von Andrea Rottmann

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26. Juni 2023

Im Kontext der deutschen Zeitgeschichte mag es überraschend erscheinen, Frauengefängnisse als bedeutsame Räume lesbischen und queeren Lebens zu untersuchen.[1] Schließlich fielen Beziehungen zwischen Frauen weder in der BRD noch in der DDR unter den §175 StGB, der männliche Homosexualität kriminalisierte und tausende Männer vor allem in der BRD aufgrund von einvernehmlichem Sex ins Gefängnis brachte.[2] Es war aber nicht nur das Strafrecht, auch nicht allein das Recht, das die heteronormative Ordnung dieser beiden durch Homophobie und die Angst vor Geschlechterunordnung geprägten Gesellschaften[3] stabilisierte. Zur Stigmatisierung von Queerness, worunter ich in diesem Beitrag gleichgeschlechtliches Begehren und nicht-normative Verkörperungen von Geschlecht verstehe, trug auch die Medizin und die Psychologie bei, wie der Dossier-Beitrag von Karen Nolte und Steff Kunz für West-Deutschland zeigt und wie es unter anderem Ulrike Klöppel auch für die DDR festgestellt hat.[4] Staatliche und wissenschaftliche Diskurse in der DDR legitimierten allein monogame, auf Fortpflanzung bedachte Hetero-Sexualität. Andere Praktiken wie Masturbation, Analsex oder S/M wurden in sexualwissenschaftlichen Ratgebern verurteilt.[5] In der frühen DDR verfolgte die SED auch das Projekt einer sozialistischen Moral, das zu einer neuen Generation „wohlanständiger Menschen“ führen sollte.[6] Da das Recht und damit auch der Strafvollzug dem Aufbau des Sozialismus dienten, ist anzunehmen, dass diese sozialistische Moral auch in den Gefängnissen vermittelt werden sollte. Wie wurde also in den DDR-Haftanstalten mit gleichgeschlechtlicher Sexualität und nicht-normativen Verkörperungen von Geschlecht umgegangen? Dieser Frage geht der Beitrag am Beispiel des Ost-Berliner Frauengefängnisses nach.

 

Sexualität und Geschlecht im Gefängnis

Über Sexualität und Geschlecht in deutschen Gefängnissen wissen wir bisher wenig, denn anders als in den USA, wo sich vor allem die Soziologie seit Anfang des 20. Jahrhunderts für Haftanstalten als soziale Räume interessierte, gab es in den deutschen Sozial- und Geisteswissenschaften lange kaum Forschung zum Gefängnis.[7] Anschließend an Michel Foucaults Thesen zur Disziplinierung hat die Historikerin Regina Kunzel US-amerikanische Haftanstalten als Orte der Disziplinierung von Sexualität und Geschlecht und der Produktion von Devianz untersucht.[8] In ihrem Buch Criminal Intimacy: Prison and the Uneven History of Modern American Sexuality argumentiert sie, dass Sexualität im Gefängnis die prekäre Konstruktion der heterosexuellen Ordnung bzw. der gesellschaftlichen „Norm“ oder „Normalität“ enthülle, gerade weil Wissenschaft und Staat dem Sex zwischen Gefangenen jegliche Bedeutung für die Gesellschaft außerhalb der Gefängnismauern abgesprochen hätten.[9] Kunzel beleuchtet in ihrem Buch auch die Praktiken, anhand derer Gefangene ihr geschlechtliches und sexuelles Selbst konstruierten, und verweist auf die Präsenz queerer Subjektivitäten aus der Arbeiterklasse und butch-fem-Dynamiken im Gefängnis, insbesondere während der Mitte des 20. Jahrhunderts.[10] Frauen aus der Arbeiterklasse entwickelten in den USA seit den 1940er Jahren männliche – „butch“ – und weibliche – „femme“ oder „fem“ – Subjektivitäten, die das äußere Auftreten sowie sexuelle Rollen umfassten. Die Historikerinnen Elisabeth Kennedy und Madeline Davis haben argumentiert, dass diese Subjektivitäten auch eine politische Bedeutung hatten:

Butches defied convention by usurping male privilege in appearance and sexuality, and with their fems, outraged society by creating a romantic and sexual unit within which women were not under male control. At a time when lesbian communities were developing solidarity and consciousness, but had not yet formed political groups, butch-fem roles were the key structure for organizing against heterosexual dominance. They were the central prepolitical form of resistance.[11]

