von Jakob Mühle

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23. Mai 2022

Der gesellschaftliche Gesprächsbedarf zur Geschichte der deutsch-deutschen Vereinigung und ihren Folgen, der sich schon in der Debattenlandschaft rund um den 30. Jahrestag gezeigt hat, scheint auch im Jahr 2022 ungebrochen zu sein.[1] Während sich zuletzt viele Diskussionen um das Agieren der Treuhandgesellschaft bei der Privatisierung des DDR-Volkseigentums drehten, adressiert eine ARD-Mini-Serie nun einen Ausschnitt der Vereinigungsgeschichte, der bisher weder in der zeithistorischen Forschung noch in der Öffentlichkeit ein besonderes Interesse erfahren hat.[2] Knapp 5 Millionen Menschen sahen Ende Februar diesen Jahres den Auftakt zum Spielfilm-Sechsteiler „ZERV – Zeit der Abrechnung“, der nach wie vor über die Mediathek gestreamt werden kann.[3] Das Kürzel ZERV steht für Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität, eine kriminalpolizeiliche Dienststelle der Berliner Polizei, die 1991 gegründet und ab 1993 mit einem Bund-Länder-Abkommen bundesweit mit Personal- und Sachmitteln sowie Ermittlungsbefugnissen ausgestattet wurde.[4]

Die ZERV war zuständig, die gerichtliche Ahndung der sogenannten DDR-Systemkriminalität kriminalpolizeilich vorzubereiten. Eine Aufgabe, die auch auf die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung zurückging, welche die Strafverfolgung des im Namen der DDR begangenen Unrechts bereits im Herbst 1989 gefordert hatte. Ihre örtliche Ansiedlung erfolgte nach dem Tatortprinzip: Die meisten Taten der DDR und aus der Zeit der Wiedervereinigung waren in Berlin begangen und/oder angeordnet worden. So ermittelte die größte Sondereinheit in der Geschichte der deutschen Polizei zu den Todesfällen an der innerdeutschen Grenze oder Verschleppungen und Auftragsmorde durch die DDR-Staatssicherheit. Verfolgt wurden jedoch auch Wirtschaftsdelikte aus der Vereinigungszeit, wie die Unterschlagung von SED- oder Treuhand-Vermögenswerten.[5] Es war also nur eine Frage der Zeit, bis das Fernsehen auf die Arbeit der ZERV aufmerksam werden würde. Einige ihrer spektakulärsten Fälle lesen sich bereits wie fertige Drehbuchadaptionen.

Dennoch haben sich die „ZERV“-Autor*innen um Produzentin Gabriela Sperl für eine rein fiktive Handlung entschieden: Der Bremer Kriminalkommissar Peter Simon (Fabian Hinrichs) wird 1991 nach Berlin zur ZERV versetzt, wo er für Wirtschaftskriminalität zuständig ist. Dort meldet sich Matthias Trockland (Christian Wewerka), ein ehemaliger Mitarbeiter des DDR-Abrüstungsministeriums. Dieser war für die Auflösung der NVA-Waffenbestände zuständig, wird bei der ZERV jedoch versehentlich ohne eine Aussage gemacht zu haben wieder nach Hause geschickt. Kurze Zeit später hängt Trockland tot am Baum eines Gartengrundstücks im Berliner Speckgürtel. Simon soll den Fall gemeinsam mit der Mordermittlerin Karo Schubert (Nadja Uhl) und Kriminaltechnikerin Uta Lampert (Fritzi Haberland) lösen, zwei ehemalige DDR-Volkspolizistinnen, die sich nun in neuen Verhältnissen zurechtfinden müssen. Schubert und Simon – zu Beginn noch in ihrer gegenseitigen Ablehnung vereint – geraten auf die Spur ehemaliger DDR-Waffenhändler, die sich in den Wirren der frühen Vereinigungsjahre nun an den Altbeständen der NVA bereichern – Verbindungen bis in höchste Bonner Regierungskreise inklusive.

