von Julia Baumann

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20. Juni 2022

Prag im Jahr 2001: Ludmila Jelínková räumt gemeinsam mit ihrem Enkelkind ihre Wohnung auf und stößt dabei auf ein verstaubtes Radio. Plötzlich befinden wir uns mit dem Radio im Jahr 1942. Es ist der 27. Mai. Eine jüngere Ludmila und ihr Ehemann hören durch den Rundfunk von einem Attentat auf den deutschen SS-Obergruppenanführer Reinhard Heydrich. Lautes Klopfen und Gebrüll lässt sie aufschrecken: „Geheime Staatspolizei, machen sie die Tür auf!“. Ludmila muss zusehen, wie ihr Mann abgeführt wird – sie sieht ihn erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder.

Mit diesen Szenen beginnt das Computerspiel Attentat 1942 (2017). Es gehört mittlerweile zu den erfolgreichsten Spielen des Genres „Serious Game“, mit dem ernsthafte Inhalte auf spielerische Weise vermittelt werden.[1] Im Jahr 2018 war Attentat 1942 das erste Spiel, das in Deutschland trotz Darstellung von NS-Symbolen wie dem Hakenkreuz von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) ab zwölf Jahren freigegeben wurde.[2] Auf spielerische, aber eben seriöse Weise versucht das Computerspiel, die bisher wenig behandelte Perspektive der tschechischen Bevölkerung auf das Heydrich-Attentat 1942 in Prag zu thematisieren.

 

Umstrittene Erinnerung an das Heydrich-Attentat

Da das Attentat von der tschechischen Exilregierung, die sich in Großbritannien befand, angeordnet und von dort ausgebildeten Fallschirmjägern ausgeführt wurde, fand das Ereignis in der kommunistischen Geschichtsschreibung nach 1948 aufgrund der westlichen Beteiligung kaum Erwähnung. Bei seltenen öffentlich geführten Diskursen legte das sowjetische Besatzungsregime den erinnerungskulturellen Fokus zudem auf die Schattenseiten des Ereignisses. So wäre das Attentat eine riskante Aktion gewesen, die im Nachhinein viele Opfer aus der zivilen Bevölkerung gefordert hatte.[3]

Nach dem Zusammenbruch der Ostblockstaaten fiel das Gedenken nach 1989 umso stärker aus und führte unter anderem 2009 zur Eröffnung des „Denkmals der Operation Anthropoid“ in Prag. Während viele die Ehrung in der Öffentlichkeit begrüßten und hierin einen Beweis des allgemeinen zivilen Widerstandes gegenüber dem Nationalsozialismus sahen, kritisierten einige die heroische Inszenierung des Attentats. Bis in die Gegenwart hinein ist die Bedeutung des Ereignisses für die tschechische Gesellschaft umstritten.[4] Attentat 1942 stellt diese verschiedenen historiographischen Deutungen gegenüber.

In diesem Minispiel müssen die Spieler*innen eine Karte auswählen, die den weiteren Fluchtverlauf bestimmt. Screenshot aus dem Spiel "Attentat 1942". © Charles Games.

Fiktive Zeitzeugen, historische Dokumente und Multiperspektivität

Entwickelt wurde das Spiel mit staatlicher Unterstützung vorwiegend von Lehrenden und Studierenden der Karls-Universität Prag sowie Forscher*innen von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Um reale Lebensgeschichten in der Erzählung miteinbeziehen zu können, arbeitete das Team eng mit der gemeinnützigen Organisation Post Bellum zusammen, die das digitale Archivprojekt Memories of Nations ins Leben gerufen hat. In einem Disclaimer betonen die Entwickler*innen, dass die Lebensgeschichten der Charaktere rein fiktiv sind, dennoch auf historischen Ereignissen und echten Schicksalen beruhen würden. Neben fiktiven Zeitzeug*innenengesprächen wurden zusätzlich Originaldokumente, Film- und Fotoaufnahmen aus der NS-Zeit sowie eine Enzyklopädie eingearbeitet.

Das Spiel ist durch zwei Handlungsstränge geprägt: Zunächst schlüpfen die Spieler*innen im Prag der Gegenwart in die Rolle des Enkelkindes und versuchen herauszufinden, inwieweit der Großvater an dem Attentat beteiligt war, zum Beispiel durch das Untersuchen von Objekten oder durch Zeitzeug*innengespräche. Mit einem Perspektivwechsel nehmen die Spielenden danach die Rolle der interviewten Person ein, spielen vergangene Erlebnisse nach und lernen die zeithistorischen Handlungsoptionen kennen, etwa bei der Planung von Fluchtrouten.