Für Deutschland sind solche vergeschlechtlichten Subjektivitäten in der lesbischen Subkultur seit dem frühen 20. Jahrhundert bekannt und für die Weimarer Republik auch erforscht, allerdings kaum im Hinblick auf den Zusammenhang von Klasse und Subkultur.[12] Das hängt mit den Quellen zusammen: in den untersuchten lesbischen Zeitschriften „issues of class and race are either marginalized or exoticized as ‚other‘ to the unarticulated norm of white, middle-class Germanness“, wie Katie Sutton schreibt.[13] Das Gefängnis als Raum zu untersuchen, in dem sich queere Kulturen der Arbeiterklasse und spezifisch Butch-Fem-Dynamiken zeigten und in doppelter Hinsicht festgehalten wurden, ist somit ein Beitrag zu einer intersektionalen queeren Zeitgeschichte, die auch Alltagshandeln als politisch begreift.

 

Haft in Deutschland nach 1945

Nach 1945 entwickelten sich Theorie und Praxis der Haftstrafe in den beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich. In der BRD gab es zum einen eine größere Kontinuität zum Nationalsozialismus: das Gefängnispersonal wurde oft beibehalten, wie auch die Haftregeln des NS-Staates.[14] Unter dem Einfluss der westlichen Alliierten liberalisierten sich kriminologische Theorie und Praxis aber allmählich, und ab 1976 war die Resozialisierung der Gefangenen erklärtes Ziel der Haftstrafe, nicht mehr die Vergeltung für die begangenen Taten.[15] Die DDR entließ das Gefängnispersonal aus dem Nationalsozialismus.[16] Nach einem kurzen Versuch, an Reformversuche der Weimarer Republik anzuknüpfen, übernahmen Anfang der 1950er Jahre das Ministerium des Inneren und die Volkspolizei die Aufsicht über die Haftanstalten.[17] Das Recht und in der Folge die Haft dienten nun dem Aufbau des Sozialismus, und mit Haft bestraft wurden diejenigen, die sich diesem Ziel nicht angemessen fügten. Personalmangel, schlechte Bausubstanz und die massenhafte Inhaftierung politischer Gefangener führten bis zum Ende der DDR zu oft sehr schlechten Haftbedingungen.[18]

Die unterschiedlichen Entwicklungen in Ost und West sind auch im geteilten Berlin sichtbar. 1945 kamen die Gefängnisse inklusive des Frauengefängnisses in der Barnimstraße 10 nahe des Alexanderplatzes zunächst unter die Kontrolle der sowjetischen Besatzer. Im Zuge der Berlin-Krise 1948 wurde die Stadt politisch geteilt, ab jetzt entstanden zwei separate administrative, wirtschaftliche und kulturelle Hälften, wobei der Teilungsprozess erst mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 abgeschlossen war. Der Strafvollzug wurde 1949 geteilt: im West-Teil der Stadt wohnendes Gefängnispersonal konnte nun nicht mehr in den Ost-Teil einreisen und Häftlinge, die vor ihrer Haft im Westen gemeldet waren, wurden in Gefängnisse im Westen umgelegt. Die Westberliner Häftlinge aus der Barnimstraße saßen nun im ehemaligen Militärgefängnis Moabit ein, das bis 1985 das West-Berliner Frauengefängnis blieb.[19] In Ost-Berlin gab es eine kurze Liberalisierungsphase, die eine Verbesserung der Haftbedingungen und eine Demokratisierung der Haft vorsah. 1951 übernahm jedoch die Volkspolizei und führte ein autoritäres, militarisiertes Haftregime ein.[20]

Frauengefängnis in der Barnimstraße 10, 1968, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290-02-23 Nr. 381 / Fotograf: Dieter und Vera Breitenborn.

