmen und Dokumentationen bereits so häufig aufgegriffen, dass man ohne zu übertreiben meinen könnte, sämtliche Fluchtversuche, die jemals stattgefunden haben, wurden bereits verfilmt, die besonders dramatischen sogar mehrfach. Auch bei der ARD war man sich bewusst, dass eine weitere Flucht-Liebes-Geschichte im Schatten der Mauer nicht besonders innovativ wirken würde. Daher wagte man ein erzählerisches Experiment, das von einer spannenden Frage ausgeht: Wie würden sich Menschen entscheiden, die am 13. August 1961 im Radio vom Beginn der Grenzschließung hören, während sie in einem Zug von München nach Ost-Berlin sitzen, der in wenigen Stunden die Grenze zur DDR passieren wird? Aussteigen – ohne zu wissen, ob und wann man wieder zurückkehren kann? Oder weiterfahren – auch auf die Gefahr hin, das Land nicht mehr verlassen zu können?

 

Die ostdeutsche Gesellschaft vor dem Mauerbau

„3 ½ Stunden“ wirft Fragen auf, die auch für eine geschichtswissenschaftliche Deutung der Ereignisse relevant sind. Welche Motive hatten zum Beispiel jene Menschen, die nicht aus der DDR weggehen wollten? Es ist bekannt, dass bis 1961 etwa drei Millionen DDR-Bürgerinnen und Bürger das Land gen West verließen – überwiegend junge, gut ausgebildete Menschen, die sich im Westen bessere Lebensmöglichkeiten erhofften. Aber was ist mit den anderen knapp 17 Millionen Menschen in der DDR?

Über die inneren Bindungskräfte der ostdeutschen Gesellschaft Ende der 1950er Jahre ließe sich lange diskutieren. Heimatverbundenheit, Freundschaften und familiäre Beziehungen dürften eine größe Rolle gespielt haben, warum viele Menschen trotz der politischen und wirtschaftlichen Widrigkeiten in der DDR geblieben sind. Neben privaten Motiven scheinen auch gesellschaftliche Aspekte ausschlaggebend gewesen zu sein. Der Glaube an die Utopie einer sozialistischen Gesellschaft – als Alternative zum kapitalistischen System im Westen – war für nicht wenige Menschen in der DDR ein wichtiger Grund, im Land zu bleiben. Aus heutiger Perspektive mag das naiv wirken, aber aus dem Kontext der Zeit betrachtet erscheint es weniger abseitig. Die Aufstiegs- und Karrierechancen für Kinder aus Arbeiterfamilien waren damals in der DDR um ein Vielfaches höher. Auch viele Frauen dürften im Osten deutlich bessere Chancen auf eine gleichberechtigte Selbstverwirklichung gesehen haben als in den patriarchalischen Verhältnissen der Adenauer-Zeit. Und nicht zuletzt waren nur wenige Jahre nach dem Ende des Krieges in der Bundesrepublik unzählige NS-Funktionäre – Staatsbeamte, Ärzte, Richter und Wissenschaftler – wieder in ihre öffentlichen Ämter zurückgekehrt. Für viele einstige Gegner des NS-Regimes, die wegen ihrer kommunistischen Überzeugung verfolgt und in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren, kam die Bundesrepublik schon allein deshalb nicht als Alternative in Frage – ganz egal, wie desillusionierend die eigenen Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus in der DDR waren.

 

