von Annette Schuhmann

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20. Februar 2023

Anna Henckel-Donnersmarck ist Sektionsleiterin der Berlinale Shorts und damit verantwortlich für das Programm dieser Sektion.

Es ist die mittlerweile vierte Berlinale Shorts-Sektion unter ihrer Leitung. Und es ist nicht das erste Gespräch, das ich mit ihr im Laufe einer Berlinale führe. Allerdings gehören die Berlinale-Shorts zu den spannenderen Sektionen, die nicht zuletzt auch zeithistorisch relevante Themen behandeln.

Die Shorts-Sektion befindet sich etwas abseits vom ganz großen Trubel, geprägt von zumeist jungen Autor*innen und einer deutlichen Handschrift der Kuratorin und Sektionsleiterin. Und auch, wenn Anna Henckel-Donnersmarck den zugegeben etwas abgedroschenen Begriff von den Shorts als Spiegel der Gesellschaft (zu Recht) ablehnt, zeigen die Kurzfilme in den letzten Jahren etwas ganz Grundsätzliches vom Blick auf die Welt einer jüngeren Generation. Dabei sind es weniger die zumeist universellen Themen der ausgewählten Beiträge, es ist vielmehr die unaufgeregte Sicht auf Begegnungen, Orte und Alltagshandeln, die uns die Kurzfilme mit leiser Eindringlichkeit und in oft ungewohnter Ästhetik nahebringen.

Es mag paradox klingen, aber für die Shorts, mit ihren jeweils maximal 30‘ Länge, sollte man sich Zeit nehmen. Gerade in diesem Jahr, in dem sich einige der Wettbewerbsfilme einzig durch ihre Überlänge auszeichnen, machen die Filme der Shorts deutlich, dass die Vergangenheit die Gegenwart in einer Weise prägt, die etwas Unausweichliches und Bedrohliches hat. Es sind die (Original-)Bilder der großen Smog-Katastrophe in London von 1952, Szenen aus einem (noch) staatssozialistischen Betrieb in China oder der atemberaubende Versuch, naturwissenschaftliche Erkenntnisse über den Klimawandel im Animationsfilm zu vermitteln, die Fragen von Geschichte und Gegenwart in den Raum stellen. All die zwanzig Filme, die Henckel-Donnersmarck und ihr Team für diese Berlinale "herausgefischt" (AHD) haben, hatten auf mich eine Art Depotwirkung, noch Tage nach der Sichtung, ging ich mit einem anderen Blick durch die Welt.

Der Festivalbetrieb erfordert neue Überschriften, das ist im Wissenschaftsbetrieb nicht anders. Das Leitthema der Shorts-Auswahl des Jahres 2021 war: Erzähl mir von Dir, damit ich die Welt besser verstehe und genau das kennzeichnet die Handschrift von Anna-Henckel Donnersmarck, die die Shorts seit 2019 prägt. Es ist die große Ernsthaftigkeit, mit der die Themen von den Nachwuchsautor*innen verhandelt werden und eine dezidiert politische Haltung dem Genre und seinen Erzählungen gegenüber, mit der Anna Henckel-Donnersmarck und ihr Team die Filme für uns auswählen. Und nicht zuletzt ist die Auswahl der Kurzfilme durch einen hohen Grad an Toleranz gegenüber allen ästhetischen Ausdrucksformen und einen feinen und klugen Humor gekennzeichnet.

Das folgende Interview mit Anna Henckel-Donnersmarck fand am 14. Februar 2023 in Berlin statt.

 

Die Überschrift über das diesjährige Shorts-programm lautet: Fiktion vor realem Hintergrund. Für mich klingt das wie die Definition von Fake News, was sicher nicht gemeint ist?

AHD: Es gibt einige Filme im Programm, die ganz klar Fiktion sind, die auch gar nicht versuchen, hybrid zu sein oder pseudodokumentarisch. Vielmehr ist ganz deutlich zu sehen: es sind Fiktionen. Gleichzeitig verorten diese fiktionalen Erzählungen sich an Orten oder Ereignissen der Zeitgeschichte. So spielt etwa der chinesische Beitrag All Tomorrow‘s Parties am letzten Tag der Asienspiele in Peking 1990, der französische Film Nuits Blanches, während und nach der Stichwahl zwischen Le Pen und Macron im April 2022, The Veiled City thematisiert die große Smog-Katastrophe im London des Jahres 1952.