 

Realistischer Einblick in die Arbeit der historischen ZERV

Die Macher*innen inszenieren diesen filmischen Ausflug zu den Konfliktlinien der Vereinigungsgesellschaft als actiongeladenen Krimi mit komödiantischen Einsprengseln. Dabei gelingt ihnen ein durchaus interessanter Einblick in die bisher wenig erforschte Arbeit der historischen ZERV.[6] Sie agierte in einem hochgradig polarisierten und politisierten gesellschaftlichen Umfeld der frühen 1990er-Jahre und war dabei stets bemüht, größtmögliche Öffentlichkeit ihrer Arbeit herzustellen, um beispielsweise den Vorwurf der „Siegerjustiz“ zu entkräften.[7] Dabei waren insbesondere die Anfänge der ZERV von verschiedenen Mängeln gekennzeichnet: Fehlende Personal und Sachmittel oder zu wenig geeignete Räumlichkeiten führten dazu, dass die Ermittlungen nur schleppend in Gang kamen und ZERV-Leiter Manfred Kittlaus sich mehrfach hilfesuchend an die Bundespolitik wandte. Erst nach einer Intervention des Bundeskanzleramtes wurde ihr 1994 ein gemeinsamer Bürokomplex mit ausreichend Platz nahe dem ehemaligen Flughafen Tempelhof zur Verfügung gestellt.[8] Das Chaos des Neubeginns, das in den ersten Minuten von „ZERV“ zu sehen ist, trägt also durchaus realistische Züge.

Selbiges gilt für den dargestellten Fall: Tatsächlich gehörte der Handel mit Waffen aus den Altbeständen der NVA und der westlichen GUS-Streitkräfte zu einem Verbrechenskomplex, der das für Wirtschaftskriminalität zuständige Referat ZERV 1 in den frühen 1990er-Jahren beschäftigte.[9] Der daran beteiligte Täterkreis bestand aus Personen aus dem Umfeld des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo), MfS, NVA, KGB sowie Waffenhändler*innen aus ganz Europa. Die internationalen Netzwerke existierten bereits seit der Zeit der deutschen Teilung und hatten sich im Zuge des DDR-Embargohandels herausgebildet.[10] Sie nutzten nun die unübersichtlichen Vereinigungsjahre zur persönlichen Bereicherung. Dabei waren die deutsch-deutschen Hintergründe der Täter*innen keineswegs immer so klar verteilt, wie sich oberflächlich vermuten ließe: Im Bereich der Wirtschaftskriminalität kamen etwa fünfzig Prozent der Beschuldigten im Visier der ZERV aus der alten Bundesrepublik.[11] Im Jahr 1992 musste gar Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) zurücktreten – wegen einer unautorisierten Panzerlieferung aus NVA-Beständen in die Türkei. Auch die Verbindungen in die Bonner Politik, die in „ZERV“ gezeigt werden, heben also auf einen authentischen Kern ab, auch wenn sie in der Serie freilich stark zugespitzt und dramaturgisch verdichtet werden.

Flankiert wird die Spielfilmserie von einer True-Crime Doku-Serie des MDR, die durchaus auch Impulse für eine weitere historische Erforschung der Strafverfolgung von DDR-Regierungs- und Vereinigungskriminalität geben könnte.[12] In fünf Folgen werden dort reale Fälle aus verschiedenen Ermittlungsbereichen der ZERV gezeigt und es kommen ehemalige Ermittler*innen zu Wort. Hier lässt sich einiges erfahren über die Problembereiche und Hindernisse der ZERV-Arbeit oder die persönlichen Herangehensweisen und Motive der einzelnen Beamt*innen. Die Doku-Serie entstand zudem in Kooperation mit dem Berliner Landesarchiv, wo sich die ZERV-Akten aktuell im Prozess der archivalischen Erschließung befinden.[13]

 

Hölzerne deutsch-deutsche Stereotype

Etwas ratlos lässt die Zuschauer*innen dagegen das deutsch-deutsche Aufeinanderprallen der Serien-Protagonist*innen zurück. ZERV-Ermittler Simon wird zu Beginn konsequent als „Besser-Wessi“ aus dem Bilderbuch gezeichnet. Schubert und Lampert entsprechen dagegen dem Klischee der schlagfertigen Ost-Frauen: „Sie wissen was zu tun ist? – Nee, ick hab‘ bis zur Wende bei unserer Pioniergruppe die Wandertage geleitet!“. Viele dieser schablonenhaften Charakterisierungen sind uns aus dem öffentlichen Sprechen über das deutsch-deutsche Beziehungsgeflecht allzu gut bekannt und gehören seit 1990 zur Diskussion um die mentale „innere Einheit“ des vereinigten Deutschlands. „Es scheint als habe die Vereinigungsöffentlichkeit im Modus der Selbstvergewisserung und Abgrenzung eben solche gesellschaftlichen Konstruktionen herbeigesehnt“[14], wie die Historiker Thomas Großbölting und Christoph Lorke trefflich analysieren.