 

Queere Subjektivitäten im Ost-Berliner Frauengefängnis in der Barnimstraße 10

Spuren queerer Subjektivitäten in der Barnimstraße 10 haben sich sowohl aus der kurzen Phase der Liberalisierung vor 1951 als auch aus den 1950er und 1960er Jahren erhalten. Die Ost-Berliner Hundefriseurin und Zeitzeugin Rita „Tommy“ Thomas berichtete in einem Oral History Interview für das Archiv der anderen Erinnerungen der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld von ihrer Inhaftierung 1949/1950, als sie wegen illegalen Waffenbesitzes zehn Monate in der Jugendabteilung der Barnimstraße einsaß. Sie erzählte den Interviewer*innen:

“Und denn bin ick überführt zur Barnimstraße, Barnimstraße 10. Da war ein Block oben, im zweiten oder im ersten Stock, da warn allet Jugendliche. … Und da kam ick runter und die hatten gerade Freistunden, und die ham mich da unten jesehn und da ham die von oben jerufen: Hey, schick den Bubi zu uns nach oben. Ja, weil früher ham se immer jesacht Bubi und Mäuschen, wa. Und naja, ick musste ja nun, ob ick wollte oder nich. Dit war aber eine lustige Zeit. Dit war wie ´n Kindergarten da (schüttelt den Kopf). Da waren och hübsche Frauen drin. Und denn hatten wa Freistunde gehabt, und mit de eene hab ick mich gut verstanden, die, ham wa jesagt, wir feiern jetzt Verlobung hier. Und da war´t unjefähr so zehn, mehr war et nich, zehn oder zwölf, wir sind denn einjehakt in ne Freistunde rund rum jelaufen auf ´n Hof, und die hinterher. Und da ham wa Verlobung jefeiert, aus Quatsch mehr, wa. Und die, naja die Wärter, die da warn, das war och komisch, da ham se immer Spitznamen jejeben. Die eene Wärterin hatte so ´nen silbernen Zahn hier so im Mund (zeigt auf ihren Mund), und da ham se jesacht zu der immer Blechzahnbubi, ja, und die andere hieß Fräulein Fuchs. Naja, und denn äh war dit so dass ich in ´ne Zelle, hm, naja, die wollte da immer Knutschen und so, und det fand ick nich so jut. Ja. Nee. Und da war ick zu dritt mit in ´ne Zelle, und da hab ick jesacht: Ick möchte ´ne Einzelzelle. Ja. Und denn ham se det jemacht, bin ick in ´ne Einzelzelle jekomm … . Und da hab ick dann jeschrieben. Ick hab nur jeschrieben. Da hat die jesacht, die Wärterin, ick bin wie Chopin, ja, sacht se, …, ick hab nur jeschrieben, und da hab ick dit Jedicht och jemacht, da jeschrieben, uf Originalpapier vom Knast noch. Und dann war ma ´ne ´ne hübsche Fürsorgerin, … die kamen dann alle 14 Tage mal und ham sich erkundigt. Na wat wolln se sich erkundigen? Knast is Knast. Und da konnte man mit der ´n bisschen reden. (zuckt mir den Schulter) Ja, wat´n reden? Wie it da war? Also it war ja nich schlecht. Also ick hab da ´ne jute Zeit verlebt. Kann nich klagen. Hm.”[21]

In diesem Interview-Ausschnitt erscheint das Gefängnis als Raum, in dem unterschiedliche queere Subjektivitäten sichtbar waren, in dem spielerische und grenzüberschreitende intime Beziehungen stattfanden und der durchaus auch Platz bot für Introspektion und Kreativität. Gleich nach ihrer Ankunft im Gefängnis wird Tommy als „Bubi“ angerufen – ein Begriff, der seit Anfang des 20. Jahrhunderts für sich männlich präsentierende, gleichgeschlechtlich begehrende Frauen genutzt wurde. Indem sie Tommy als Bubi titulierten, benannten die anderen Gefangenen also ihre Queerness. Damit einher ging eine Verortung im Gefängnis: sie wird „zu uns nach oben“ geschickt, zu der Gruppe, die sie als eine der ihren reklamiert. Im Interview spezifiziert Tommy nicht, wer diese Gruppe war, ob sie ganz aus Bubis bestand, was auf eine nach verkörpertem Geschlecht organisierte Aufteilung des Gefängnisraums hindeuten würde, oder aus Bubis und Mäuschen, was auf Sexualität als Ordnungsprinzip verweisen würde. Nicht nur unter den Inhaftierten gab es artikulierte queere Subjektivitäten, sondern auch zwei Wärterinnen sind durch die Spitznamen „Blechzahnbubi“ und „Fräulein Fuchs“ geschlechtlich markiert.