Wo de Peng You/All Tomorrow’s Parties von Zhang Dalei, CHN 2022, Berlinale Shorts, © Bingchi Pictures

Deutlicher wird das Leitthema vielleicht auch am Beispiel des ukrainischen Beitrags It’s a Date von Nadia Parfan. Der Film ist ein Zitat. Das Original von Claude Lelouch ist auf YouTube zu sehen. Parfan benutzt eine Filmfiktion, um sie in die Realität zu setzen. Dadurch aber, dass ich weiß, dass Kyjiw eine Stadt im Kriegsgebiet ist, schaue ich diese Fiktion noch einmal anders an. Parfan hat ein Filmzitat produziert. Und dennoch ist es anders, weil man den Krieg mitdenkt. (siehe dazu den Beitrag von Kateryna Chernii)

Der Wunsch, sich zeithistorisch ganz klar zu verorten, hat mich erstaunt. Gleichzeitig gehen die Filme nicht wirklich auf die Ereignisse ein. Und dennoch ziehen sie sich jeweils durch die erwähnten Filme und dieses jeweilige Ereignis bleibt bis zum Schluss präsent. Fiktionen werden also oft eingebettet in konkrete historische Momente, um diese gleichsam durch die Hintertür zu verhandeln. Die Realität ist die Kulisse, die hinter der Fiktion steht, wie eine Theaterkulisse. Ich fand das sehr spannend.

 

"Ich suche nicht, ich finde". Zur Auswahl der Beiträge der Sektion

In einem Interview bezeichnest Du die Shorts als offen für alle Genres, Macharten und Inhalte. Das heißt, die Auswahl der Berlinale Beiträge ist lediglich durch die Filmlänge von max. 30‘ bestimmt. Macht diese Offenheit die Auswahl nicht besonders schwierig? Gibt es für Dich und das Auswahlkomitee Kriterien, die bei allen Filmen gleichermaßen angewendet werden?

AHD: Es gibt keinen Katalog von Kriterien. Zunächst entscheidet einzig und allein die Filmlänge, die maximal 30‘ betragen darf. Es muss sich zudem um eine Welt- oder internationale Premiere handeln. Das sind die ganz pragmatischen Kriterien. Ich habe oft versucht, herauszufinden, wie das Auswahlgremium eigentlich Filme schaut. Wenn ich etwa im englischen gefragt werde: What are you looking for? Antworte ich immer “I’am not looking for, I’am looking at the movie” (Ich suche nicht, ich finde.) Für mich ist ein wesentliches Kriterium: Aufrichtigkeit. Wenn ich die Aufrichtigkeit eines Films spüre, dann fühlt sich das richtig an. Das ist natürlich kein Kriterium, das man laut kommunizieren könnte aber ich glaube, das ist das, was diese Filme verbindet, beziehungsweise das, was sie für mich interessant macht.

Das heißt, ich suche nie etwas Bestimmtes, sondern, ich schaue mir den Film an und entweder macht er etwas mit mir oder nicht. Und dann ergibt sich die Frage, möchte man das, was er mit einem macht mit anderen, dem Publikum, teilen. Ich weigere mich, in irgendeiner Form zu bewerten, die Rolle derjenigen, die bewertet, wird mir allerdings manchmal zugeschrieben. Ich werde diese Rolle nicht einnehmen, weil ich dadurch die Filme klein machen würde. Das hieße ja, ich hätte so etwas wie ein universales Wissen, aber diese Filme sind Arbeiten von erwachsenen Menschen. Unsere Aufgabe ist es, Filme herauszufischen und für ein Publikum zur Verfügung zu stellen. Ich will keine Noten vergeben oder aus einem Kriterien-Korsett heraus bewerten. Das würde im Übrigen auch sehr langweilig werden. Die Filme wären dann sehr ähnlich, weil alle dieselben Kriterien erfüllen und die ganze Bandbreite, die die Shorts in der Regel aufweisen wäre dahin. Und das Großartige bei der Arbeit mit den Shorts ist die Tatsache, dass es niemanden gibt, der uns Regeln vorgibt.