„ZERV“ folgt in diesen Darstellungen also einem doppelten Anliegen: Einerseits haben die dichotomen Konflikte zwischen Ost und West einen historisch authentischen Kern. Anderseits soll durch deren komödiantische Überzeichnung ein Beitrag zur De-Konstruktion geleistet werden. Ob dies tatsächlich gelingt ist allerdings fraglich, da die Serie in dieser Hinsicht kaum mehr ist als ein historisches Abziehbild der Vereinigungsgesellschaft. Vieles ist derart überzeichnet und die abschließende Versöhnungspointe allzu vorhersehbar, sodass es scheint als würden hier Stereotype eher verfestigt als aufgelöst. Der Vereinigungsalltag war jedenfalls widersprüchlicher und komplexer als sich mit hölzernen deutsch-deutschen Schablonen treffsicher abbilden ließe.[15]

Anmerkung der Redaktion: Die Spielfilm-Serie sowie die Doku-Serie sind noch bis zum 20.08.2022 in der ARD Mediathek zu sehen. 

 


 

[1] Als Übersicht über den Forschungs- und Debattenstand 30 Jahre nach der deutschen Einheit siehe beispielsweise Kerstin Brückweh: Das vereinte Deutschland als zeithistorischer Forschungsgegenstand, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 28/29 (2020), S. 4-10.
[2] Eine erfreuliche Ausnahme bildet hier der kürzlich erschienene Aufsatz von Philipp Rosin: Die Rolle der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) in der Diskussion über die weitere Nutzung der Daten des Zentralen Einwohner-Registers (ZER) der ehemaligen DDR. Ein Beitrag zur Transformationsgeschichte der frühen 1990er Jahre, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 39 (2020), S. 183-197.
[3] So der Branchendienst Meedia. [23.02.2022].
[4] Zu Entstehung der ZERV siehe Rosin, Rolle der ZERV, S. 184. [wie Anm. 2].
[5] Vgl. Heinz Jankowiak: Die Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität, in: Der Polizeipräsident in Berlin (Hg.): Festschrift 200 Jahre Kriminalpolizei Berlin, Berlin 2011, S. 144-154, hier S. 146f.
[6] Eine frühe ethnologische Annäherung an die Arbeit der ZERV bietet John Borneman, Settling Accounts. Violence, Justice and Accountability in Postsocialist Europe, Princeton 1997, S. 59-79.
[7] So zum Beispiel eine Broschüre, in der die Grundzüge der ZERV-Arbeit für die Öffentlichkeit erläutert wurden. Vgl. Der Polizeipräsident in Berlin (Hg.): Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität. Wenn die Opfer schweigen, beginnt alles immer wieder von vorn, o.J, o.O. [Berlin 1995], S. 3.
[8] Vgl. Manfred Kittlaus: Recht und Gerechtigkeit nach dem Untergang der DDR-Diktatur. Sachstand 1994. Aufarbeitung, Versöhnung oder Vertuschung, in: Tobias Hollitzer (Hg.): Einblick in das Herrschaftswissen einer Diktatur. Chance oder Fluch? Plädoyers gegen die öffentliche Verdrängung, Opladen 1996, S. 49-61, hier S. 50.
[9] Vgl. Karl Heinz Hillgärtner: Erfahrungen mit der kriminalistischen Aufarbeitung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität der ehemaligen DDR, in: Der Kriminalist 7 (1995), S. 447-451, hier S. 448.
[10] Vgl. Landesarchiv Berlin(LAB) D Rep 120 Nr. 5, ZERV Sachstandbericht, 1.11.1994, S. 14.
[11] Vgl. Wenn die Opfer schweigen, beginnt alles immer wieder von, S. 7. [wie Anm. 7].
[12] Vgl. ZERV – Die Dokuserie, in der ARD Mediathek. [18.02.2022].
[13] Vgl. Bestände des Berliner Landesarchivs. [18.03.2022].
[14] Thomas Großbölting/ Christoph Lorke: Vereinigungsgesellschaft. Deutschland seit 1990, in: Dies. (Hg.): Deutschland seit 1990: Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 9-32, hier S. 13.
[15] Siehe bspw. Kerstin Brückweh/ Clemens Villinger/ Kathrin Zöller (Hg.): Die lange Geschichte der „Wende“. Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020.