von Peter Ulrich Weiß

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7. Dezember 2021

Laudatio für Tilmann Siebeneichner aus Anlass der Verleihung des Zeitgeschichte digital-Preises am 11. November 2021.  

 

Ich freue mich sehr, dass ich Tilmann Siebeneichner im Namen der Jury des Zeitgeschichte digital-Preises herzlich zum 3. Preis gratulieren darf, für seinen Beitrag „We are all astronauts? Zur conditio humana in Zeiten der Corona-Krise“, erschienen auf zeitgeschichte|online am 9. April 2020.

An dem Tag, an dem die Entscheidung für den Preis fiel, leuchtete mir an der Straßenbahnhaltestelle gegenüber meiner Wohnung ein großes Werbeplakat der Hamburger Deichtorhallen entgegen. Es pries die neu eröffnete Ausstellung von Tom Sachs an, die den Titel trägt: SPACE PROGRAM: RARE EARTHS. Die 3 000 Quadratmeter große Ausstellung ist Teil einer dreizehnjährigen interstellaren Erkundungsreise des US-amerikanischen Künstlers in andere Welten und in die menschliche Weltraum-Erforschung.
Während der Ausstellung können sich die Besucher*innen durch Lösen von Aufgaben einem so genannten „Indoktrinationsprozess" unterziehen. Nach erfolgreicher Absolvierung werden sie dann Teil des Tom Sachs-Teams, erhalten eine ID und das Recht, an der Installation teilzuhaben. Außerdem dürfen sie sich dem Ritual der „Wesensverwandlung“ hingeben – mit der Konsequenz, in einem ersten Schritt schon mal die Handys wegzuschmeißen, geht es doch darum, sich von Denkroutinen und Alltagszwängen zu befreien. Gefragt nun, warum er so für die Raumfahrt brenne beziehungsweise die Menschen unbedingt in andere Welten reisen wollen, antwortete Tom Sachs, dass es neben der Sinnlichkeit und Dingliebe vor allem die Suche nach Spiritualität sei, die wie die Wissenschaft und die Religion um die großen Fragen kreisen würde: Sind wir allein, woher kommen wir?

Und genau das ist es auch, was ich empfinde, wenn ich Deinen beschwingt geschriebenen und zugleich sehr persönlich gehaltenen Beitrag lese. Darin wirfst Du die Frage auf, ob wir alle bald zu Astronaut*innen (oder auch Taikonaut*innen) werden, angesichts der Corona-Krise und des pandemiebedingten Ausnahmezustandes. Eine Frage, die zu stellen gerade Du legitimierst bist, beschäftigst Du Dich doch seit Jahren intensiv mit Astrofuturismus und der Zeitgeschichte der Weltraumerschließung. Es geht in Deinem Artikel um Standortsuche und Selbst-Vergewisserung, um inneres Leben und die Umstände des Menschseins in ungewohnten Zeiten. Es geht um unseren Alltag in digital vernetzten Kapseln, den Wert und die Grenzen von Digitalität und digitalen Medien. Dabei spannst Du einen überraschenden Bogen von Richard Buckminster Fullers Kultbuch „Operating Manual For Spaceship Earth“ über Hannah Arendts „Vita activa“ bis hin zu Alexander Gersts Einlassungen über Isolation.

Dein Beitrag entstand vor nahezu anderthalb Jahren, im April 2020. Das war inmitten der ersten Welle der Covid-19-Pandemie und eine erste verrückte Hochzeit wilder Spekulationen und Entäußerungen in hohem Erregungszustand – überall Ängste und Panikgefühle, auch unter Kolleginnen und Kollegen. Vor diesem Hintergrund las und liest sich Dein Text wohltuend unaufgeregt, aber dennoch dringlich. Dringlich – und zugleich aktuell: Denn letztendlich ist es auch ein Text, der die Seelen-Unfrieden stiftenden Beschäftigungsverhältnisse vieler Geisteswissenschaftler*innen anspricht. Der temporäre Ausnahmezustand der Corona-Pandemie, schreibst Du, überkreuzt sich dabei mit dem andauernden Ausnahmezustand von prekären Arbeitsbedingungen. Etwas, das uns zutiefst zu denken geben und besorgt machen muss.

Für mich zeichnet Deinen Beitrag aus, dass er weniger wie ein klassischer Artikel mit den üblichen Bausteinen Fragestellung, Forschungsstand, Darlegung und Fazit daherkommt, sondern eher als ein essayistischer Gedankengang. Er vermittelt auf unangestrengte Weise etwas Suchendes und Zweifelndes – und er erzählt mir mit seinen Windungen vor allem auch etwas über den Autor selbst. Das sagt mir insofern zu, als ich mich mit zunehmenden Alter ohnehin mehr und mehr für die Art und Weise des Denkens und Erzählens von Autor*innen interessiere und weniger für den bloßen Untersuchungsgegenstand, von dem es ja letztlich endlos viele, ich hätte fast gesagt, beliebig viele gibt. Vor diesem Hintergrund bedeutet Deine Nominierung und Dein 3. Platz auch eine indirekte Würdigung des Portals zeitgeschichte|online mit seinen eigenen, kurzen Formaten, wo genau diese Herangehensweise möglich ist.  

Lieber Tilmann, soviel ich weiß, hast Du kein Handy. Ob das schon Teil einer Wesensverwandlung ist oder ob Du von Tom Sachs „indoktriniert“ wurdest, weiß ich nicht. So oder so wünsche ich Dir aber auf jeden Fall, dass Dir Deine Lust auf solch geistreiche Momentaufnahmen erhalten bleibt und dass Du Dein „Felsenhaus“, von dem Du im Beitrag schreibst, findest – nochmals Gratulation!