Es gibt andere Festivals, die bereits in ihren Ausschreibungen fordern, dass es Filme von Studierenden sein müssen, oder es müssen Filme sein von Leuten, die einen Langfilm planen. Das heißt, man schaut nach der Verwertbarkeit des Films. Ich weiß beispielsweise gar nicht, wie gut verwertbar die Filme sind, die wir hier zeigen. Manche sind natürlich Festivalrenner, werden vom Fernsehen gekauft und spielen ihr Geld wieder ein, aber andere werden, außer bei uns nirgends gezeigt. Ich muss nichts bedienen, weder eine Verwertungskette noch eine Biographie, noch einen Markt der nach Potentialen sucht.
Nicht einmal die Leitung der Berlinale selbst verlangt das von uns. Man könnte ja sagen, die Shorts als Nachwuchsplattform bringt uns Talente, die uns die Langfilm-Wettbewerbe in ein paar Jahren füllen, das könnte zum Beispiel der Auftrag an mich sein, macht aber niemand. Und das hängt auch mit dem Publikum zusammen, die Säle sind voll. Wenn das anders wäre, könnte ich nicht so frei arbeiten. Da wir in Berlin dieses phantastische Publikum haben, das genau so etwas möchte – sonst würden sie unsere Säle nicht füllen – habe ich eine große Freiheit im Auswählen.

Es sind in diesem Jahr recht stille Geschichten, die erzählt werden, symptomatisch dafür scheint mir der Film des jungen Regisseurs Anthony Ing, seine Hommage an die Statistin Jill Goldston. Selbst der Krieg in der Ukraine wird zurückhaltend erzählt. Ist diese Form, vielleicht der Zurückhaltung in der Erzählstrategie junger Filmemacher*innen etwas Neues?

AHD: Das ist schwer zu beurteilen. Wenn wir sichten, sehen wir sehr individuelle Einzelfilme. Wir schauen nicht dezidiert auf gesamtgesellschaftliche Phänome. Wir sichten jeden Film für sich. Und ein mögliches Bild der Gesellschaft, die diese Auswahl vielleicht widerspiegelt, ergibt sich erst am Schluss. Ich kann also gar nicht sagen, ob es in diesem Jahr besonders hell oder eben dunkel war.

 

Animationsfilme im Wettbewerb – ein neuer Trend?

Für Zeithistoriker*innen und im Zusammenhang der aktuellen Debatten um Formen und Inhalte der Wissenschaftskommunikation interessant, ist der Animationsfilm von Volker Schlecht und seinen Kollegen, den er in Zusammenarbeit mit der Biologin Karen Lips produziert hat. Selten habe ich eine derart faszinierende Form der Wissenschaftskommunikation gesehen. Animationsfilme finden sich in diesem Jahr selbst im Wettbewerbsprogramm. Von den zwanzig gezeigten Kurzfilmen immerhin drei Animationen. Zeigt sich hier ein neuer Trend?

AHD: Nein, sicher nicht. Die Animationen in den diesjährigen Shorts sind sogar recht wenige, letztes Jahr hatten wir doppelt so viele. Ich war erstaunt darüber, dass es so wenig waren. Animationen im Rahmen der Berlinale sind auch kein neuer Trend. Das sich allerdings jetzt auch im Langfilm Animationen finden, haben wir Carlo Chatrian und seinem sehr heterogenen Blick auf den Film zu verdanken. Es gab in der Animation immer schon den Kreislauf vom Comic ins bewegte Bild. Leider ist das Genre Animation auch wieder ein in sich geschlossener Kreis. Es gibt tolle Animationsfestivals für die ich teilweise auch arbeite. Dass diese Filme mal rauskommen aus dieser Kapsel, die im Übrigen sehr gut floriert und unheimlich spannend ist, das passiert nicht besonders häufig. Deshalb ist es gut, dass auch im Langfilm-Wettbewerb Animationen vertreten sind. Die Animationsleute sagen auch immer wieder selbst, sie sind sehr froh, wenn sie in einem gemischten Programm laufen und nicht immer nur in ihrer eigenen Blase.

The Waiting/ Das Warten von Volker Schlecht, Deutschland 2023, Berlinale Shorts © Volker Schlecht

 

Der unaufgeregte Blick der Nachwuchsautor*innen

Was mir in diesem Jahr besonders auffiel, ist vor allem die Verlorenheit der Protagonist*innen. Als sei die Welt zu groß geworden. Interpretiere ich das hinein, oder hat sich in den letzten Jahren mit dem Krieg, der Blick vor allem der jüngeren Filmemacher*innen verändert?

AHD: Es ist immer die Frage inwieweit ist es der eigene Blick oder inwieweit werden solche Annahmen in den Filmen tatsächlich verhandelt. Die Shorts sind weniger Spiegel der Gesellschaft, vielmehr haben wir lauter kleine Spiegelsplitter, wobei jeder Film wiederum in sich sehr individuell ist. Ich bin mir gar nicht sicher, ob es unbedingt eine Reflektion gesellschaftlicher Zustände ist oder eher ihr Ausdruck.

