von Florian Völker

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23. Oktober 2023

In der Forschung und öffentlichen Wahrnehmung finden üblicherweise nur solche Subkulturen und Genres Beachtung, die das Narrativ kontinuierlicher Wärmegrade bzw. einer fortschreitenden Erhitzung der Popmusik stützten und sich betont leidenschaftlich und/oder widerständig gaben. Am Ende der 1970er Jahre entstand im Vor- und Umfeld der sogenannten Neuen Deutschen Welle (NDW) mit dem Phänomen ‚Kälte-Pop‘ jedoch ein ästhetisches und (subjekt-)kulturelles Konzept in der deutschsprachigen Pop-Musik, welches das ‚Kalte‘ in den Mittelpunkt seiner Performances, Songtexte und Sounds stellte und zu dessen bekanntesten Vertretern international erfolgreiche Bands wie Kraftwerk, Deutsch-Amerikanische Freundschaft (DAF) und Einstürzende Neubauten gehören. Beim ‚Kälte-Pop‘ handelt es sich jedoch nicht um ein eigenes Genre oder eine willkürliche Motiv-Wahl einzelner Künstler:innen, sondern um eine Verhaltenslehre, kulturelle Strategie und darauf aufbauende, popkulturelle Praxis und Ästhetik.

Als Gegenentwurf zum pop- wie gegenkulturell hegemonialen „Wärme-Kult“[1] entwickelten die Musiker:innen des ‚Kälte-Pop‘ ein System von Motiven, Codes und Strategien, das all jene Zeichen und Prozesse der (Post-)Moderne affirmierte und ästhetisierte, die am Ende der 1970er Jahre in der bundesdeutschen Gesellschaft und insbesondere im linksalternativen Milieu als negative bis bedrohliche Aspekte einer vermeintlich kalten Welt interpretiert wurden: Entemotionalisierung und Dehumanisierung, Industrie und Großstadt, Entfremdung und Gefühlslosigkeit, Künstlichkeit und Oberflächenästhetik, Disziplin und körperliche Funktionalität, Gewalt und Härte, Zerfallszeichen und Todesmotive, thermische Kälte-Bilder wie Schnee und Eis, Baustoffe wie Beton und Stahl sowie technische Geräte wie Computer, Maschinen und Roboter. Ausdruck fand dieses Vorgehen in so stilistisch unterschiedlichen Songs wie „Eisbär“ (1980) von Grauzone, „Eiszeit“ (1981) von Ideal, „Die Mensch∙Maschine“ (1978) von Kraftwerk, „Zurück Zum Beton“ (1979) von S.Y.P.H., „Der Mussolini“ (1981) von DAF sowie „Abstieg Und Zerfall“ (1981) von Einstürzende Neubauten. Zwar hatten die von diesen und weiteren Künstler:innen eingesetzten Motive und Strategien der ‚Kälte‘ im Rahmen der popkulturellen ‚Kälte-Welle‘ (1978–1983) einen vorerst kurzen, dafür aber auch einflussreichen und nachhaltigen Auftritt, der bis heute in der internationalen Pop-Musik und bei Acts wie Rammstein nachwirkt.

 

 

„Wir sagen Ja zur Modernen Welt“

(FSK – Moderne Welt, 1980)[2]

 

Frontcover der Single „Eisprinzessin Und Klirrende Kälte“ (1982) von St. Peter, Bild: via Discogs.

 

Mit der kompletten Umkehrung des bürgerlichen und gegenkulturellen Wertekatalogs änderten die Künstler:innen des ‚Kälte-Pop‘ sowohl ihre Perspektive auf und ihren Umgang mit den als krisenhaft empfundenen Struktur- und Umbrüchen in der bundesdeutschen Gesellschaft am Ende der 1970er Jahre, die in der Geschichtswissenschaft als Phase „nach dem Boom“ behandelt werden,[3] als auch ihre Sicht auf lebensweltliche und politisch-philosophische Aspekte wie Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Gesellschaft und Subjekt, Selbstdarstellung und Identität. Dieses Vorgehen hat in Deutschland Tradition: Rund 50 Jahre zuvor erlebten „Verhaltenslehren der Kälte“[4] in der Weimarer Republik bei Künstler:innen des Futurismus, des Dadaismus und besonders der Neuen Sachlichkeit eine Hochzeit. Auch sie empfahlen angesichts der veränderten Bedingungen einer im Umbruch wahrgenommenen Zeit ‚kalte‘ Motive und Strategien und grenzten sich mit ihrem Ja zur ‚Kälte‘ von anderen zeitgenössischen Subjekt- und Weltentwürfen ab, die ‚warme‘ und ‚hitzige‘ Konzepte und Verhaltenslehren empfahlen. ‚Kälte-Pop‘ zeigt sich in diesem Zusammenhang als ein spezifisches Subjektmodell, das in der deutschen Kulturgeschichte eine längere Tradition hat und bis in die Gegenwart wirkt.