Überfrachtetes Figurentableau

Einige dieser Motive greift „3 ½ Stunden“ auf, indem er verschiedene Menschen aus Ost und West in den Mittelpunkt rückt, die sich während der Zugfahrt mit ihren politischen Überzeugungen auseinandersetzen. Im Zug sitzt zum Beispiel eine junge Familie aus Ost-Berlin mit zwei Kindern, deren Eltern sich uneinig sind, ob sie noch vor der Grenze aussteigen sollen oder nicht. Ähnlich unentschlossen ist ein Rentnerpaar aus der DDR, dessen Sohn bereits vor einigen Monaten in den Westen geflüchtet ist. Während die Mutter Verständnis für ihren Sohn zeigt und ihn wiedersehen möchte, will der Vater nichts mehr mit ihm zu tun haben. Keinerlei Zweifel an der „richtigen Entscheidung“ hat eine Sporttrainerin, die zusammen mit ihrer talentierten jungen Turnerin bei einem Wettkampf in der Bundesrepublik war und jetzt auf jeden Fall zurück in die DDR reisen will. An Bord des Zuges ist außerdem eine vierköpfige Musikgruppe aus dem Osten, die bei einem Auftritt im Westen wenig Erfolg hatte. Hinzu kommen noch diverse weitere Figuren, auch außerhalb des Zuges, unter anderem eine junge Lokführerin, die den Interzonenzug nach dem Grenzübertritt weiter nach Berlin fahren soll. Sie wird bei ihrer Arbeit von einem jungen DEFA-Regisseur begleitet, der einen Dokumentarfilm über sie dreht, weil sie die erste weibliche Lokführerin der DDR ist.

Allein an dieser (noch unvollständigen) Auflistung des Figurentableaus wird deutlich, vor welchem grundsätzlichen Problem der Film steht: In knapp 90 Minuten sollen die Lebenswege und Entscheidungsfindungen von nicht weniger als 15 Figuren halbwegs plausibel erzählt werden. Mit dem Stoff könnte man ohne weiteres eine zehnteilige Serie füllen, ein Spielfilm allein ist damit zwangsläufig überfrachtet. Für die Entwicklung der einzelnen Figuren bleibt schlicht zu wenig Zeit. Dass sich der Film überhaupt eine solche Fülle von Geschichten aufbürdet, dürfte mit einem grundsätzlichen Problem vieler Geschichtsfilme im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zusammenhängen: Sie sollen nicht nur unterhalten, sondern zugleich den Auftrag historisch-politischer Bildung erfüllen. Und wie so häufig verflacht dabei der künstlerische Anspruch zu Gunsten einer didaktisch motivierten Geschichtsstunde: „3 ½ Stunden“ greift von der NS-Vergangenheit über Homosexuellen-Ausgrenzung und Stasi-Verstrickungen bis hin zu Frauenemanzipation und staatlichem Doping gefühlt alle Themen auf, die man irgendwie mit der DDR-Geschichte in Verbindung bringen kann, so als müsse eine Art „filmischer Lehrplan“ abgearbeitet werden. Hauptsache, der Film ist anschlussfähig für den Einsatz im Geschichtsunterricht.

 

Verschenktes Potential

Leider verschenkt der Film dadurch das Potential, die inneren Beweggründe einzelner Menschen, die sich spontan für die eine oder andere Seite entscheiden müssen, tiefer auszuloten. Die Verdichtung der ostdeutschen Gesellschaft bleibt thesenhaft, weil die Figuren nur einen bestimmten Typ Mensch verkörpern und nicht zu eigenständigen Charakteren werden. Vergleichsweise gut gelingt noch die Zeichnung der jungen Eltern, die darüber in Streit geraten, ob sie mit ihren Kindern den Zug verlassen sollen oder nicht. Die Mutter Marlies (Susanne Bormann) will auf jeden Fall zurück in die DDR und pocht auf die langfristige Überlegenheit des sozialistischen Systems, auf die Selbständigkeit der Frauen in der DDR und die besseren Chancen für ihre Kinder. Außerdem will sie ihren Vater (Uwe Kockisch) nicht im Stich lassen, der als Volkspolizist in Berlin zeitgleich den Bau der Mauer koordiniert. Ihr Mann Gerd (Jan Krauter), ein hochqualifizierter Flugzeugingenieur, hadert hingegen mit der Rückreise, weil er im Westen die besseren beruflichen Chancen sieht und die Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit nicht mehr länger hinnehmen will. Der an sich spannende Konflikt der Eltern wäre es wert gewesen, weiter ausgeleuchtet zu werden, aber die Dialoge reihen nur Schlagworte aneinander; für tiefergehende Gedanken bleibt keine Zeit. Am Ende treffen die Kinder die salomonische (aber leider wenig glaubwürdige) Entscheidung, die Familie aufzuteilen: Der Vater geht mit der Tochter in den Westen, die Mutter fährt mit dem Sohn zurück in den Osten.