Ich meine gar nicht so sehr den Inhalt der Filme, sondern eher die Stimmung, das Tempo, das Licht bzw. das fehlende Licht. Im chinesischen Beitrag All Tomorrows Parties etwa gibt es  kaum Licht, die Bilder muten an wie sehr nachgedunkelte mittelalterliche Gemälde…

AHD: Das stimmt. Wir zeigen diesen Film deshalb auch in einer Gruppe mit La herida Luminosa, wo es ja um sehr viel Licht, um Licht überhaupt geht und mit Happy Doom, wo das Licht auf der Leinwand pulsiert. Aber du hast Recht, das ist mir beim Zusammenstellen der Programme aufgefallen: es ist ein sehr zurückgenommenes gleichbleibendes Tempo. Das ist allerdings nichts, wonach wir gesucht haben. Es kann schon sein, dass dies Ausdruck eines Lebensgefühls ist, das zurzeit vorherrscht. Andererseits sind es 20 Filme von 4300, die wir gesehen haben. Es gibt andere Festivals, die sichten pro Jahr 10.000 Filme. Es entstehen also unfassbar viele Filme, deswegen weiß ich nicht, ob wir es uns anmaßen können, diese 20 als pars pro toto zu nehmen. Aber ja, die Filme dieses Jahres haben etwas Unaufgeregtes und Gedämpftes bzw. Zurückgenommenes. Aber vielleicht kommt das aus der Pandemie, wo einfach alle ihr Tempo zurückschrauben mussten. Aber es hätte ja auch eine Hysterie entstehen können, es hätte ja sein können, dass alle es erstmal krachen lassen wollen.

Happy Doom von Billy Roisz, AUT 2023, Berlinale Shorts © 2023 Billy Roisz

Es ist natürlich Unsinn, Dich nach Deinen Lieblingsfilmen zu fragen…und überhaupt ist es schwer, angesichts der Fülle der spannenden Filme so etwas zu entscheiden. So kam, immer wenn ich mir einen persönlichen Favoriten gewählt habe, der nächste spannende Film. Ein einziger Beitrag jedoch, hat mich irritiert und ich habe mich nach dem Warum gefragt. Warum findet sich Happy Doom in eurer Auswahl?

AHD: (Lacht) In der Tradition der Shorts ist es erstaunlich, dass es nur dieser Film ist, der im Programm ist. Wir waren früher viel experimenteller. Ich werde offensichtlich immer strenger, deswegen übrigens auch nur zwanzig Filme in diesem Jahr. Ehrlich gesagt, war ich sehr froh, dass Happy Doom bei uns eingereicht wurde. Zum einen kennen wir die Autorin, Billy Roisz, es ist, glaube ich, inzwischen ihr vierter Film bei uns.  Zum anderen aber war ich froh, etwas abstraktes im Programm zu haben und genau diese Facette im Film zu zeigen, die nur im Kurzfilm möglich ist. Normalerweise sind Roisz Arbeiten länger, da drehen manche dann wirklich durch. Hier sind es allerdings nur vier Minuten. Es ist also schon kondensiert und man kann sich in diesen Rausch einfach reinfallen lassen. Ein Film wie Happy Doom gehört einfach zur Bandbreite des Kurzfilms und ich finde, dass sie über eine reine VJ-Arbeit oder eine mit Beats untermalte Bildschirmschonerversion hinausgeht. Billy Roisz weiß sehr gut, wie man komponiert, wie man Rhythmen macht. Dabei kommt sie uns in ihrer Dramaturgie und ihrem Rhythmus sehr entgegen. Ich finde, der Film ist leicht zu konsumieren. Natürlich fällt er total raus und das war schwierig beim Programmieren: Wo passt der Film rein? Schließlich haben wir ihn als Abschluss für das "Licht und Dunkel (Tag und Nacht) Programm" genommen. Wir sind es übrigens gewohnt, dass diese abstrakten Arbeiten richtig erboste Reaktionen im Publikum hervorrufen. Immer wieder ruft bei den experimentellen Filmen jemand laut:
Das ist kein Film!
Billy Roisz ist das schon gewöhnt. Wir unterhalten uns nach den Vorstellungen auf der Bühne und sie spricht wirklich toll über ihre Arbeit und erzählt, was zu ihren Entscheidungen führte und wie diese Filme entstanden sind. Dann öffnet sich oft eine kleine Tür und selbst Leute, die zunächst nichts mit ihren Filmen anfangen konnten, haben auf einmal einen Zugang zu ihren Filmen.

Hier finden sich sämtliche Spielzeiten- und Orte der Berlinale Shorts