Tommys Erzählung sagt auch viel über unterschiedliche Beziehungen zwischen den Gefangenen aus. Die Performance einer Verlobung zwischen Tommy und einer Mitgefangenen, die im Beisein und mit der aktiven Mitwirkung anderer Gefangener gefeiert wurde und Elemente von Spiel und Formalität enthielt, deutet auf einigen Handlungsspielraum der Inhaftierten hin, die ihre Freizeit und den vergleichsweise offenen Raum des Gefängnishofes nutzten, um ihre eigene soziale Ordnung zu gestalten. Als sie in ihrer Zelle ungewollten sexuellen Avancen ausgesetzt ist – „die wollte da immer Knutschen und so, und det fand ick nich so jut“ – beantragt Tommy die Verlegung in eine Einzelzelle, die ihr auch gewährt wird. Dort findet sie Raum zur Reflektion und zum Gedichteschreiben. Dass die Wärterin ihre kreative Produktivität mit Chopin vergleicht, ist ein Kompliment, das Tommy nicht ohne Stolz wiedergibt. Ihr Schreiben im Gefängnis ist ein besonderer Moment in ihrer Biografie. Da sie aus einer Handwerkerfamilie kam, ihre Ausbildung auf die Volksschule beschränkt blieb und sie zeitlebens als Hundefriseurin arbeitete, hatte sie möglicherweise sonst wenig Zeit und Raum für Reflektion. Vielleicht beschreibt sie auch deswegen die Zeit im Gefängnis als „jute Zeit“. Ihre Haft fand jedoch auch in einer im Vergleich recht komfortablen Zwischen-Zeit statt: die schlimmste Not der Nachkriegsjahre war überwunden und das Gefängnis nicht mehr vollkommen überbelegt mit Frauen, die aufgrund von Kleinkriminalität oder Prostitution einsaßen, außerdem experimentierte die SED gerade mit einer liberaleren Strafpraxis.

Wenige Jahre später sah die Situation schon ganz anders aus. In offiziellen Berichten der Abteilung Strafvollzug der Volkspolizei tauchen lesbische Beziehungen und queere Subjektivitäten als Zeichen mangelnder sozialistischer Moral auf und als Abweichungen der „anständigen“, produktiven und heterosexuellen sozialistischen Bürgerin der frühen DDR. Ein Quartalsbericht aus dem Jahr 1954 erwähnt „eine größere Anzahl von Genossinnen mit lesbischer Veranlagung“ die aufgrund „akuten Personalmangels“ nicht entlassen werden konnten.[22] Ein Jahr später ist in einem weiteren Quartalsbericht die Entlassung von fünf Wärterinnen aufgrund „Beziehungen lesbischer Art zu Strafgefangenen“ vermerkt.[23] Laut des Berichtverfassers handelte es sich bei diesen Vorkommnissen um einen „Ausdruck der klassengegnerischen Aktivitäten in unseren SV-Dienststellen.“ Die Historikerin Claudia von Gélieu hat vermutet, dass die „Beziehungen lesbischer Art“ der tatsächliche Entlassungsgrund gewesen sein könnten, dass der Vorwurf der Homosexualität aber auch ein Vorwand gewesen sein könnte, um sich politisch unbequemer Beschäftigter zu entledigen.[24] Beziehungen zwischen Wärterinnen und Gefangenen konnten jedenfalls nicht toleriert werden, da sie die Grenze zwischen Kriminellen und Normalen überschritten und die Ordnung des Gefängnisses destabilisierten. Zudem hätte es sich dabei möglicherweise auch um eine sexuelle Ausbeutung Abhängiger gehandelt.