 

„Kommt, unter der behaglichen Schmusedecke der Subkultur hervorgekrochen und stellt euch der Kälte, die euch wirklich umgibt und vernichtet alle Brücken, vor euch wie hinter euch!“

(Musikjournalist und Szene-Theoretiker Diedrich Diederichsen, 1982)[5]

Die Strategien der ‚Kälte-Pop‘-Künstler:innen stellen eine auf dem Feld der Popkultur ausgetragene Auseinandersetzung bzw. Neupositionierung innerhalb der linken Gegenkultur dar. Statt das gegenkulturell dominante Widerstandsnarrativ fortzuführen und sich in Protest oder Weltflucht zu ergehen, suchten die ‚Kälte-Pop‘-Vertreter:innen die von ihren gegenkulturellen Vorgänger:innen und Altersgenoss:innen angenommene Opferrolle abzuschütteln, indem sie sich die Symbole der modernen Welt aneigneten. Auffälligstes Ergebnis dieser Umdeutung war eine sich als progressiv und links verstehende Underground-Bohème, die Kurzhaarfrisuren und Anzüge nicht als Glorifizierung konservativer Werte begriff, sondern als Mittel gegenkultureller Subversion. Ich habe in diesem Zusammenhang das Modell der ‚78er‘ entwickelt, die postmodernistischen und poststrukturalistischen Ansätzen und Theorien folgten und unter der Prämisse einer Ästhetisierung des Lebens und Politischen mit ihrem ‚Kälte‘-Konzept gegen die als anachronistisch, antimodernistisch und reaktionär verworfenen Ideale, Aktionsformen und Subjektmodelle der ‚alten‘ Linken agierten, zu der sie die sogenannten ‚68er‘, das linksalternative Milieu und die Anhänger:innen der Punk-Kultur gleichermaßen zählten. ‚Kälte-Pop‘ ist sowohl Teil der linken Gegenkultur als auch deren konsequenter Ausgang in Form einer Gegenkultur innerhalb der Gegenkultur, welche die ‚langen siebziger Jahre‘ abschließt und die Ästhetik und Lebenswelt der Postmoderne vorwegnimmt und mitetabliert.

 

“The singing, too, isn’t like rock’n’roll or pop singing […]. It’s sometimes like in a Hitler speech, not a Nazi thing, but it’s in the German character, that CRACK! CRACK! CRACK! way of speaking.”

(DAF-Sänger Gabi Delgado zu seinen deutschen Vocals)[6]

Zudem zeigt sich im ‚Kälte-Pop‘ eines der frühesten und gravierendsten Beispiele für den Anschluss deutscher Pop-Musik an die transnationale Popkultur. Da sie die Pop-Musik der Bundesrepublik als angloamerikanischen Import betrachteten, entwickelten die NDW-Musiker:innen eigene, als spezifisch ‚deutsch‘ initiierte und wahrgenommene Stile und Sounds, die wiederum auf die Impulsgeber:innen in Großbritannien und den USA zurückwirkten. In diesem Zusammenhang inszenierten die Musiker:innen des ‚Kälte-Pop‘ mit dem ‚kalten Deutschen‘ ein weithin wirkungsvolles Bild, das sich perfekt in das außerhalb von Deutschland herrschende Stereotyp des ‚typischen Deutschen‘ fügte.[7] Bis heute bildet diese Betonung vermeintlich nationaler Eigenarten den gängigsten Zugang zur internationalen Popwelt für Gruppen wie Kraftwerk und Rammstein, die nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer deutschen Texte und ihrem charakteristischem Auftreten als ‚typisch‘ deutsche Bands weltweit gefeiert werden. ‚Kalte‘ Musik erscheint vor diesem Hintergrund weit weniger als ein ‚deutscher Sonderweg‘ auf dem Feld der Pop-Musik, sondern als transnationaler Einstieg in die internationale Popkultur – über das Nationale.