 

Kontingenz und Konstruktcharakter von Geschichte

Mit seinen Mechanismen thematisiert das Spiel zudem die Kontingenz historischen Wissens sowie die fragile und multiperspektivische Natur individueller Erinnerungen. Dies entspricht auch dem Ziel der Entwickler*innen, erworbene Informationen kritisch zu bewerten und letztendlich eine Auseinandersetzung mit den sozialen Konstruktionen von Geschichte zu fördern.[5] So müssen die Spieler*innen herausfinden, bei welchen Informationen eventuell Missverständnisse vorliegen. Ein Nachbar der Großeltern behauptet etwa, dass Ludmila Jelínková nach der Verhaftung ihres Mannes mit einem deutschen Beamten zusammen gewesen wäre. Nach der gezielten Befragung der Großmutter stellt sich heraus, dass diese von ihm sexuell belästigt wurde und sie sich wegen seiner deutschen Herkunft schwer dagegen wehren konnte.

Spielende können zwischen verschiedenen Antwortmöglichkeiten wählen. Screenshot aus dem Spiel "Attentat 1942". © Charles Games.

Um auch weitere wichtige Ereignisse der tschechischen Geschichte darstellen zu können, wurde eine Spielreihe geplant. Der zweite Teil Svoboda 1945 (2021) versetzt die Spieler*innen in eine kleine Stadt im tschechisch-deutschen Grenzgebiet, die während der Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei ebenfalls viel Gewalt im Alltag erleben mussten. Beide „Serious Games“ ermöglichen mit ihrem intermedialen Ansatz einen Einblick in die NS-Geschichte und die Nachkriegszeit aus tschechischer Perspektive, die im Bildungsbereich ergänzend zu den Inhalten der deutschen Erinnerungskultur gewiss behandelt werden können. Eine selbst durchgeführte Studie des Entwicklerteams wies bereits einige positive Lerneffekte bei tschechischen Schüler*innen nach.[6] Attentat 1942 steigerte nicht nur ihr Interesse für die tschechischen Zeitgeschichte, sondern auch für die eigene Familiengeschichte.

 

Bildergalerie und Trailer:

 


 

[1] Vgl. Clark S. Abt, Serious Games, New York: Viking Press, 1971; Lisa Gotto, Einleitung: Serious Games, in: Serious Games, Exergames, Exerlearning – Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers, (Hg.) Gundolf S. Freyermuth; Lisa Gotto; Fabian Wallenfels, Bielefeld: transcript Verlag, 2013, S. 139f..
[2] Die rechtliche Entscheidung spiegelt hierbei einen wichtigen Schritt in Richtung Anerkennung von digitalen Spielen als Kunstform und pädagogisch wertvolle Vermittlungsinstanz wider. Vgl. hierzu: Stephanie Stark, Von Wolfenstein bis Attentat 1942: 86a StGB. In: Grimme Game – Ein Angebot des Grimme- Instituts. Veröffentlicht am 30.10.2018, Link (Letzter Zugriff am 17.03.2022 um 9:35 Uhr)..
[3] Die nationalsozialistischen Besatzungstruppen reagierten brutal auf Heydrichs Ermordung und führten infolgedessen eine kollektive Bestrafung der gesamten tschechischen Bevölkerung, die zu einem Massaker innerhalb der kleinen Ortschaften Lidice und Ležáky gipfelte..
[4] Vgl. hierzu Darina Volf, Helden aus der „Nation der Schwejks“: das Attentat auf Reinhard Heydrich in der tschechischen Erinnerungskultur, in: Erinnerung und Geschichtspolitik im östlichen und südöstlichen Europa, 2017, Online-Ressource, Link (Letzter Zugriff am 17.03.2022 um 9:12 Uhr).
[5] Vít Šisler et. al., Teaching contemporary history to high school students: The augmented learning environment of Czechoslovakia 38-89, in: Journal of Law and Technology, Nr. 8, Brünn: Masaryk University, 2014, S. 101.
[6] Die pädagogische Version des Spiels wurde 2013 in tschechischen Gymnasial- und Grundschulklassen in den Geschichtsunterricht eingebunden. Neun Lehrer*innen (Davon vier Frauen, fünf Männer) nahmen an der Evaluierung teil und unterrichteten insgesamt 30 Unterrichtsstunden in 13 Klassen. Im Anschluss der Unterrichtsstunden wurden 562 Feedback-Bögen eingesammelt und ausgewertet. Vgl. hierzu: Šisler et al., 2014.