Ab Mitte der 1960er Jahre wurden zunehmend sogenannte „Arbeitserziehungspflichtige“, kurz „AEs“, in der Barnimstraße inhaftiert. Dabei handelte es sich um Personen, die das Regime als „asozial“ klassifizierte, weil sie „arbeitsscheu“ seien oder der Prostitution nachgingen. Seit 1961 konnte der Staat mithilfe der „Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung“ sogenannte „Arbeitsscheue“ zur Arbeit zwingen, ab 1968 war die Kriminalisierung von „Asozialen“ im §249 des neuen DDR-Strafgesetzbuchs formalisiert. [25] War die Einführung eines Gesetzes gegen „Asozialität“ eine echte Neuheit des sozialistischen Staats, so zirkulierte der Begriff seit dem späten 19. Jahrhundert für Menschen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Normen widersprachen. Die Nazis verfolgten Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgingen oder wiederholt Gesetze brachen, darunter Prostituierte, als „Asoziale“, und verlegten sie ab 1942 von den Gefängnissen in die Konzentrationslager, um sie durch Arbeit zu vernichten.[26] Insa Eschebach hat gezeigt, dass Überlebende des Frauen-KZ Ravensbrück in ihren Memoiren lesbische Beziehungen ausschließlich „asozialen“ und „kriminellen“ Mithäftlingen zuschrieben.[27]

In Berichten der Volkspolizei über das Frauengefängnis Barnimstraße wird in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mehrmals „lesbische Liebe“ mit Störungen der „Erziehungsarbeit“ des Gefängnisses in Verbindung gebracht.[28] Die Autoren eines Berichts vermerkten: „Ein weiterer Schwerpunkt, der sich auf die Erziehungsarbeit besonders hemmend auswirkt, ist der Hang eines nicht kleinen Teils der AE zur lesbischen Liebe. Das äußert sich darin, daß ein Teil der AE ‘männlich’ in Erscheinung zu treten versucht und sich durch Rowdytum und Randalieren in den Mittelpunkt des Interesses der AE zu rücken versucht.“[29] Wie sich die Gefangenen als ‚männlich‘ präsentierten, wird nicht erläutert – ob sie durch Frisur oder Änderungen an der Häftlingskleidung eine weibliche Maskulinität verkörperten, ob sie Männernamen trugen oder Teil eines geschlechtlich differenzierten Butch-Fem-Frauenpaars waren. Der Bericht betonte aber den schädlichen Einfluss der „lesbischen Liebe“ auf die „Erziehungsarbeit“, der sich auf die Arbeitsmoral nicht nur der „AEs“ sondern auch der anderen Gefangenen erstrecke.[30] Im Jahresbericht für das Jahr 1966 wird festgehalten, dem Personal der Barnimstraße sei es weitgehend gelungen, die durch den Wechsel der Inhaftiertenstruktur von Gefangenen zu Arbeitspflichtigen entstandene Situation zu normalisieren, jedoch seien „Ordnung und Erziehungsarbeit immer noch von einer Reihe von Aspekten der lesbischen Liebe negativ beeinflusst“ und es müsse überlegt werden, „wie und durch welche Maßnahmen dieses Phänomen unterdrückt werden“ könne.[31] Im Februar 1967 hielt ein weiterer Bericht fest, „Den weitaus größten Anteil für die Motive und Gründe bei Verstößen gegen die Disziplin und Ordnung nehmen die verbreiteten lesbischen Beziehungen sowie der Klatsch und Zank unter den AE ein.“[32] Anstatt ihre Freizeit zur Lektüre der Zeitung oder anspruchsvoller Literatur zu nutzen, seien sie „nur daran interessiert, illegale Verbindungen zu knüpfen und niveaulose Gespräche, meistens über Liebesaffären in der schmutzigsten Weise, zu führen.“ Falls sie doch an den Freizeitangeboten des Gefängnisses teilnähmen, dann nur,

„um Freundschaften zu schließen bzw. ihre Verbindungen besser ausnutzen zu können. Diese sogenannten ‘reinen’ Freundschaften führen in starkem Maße sehr oft zu ausgedehnten Kassibereien mit Bekleidungsstücken und Briefen. Es tritt besonders verstärkt auf, daß die AE mit Einkaufsbeschränkung von anderen mit Rauchwaren und Lebensmitteln versorgt werden, obwohl sie wissen, daß es verboten ist und sie dann ebenfalls disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden.“[33]