 

 

„Ästhetik vor Ethik!“

(Gabi Delgado)[8]

Frontcover des Albums „Monarchie und Alltag“ (1980) von Fehlfarben (Re-release von 2000), Bild: via Discogs.

 

Die ‚Kälte‘-Akteur:innen erprobten neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und subjektiver Lebensentwürfe, insbesondere aber auch neue Formen gegenkultureller Politik, die das Ästhetische über die politische Praxis stellten. Zu den weiteren Effekten des ‚Kälte-Pop‘ zählt unter anderem auch die Initiierung des für die frühen 1980er Jahren typischen Trends zu Elemente ‚kalter‘ Ästhetik wie (glänzendem) Metall, Glas, Neonlicht und militaristischer, streng geschnittener Mode. Damit verbunden hielten mit dem ‚Kälte-Pop‘ Distanz und neue Formen der Rezeption von Pop Einzug in bundesdeutsche Popkultur, die mit Authentizitätsnarrativen brechen und damit erst nachfolgende Phänomene wie die sogenannte Hamburger Schule und bestimmte Formen des Deutschrap möglich machten. Darüber hinaus hatten die Motive der schwarzromantischen ‚Kälte‘-Musiker:innen bedeutenden Anteil an der Etablierung des Kälte-Begriffs in der deutschsprachigen Pop-Musik und daran, dass fragmentierte Identitätsmodelle und Entfremdungserfahrungen nicht ausschließlich mit Kritik und Klage behandelt wurden, sondern als unveränderliche und quasi ‚natürliche‘ Merkmale der postmodernen Lebenswirklichkeit aufgefasst und künstlerisch thematisiert wurden.

 

Buchcover zu Florian Völkers „Kälte-Pop. Die Geschichte des erfolgreichsten deutschen Popmusik-Exports“.

In meiner am 24. Oktober 2023 erscheinenden Monografie „Kälte-Pop. Die Geschichte des erfolgreichsten deutschen Popmusik-Exports“ analysiere ich die ‚Kälte-Welle‘ in der deutschen Pop-Musik am Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre, ihre Motive und Strategien, Rezeption und historischen Bezüge sowie das historische Umfeld ihrer Entstehung. Dabei wird das gängige Vorgehen popthematischer Beiträge, welche sich zumeist auf einzelne Genres, Musik- oder Subkulturen konzentrieren, aufgebrochen und einem immer wieder in der deutschen Musikgeschichte seit den 1970er Jahren auftauchenden Phänomen und den nachfolgenden Erscheinungsformen ‚kalter‘ Musik nachgespürt.

 

 


[1] Siehe Reichardt, Sven: „‚Wärme‘ als Modus sozialen Verhaltens? Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des linksalternativen Milieus vom Ende der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre“, in: Vorgänge, Jg. 44, Nr. 3/4 (2005), 175–187 sowie ders.: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, 189–203.
[2] FSK – Moderne Welt, 1980, 7inch EP „Herz aus Stein“, ZickZack ZZ 6.
[3] Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. Aufl., Göttingen 2010.
[4] Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994.
[5] Diederichsen, Diedrich: „Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenkriegsschauplätze – über Freund und Feind, Lüge und Wahrheit und andere Kämpfe an der Pop-Front“, in: ders. (Hrsg.): Staccato: Musik und Leben, Neuausgabe, Heidelberg 1982, S. 85-101, hier: S. 88.
[6] Delgado in Bohn, Chris: “Not As DAF As They Look”, in: New Musical Express vom 28.06.1980, S. 21.
[7] Vgl. Völker, Florian: „Der kalte Deutsche: Zur Thermoästhetik von Kraftwerk. Ein Kommentar zu den Nachrufen auf Florian Schneider“, in: Zeitgeschichte-online, Mai 2020.
[8] Gabi Delgado während eines DAF-Konzerts am 15.11.2013 im K17, Berlin.