Die Lebenswege vieler anderer Filmfiguren erschöpfen sich in widersprüchlichen Entscheidungen. Die junge Turnerin (Hannah Schiller) findet zum Beispiel heraus, dass sie von ihrer Trainerin (Jördis Triebel) mit Hormonpräparaten gedopt wird. Sie entscheidet sich am Ende aber trotzdem dafür, mit ihr zurück in die DDR zu fahren, um für die Olympischen Spiele zu trainieren. Ähnlich rätselhaft erscheint auch der Weg eines jungen Musikers (Jeff Wilbusch), der – anders als seine drei Freunde – nicht in den Westen gehen will, sondern bewusst zurück in die DDR. Er stammt aus einer jüdischen Familie und ist als Kind nur knapp einer Deportation entgangen. Im Zug trifft er ausgerechnet auf den ehemaligen Nazi (Peter Schneider), der damals den Deportationszug fuhr, aus dem er in letzter Sekunde flüchten konnte. Als der junge Musiker merkt, dass der Nazi in die DDR übersiedeln will, ändert er seine eigene Entscheidung und folgt seinen Musikerkollegen in den Westen.

 

Anschluss an das Diktaturgedächtnis

Die Beziehung zwischen dem jüdischen Musiker und dem NS-Täter wirkt aufgesetzt und konstruiert. Dass dann ausgerechnet der Alt-Nazi in den Osten geht, um dort nach seiner Familie zu suchen, zeugt außerdem von einem kruden Geschichtsbewusstsein. Das Problem der NS-Täter, die nach 1945 häufig straffrei in die westdeutsche Gesellschaft integriert wurden, wird so nachträglich in die DDR verlagert. Doch damit nicht genug: Weil die junge Lokführerin, die eigentlich den Zug übernehmen sollte, selbst in den Westen flüchtet, übernimmt am Ende der Alt-Nazi die Weiterfahrt des Zuges. Mit anderen Worten: Der Mann, der früher Deportationszüge mit jüdischen Häftlingen nach Ausschwitz gelenkt hat, steuert nun den Interzonen-Zug mit den Rückkehrern in die DDR. Was auch immer sich die Filmemacher bei dieser Analogie gedacht haben, eine gute Idee war es sicher nicht.

Auffällig ist, dass am Ende von „3 ½ Stunden“ fast niemand aus freien Stücken in die DDR zurückkehrt – außer Kader-Sportlern und überzeugten Sozialisten. Nahezu alle positiv besetzten Figuren wählen stattdessen den Weg in den Westen. Mit dieser simplifizierenden Sicht scheut sich der Film schlussendlich davor, die Frage nach den Motiven für ein selbstgewähltes Leben in der DDR ernsthaft zu stellen. Der Osten bleibt hier buchstäblich ein düsterer Ort, wenn zum Schluss das Zimmerfenster des Volkspolizisten zugemauert wird und das Sonnenlicht dahinter verschwindet. Mit solchen Bildern bedient „3 ½ Stunden“ primär das traditionelle „Diktaturgedächtnis“, das Martin Sabrow schon vor vielen Jahren als dominanten Teil innerhalb der öffentlichen DDR-Erinnerung beschrieben hat.[1] Die Ambivalenz des alltäglichen Lebens bleibt auch in diesem Film eine Leerstelle.

 

3 ½ Stunden, Regie: Ed Herzog, Produziert von REAL FILM Berlin in Koproduktion mit AMALIA Film für die ARD Degeto
 

Sendetermin: ab dem 5.8. in der ARD-Mediathek und am 7.8.2021 um 20.15 Uhr in der ARD
 

 


[1] Vgl. Martin Sabrow: Die DDR erinnern. In: Ders. (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11-29.