In diesem Zitat erscheinen lesbische Beziehungen unter den Gefangenen als subversive Handlungen, die die Funktion des Gefängnisses, die Inhaftierten durch „Arbeitserziehung“ zu disziplinieren, deutlich störten. Sexualität war eine alternative Form der Freizeitgestaltung und unterlief die institutionelle Mission der „Erziehungsarbeit“. Dass die Gespräche und Kassiber unter den „AEs“ sexuellen Inhalts waren, darauf geben die Adjektive „niveaulos“ und „schmutzigst“ recht eindeutige Hinweise. Das Zitat kann auch als Hinweis auf ökonomische Solidarität unter den Gefangenen verstanden werden: Diejenigen, die Lebensmittel und Tabak kaufen durften, teilten mit jenen, denen dies nicht erlaubt war. Vielleicht machten Gefangene Anderen aber auch Geschenke, um ihre Zuneigung und Anerkennung zu erlangen.[34] In den Unterlagen der Volkspolizei finden sich auch Spuren der Diffamierung unter Gefangenen. In der „Jahreseinschätzung der Eingaben inhaftierter Personen“ aus dem Jahr 1967 sind drei Beschwerden von AEs über andere AEs enthalten, „die durch die lesbischen Beziehungen den Arbeitsablauf und die Disziplin störten.“[35] Diese Frauen wurden in andere Arbeitskommandos verlegt oder temporär isoliert.

Die ehemalige Gefangene Beatrice Kühne, die Claudia von Gélieu für ihr Buch über die Barnimstraße interviewte, erinnerte sich an lesbische Beziehungen zwischen Inhaftierten. Ihre Erzählung verdeutlicht, wie Gefangene das Verbot solcher Beziehungen unterliefen, und verweist auch auf die politische Bedeutung eines offen lesbischen Lebens in der DDR. Kühne war 1970 und 1971 aufgrund ihrer Fluchtpläne in der Barnimstraße inhaftiert.

Gélieu: Nach anderen Angaben sollen sehr viele Prostituierte und „Asoziale“ in der Barnimstraße inhaftiert gewesen sein. Stimmt das?

Kühne: Das weiß ich nicht. Aber Sex spielte schon eine Rolle. Selbstbefriedigung wurde stillschweigend unter den Häftlingen toleriert. Und es gab lesbische Beziehungen. Ich war mit einer Kriminellen zusammen [in der Zelle], die hatte einen festen Freund, eine Frau. Das war bekannt. In einer gemeinsamen Zelle hatten sie sich verliebt, waren aber ganz schnell getrennt worden. Das war dann das Superdrama. Sie trafen sich heimlich, tauschten Geschenke aus. Unter den Gefangenen war das Konsens. Das gab’s häufig, glaube ich. Konkret weiß ich es nur von dieser Frau, einer sehr hübschen, rebellischen Frau. Sie hat das ganz offen gelebt. Zu DDR-Zeiten nicht ganz selbstverständlich. In gewisser Weise war sie auch eine Oppositionelle.[36]

Laut Kühne wurden also lesbische Beziehungen zwar nicht von der Gefängnisverwaltung, aber von den anderen Gefangenen toleriert. In dem von ihr erinnerten Fall wurden die beiden Frauen nicht in Einzelzellen isoliert – so war der Umgang damit während des Nationalsozialismus – aber sie wurden voneinander getrennt. Etwas früher im Interview hatte Kühne die Trennung von „zu engen Zellengemeinschaften“ als Teil der „Strategie der Gefängnisleitung“ beschrieben und das „willkürliche und unerwartete“ Verlegen als „wesentliches Element des psychischen Terrors.“[37] Indem sie ihre Zellengenossin als „auch eine Oppositionelle“ beschreibt, destabilisiert Kühne die Unterscheidung zwischen politischen und kriminellen Gefangenen und erkennt an, dass es ein politischer Akt war, in der homophoben DDR-Gesellschaft offen lesbisch zu leben.

 

Fazit

Die hier diskutierten Quellen beleuchten die Präsenz queerer Subjektivitäten und die Reaktionen der Strafvollzugsverwaltung in unterschiedlichen Phasen der frühen DDR. Nachdem die Volkspolizei die Verantwortung für die Gefängnisse übernommen hatte und die Strafpraxis von liberal zu repressiv umschwenkte, fanden bislang offen gezeigte queere Gefühlspraktiken wie Tommys Verlobungszeremonie auf dem Gefängnishof nun im Verborgenen statt. Ein Beispiel dafür sind die Treffen und der Geschenkaustausch der Liebenden Anfang der 1970er Jahre, an die Beatrice Kühne sich erinnert. Auch die Interpretation queerer Sexualität durch die Gefängnisverwaltung veränderte sich: Wurde Homosexualität Mitte der 1950er Jahre als Gefahr, die von außerhalb der sozialistischen Gesellschaft kam, wahrgenommen („ein Ausdruck klassengegnerischer Aktivitäten“), so kam die Bedrohung zehn Jahre später von innen, von Frauen, deren Verweigerung sozialistischer Arbeits- und Sexualitätsnormen sie als „asozial“ kennzeichnete.

Die Analyse von Gefängnissen, so hat dieser Beitrag gezeigt, ist eine vielversprechende Forschungsstrategie für eine queere Zeitgeschichte, die sich sowohl für queere Lebenswelten als auch für die Konstruktion sexueller und geschlechtlicher Normen durch staatliche Disziplinierung interessiert. Dabei gilt es, Fremd- und Selbstzeugnisse der Gefangenen zu berücksichtigen, sowohl die Dokumentation staatlicher Institutionen als auch Interviews, die im Kontext feministischer und queerer Geschichtsschreibung entstanden sind. Der Blick auf das Gefängnis bringt queere Subjektivitäten aus der Arbeiterklasse in den Fokus, die in bewegungs- oder kulturgeschichtlichen Studien selten vertreten sind, und deutet auf die Verschränkung heteronormativer und klassistischer Unterdrückungen hin – in der DDR wie in der BRD. Spezifisch für die DDR wäre es lohnend, die Verknüpfung von „Asozialität“ mit Queerness zu untersuchen und den Hinweisen nachzugehen, dass der „Asozialitäts-Paragraf“ §249, der zum Ende der DDR den Haftgrund fast eines Viertels der Gefangenen darstellte, auch gegen Homosexuelle angewandt wurde.[38] Im Ergebnis könnte zum einen ein erweitertes Verständnis von Opposition in der DDR stehen, zum anderen eine kritischere Sichtweise auf den bisher im Vergleich zur BRD weniger repressiv erscheinenden Umgang der DDR mit queeren Menschen.

 

 


[1] Dieser Beitrag greift einen Aspekt meiner Forschung heraus, den ich an anderer Stelle ausführlicher diskutiert habe: Andrea Rottmann, Bubis Behind Bars. Seeing Queer Histories in Postwar Germany Through the Prison, in: Journal of the History of Sexuality 30. 2021, S. 225–252.
[2] Zum §175 siehe z.B. Georg Härpfer, Der lange Weg zur Rehabilitierung. Zum Nachwirken des §175 bis in die Gegenwart, in: Janin Afken u.a. (Hg.), Jahrbuch Sexualitäten 2019, Göttingen 2019, S. 97–116. Die DDR schaffte zwar 1968 den §175 ab, schuf aber gleichzeitig den neuen §151, der für gleichgeschlechtlichen Sex – zwischen Männern oder Frauen – ein höheres Schutzalter als für Heterosex einführte. Zum §151 siehe z.B. Teresa Tammer, Grenzfall Strafrecht. Deutsch-deutsche Reaktionen auf die Abschaffung des §151 StGB-DDR, in: Ministerium der Justiz des Landes NRW (Hg.), Justiz und Homosexualität, Geldern 2020, S. 166–184.
[3] Ich danke meiner Mitherausgeberin Ulrike Klöppel für diese treffende Formulierung.
[4] Ulrike Klöppel, XX0XY ungelöst: Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität, Bielefeld 2010.
[5] Josie McLellan, Love in the Time of Communism. Intimacy and Sexuality in the GDR, Cambridge, UK 2011, S. 90. Zur Sexualerziehung in der frühen DDR siehe auch Maria Borowski, Parallelwelten: Lesbisch-schwules Leben in der frühen DDR, Berlin 2017.
[6] Greg Eghigian, Homo Munitus: The East German Observed, in: Katherine Pence u. Paul Betts (Hg.), Socialist Modern. East German Everyday Culture and Politics, Ann Arbor 2008, S. 37–70, hier S. 44–45.
[7] Zuletzt sind aber einige zeithistorische Studien erschienen: Kai Naumann, Gefängnis und Gesellschaft. Freiheitsentzug in Deutschland in Wissenschaft und Praxis 1920-1960, Berlin 2006; Greg Eghigian, The Corrigible and the Incorrigible: Science, Medicine, and the Convict in Twentieth-Century Germany, Ann Arbor 2015; Maria Bormuth, Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt […], wird mit Gefängnis bestraft: § 175 StGB - 20 Jahre legitimiertes Unrecht in der Bundesrepublik am Beispiel des Strafvollzugs in Wolfenbüttel, Celle 2019; Annelie Ramsbrock, Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch – eine bundesdeutsche Geschichte, Frankfurt am Main 2020.
[8] Michel Foucault, Discipline and punish. The birth of the prison, New York 1979.
[9] Regina Kunzel, Criminal Intimacy. Prison and the Uneven History of Modern American Sexuality, Chicago and London 2008, S. 8.
[10] Ebd., S. 121.
[11] Elizabeth Lapovsky Kennedy u. Madeline D. Davis, Boots of Leather, Slippers of Gold, New York and London 1993, S. 6.
[12] Siehe beispielsweise Heike Schader, Virile, Vamps und wilde Veilchen. Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre, Königsstein/Taunus 2004.
[13] Katie Sutton, The masculine woman in Weimar Germany (= Monographs in German history, v. 32), New York 2011, S. 13.
[14] Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006, S. 396.
[15] Ebd., S. 400; Naumann, S. 256–259.
[16] Wachsmann, S. 400.
[17] Eghigian, S. 59.
[18] Ebd., 16, 66, 81.
[19] Claudia von Gélieu, Barnimstraße 10. Das Berliner Frauengefängnis 1868-1974, Berlin 2014, S. 258.
[20] Ebd., S. 265–272.
[21] Rita "Tommy" Thomas. Interview von Karl-Heinz Steinle und Babette Reicherdt. 19. November 2016. Archiv der anderen Erinnerungen. Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Berlin; Transkription Janina Rieck.
[22] Abteilung Strafvollzug, Quartalsbericht für das II. Quartal 1954 (Kopie), Schwules Museum, Berlin, DDR-24.
[23] Abteilung Strafvollzug, Quartalsbericht für das III. Quartal 1955 (Kopie), Schwules Museum, Berlin, DDR-24.
[24] Gélieu, S. 278.
[25] Das neue Strafgesetzbuch wurde 1968 verabschiedet, trat aber bereits 1965 vorläufig in Kraft. Ebd., S. 290.
[26] Steffi Brüning, Prostitution in der DDR. Eine Untersuchung am Beispiel von Rostock, Berlin und Leipzig, 1968 bis 1989, Berlin 2020, S. 64–66.
[27] Insa Eschebach, Homophobie, Devianz und weibliche Homosexualität im Konzentrationslager Ravensbrück, in: dies. (Hg.), Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, S. 65–77, hier S. 68.
[28] Strafvollzugsanstalt Berlin II, Vollzugsgeschäftsstelle, Analyse über die in der Anstalt einsitzenden Inhaftierten unter Berücksichtigung der einzelnen Haftarten, 01. August 1966, Schwules Museum, Berlin, DDR-24.
[29] Ebd.
[30] Ebd.
[31] Präsidium der Volkspolizei Berlin, Abteilung Strafvollzug, Bericht über die Erfüllung der Hauptaufgaben des Dienstzweiges Strafvollzug mm Jahre 1966.
[32] Strafvollzugsanstalt Berlin II. Bericht über die Durchsetzung einer straffen Disziplin und Ordnung.
[33] Ebd.
[34] Danke an Ulrike Klöppel für diese alternative Deutungsmöglichkeit.
[35] Präsidium der Volkspolizei Berlin, Abteilung Strafvollzug, der Leiter. Jahreseinschätzung der Eingaben inhaftierter Personen 1967. 9. Januar 1968. Schwules Museum, DDR 24.
[36] Gélieu, S. 302.
[37] Ebd., S. 301.
[38] Ein Hinweis darauf findet sich bei Sven Korzilius, "Asoziale" und "Parasiten" im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 415 Zum Anteil der aufgrund §249 Inhaftierten siehe Thomas Lindenberger, "Asoziale Lebensweise". Herrschaftslegitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines "negativen Milieus" in der SED-Diktatur, in: Geschichte und Gesellschaft 31. 2005, S. 227–254, hier S. 247.