von Roman Woopen

  |  

12. März 2025

Der Dokumentarfilm Das falsche Wort von 1987 ist ein bedeutendes Werk über den nationalsozialistischen Völkermord an Sinti*zze sowie über dessen verweigerte Aufarbeitung in der Bundesrepublik. Nun wurde der Film digital restauriert und zum ersten Mal während der 75. Filmfestspiele in Berlin in der Kategorie Forum Special gezeigt.

Gerahmt wurde die Projektion bei der Berlinale von einer Einführung des Filmmuseums München und einem anschließenden Gespräch mit Carmen Spitta, Tochter der Drehbuchautorin, und Petra Rosenberg, leitende Vorsitzende des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg und Tochter des Holocaustüberlebenden Otto Rosenberg. Das falsche Wort war nach Es ging Tag und Nacht, liebes Kind der zweite gemeinsame Langfilm der Indie-Filmemacherin Katrin Seybold und der Sintezza-Aktivistin Melanie Spitta. Er wurde auf 16 mm gefilmt, zum größten Teil selbst finanziert und feierte 1987 Premiere auf dem Forum Festival in Hamburg. Danach wurde er vor allem in kommunalen Kinos und Filmclubs, nicht in größeren Kinos, und meistens in Anwesenheit mindestens einer der beiden Filmemacherinnen gezeigt. Die Kritik hessischer Sinti*zze, die sich in ihrem Engagement nicht repräsentiert sahen und die Verwendung des rassistischen Begriffs im Film ablehnten, verzögerte die Erstausstrahlung. 

Heute begleitet Carmen Spitta die Filmvorführungen und betont, wie wichtig es ist, solche Veranstaltungen auf Augenhöhe zusammen mit den Nachkommen der Opfer zu gestalten. Sie wurde 1970 in der dritten Generation nach dem NS-Völkermord an Sinti*zze und Rom*nja geboren. Dem sogenannten Samudaripen oder Porajmos fielen zwischen 1933 und 1945 bis zu 500.000 Sint*izze und Rom*nja zum Opfer; nur wenige tausend überlebten. Sint*izze und Rom*nja wurden rassistisch ausgegrenzt und entrechtet, in Zwangslagern festgesetzt, zwangssterilisiert und rassistisch beforscht, durch Zwangsarbeit und in Auschwitz und weiteren Lagern vernichtet. Die Bürgerrechtsbewegung der Sint*izze und Rom*nja kämpfte vermehrt ab den 1970ern-Jahren für die Anerkennung, Erinnerung und Entschädigung des Samudaripen sowie gegen rassistische Kontinuitäten. Erst im Jahr 1982 erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt den Genozid offiziell an. 1987 erschien der Film Das falsche Wort. Carmen Spitta kennt den Film und die Umstände seiner Produktion seit ihrer Kindheit; sie war mit ihrer Mutter Melanie Spitta im Schneideraum und sah als eine der ersten Personen den Rohschnitt. Sie erlebte, wie belastend die Arbeit für ihre Mutter gewesen war, und ist mit deren Recherchen und Aktivitäten in der Bürgerrechtsbewegung aufgewachsen. 2005 verstarb Melanie Spitta.

Bei Interesse einer Filmvorführung sollte Carmen Spitta kontaktiert werden. Das Filmmuseum München kann den Film auf Anfrage digital verleihen und hat vor, eine Edition aller Langfilme von Katrin Seybold und Melanie Spitta herauszugeben, allerdings aufgrund technischer Herausforderungen und finanzieller Engpässe in unklarem Zeitrahmen.

 

Die Überlebenden erzählen

Der Film beginnt und endet mit Melanie Spittas eigener Familiengeschichte. Familienfotos und Porträtaufnahmen werden gezeigt, während sie off-screen erzählt. Die abgebildeten Verwandten können selbst nicht mehr sprechen – fast alle wurden im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz „ausgerottet“, wie Carmen Spitta nach dem Film sagt; ihre Großmutter, Melanie Spittas Mutter, starb an der Tuberkulose aus der Zeit ihrer Internierung in den Konzentrationslagern Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen. Dieser massive Verlust ist die Klammer, in der im Film Sinti*zze Überlebende des Samudaripen von ihrer Leidensgeschichte erzählen. Die Kamera ist den Protagonist*innen sehr nah und auf Augenhöhe, das Setting in ihrem privaten Kontext. Sie erzählen von der nationalsozialistischen Verfolgung, der Festsetzung und Internierung im ersten Zwangslager Berlin-Marzahn, rassistischen Erfassungen in Akten von Polizei und Gesundheitsämtern, von den Zwangssterilisationen, der erzwungenen Beforschung und den Menschenversuchen der sogenannten Rassenhygienischen Forschungsstelle, der Zwangsarbeit, den Deportationen und den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Über die Zeit nach 1945 berichten sie von der sogenannten zweiten Verfolgung, als die ehemaligen Täter und Täterinnen nun die Sachverständigen für ihre „Wiedergutmachungsanträge“ waren, vor Gericht nicht belangt wurden und die Aufarbeitung und Entschädigung blockieren konnten. Der Filmtitel bezieht sich darauf, dass der Begriff „Wiedergutmachung“ für diese verhöhnende Erfahrung der Opfer das falsche Wort ist. Melanie Spitta ordnet die Leidenswege der Zeitzeug*innen in die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Sinti*zze im Nationalsozialismus und dem Überleben und Kampf um Anerkennung ihres Leids nach 1945 mit einer off-screen Kommentierung und den Quellen der Täter und Täterinnen ein. Eine wehmütige Geigenmusik verstärkt an einigen Stellen die Atmosphäre.

 

Die Täterquellen im Blick

Zuschauer*innen sehen die Polizei- und Lagerakten von Verfolgten, die persönlichen Papiere, die ihnen abgenommen, Familienstammbäume, die unter Zwang abgefragt wurden sowie Fotos von rassistischen Vermessungen und pseudowissenschaftliche Abhandlungen. Melanie Spittas off-screen Kommentar rahmt die vielen historischen Quellen der Täter und Täterinnen, während eine zweite off-screen Stimme die längeren Abschnitte liest, die von der rassistischen Ideologie und Tätersprache durchtränkt sind. Die gezeigten Fotos aus dem Blick der Täter und Täterinnen, etwa die, die Rassenforscher und -forscherinnen unter Gewalt von Augenpartien in Nahaufnahme, Profilen usw. gemacht haben, stehen visuell in krassem Kontrast zu den selbstbestimmten Familienfotos und den Aufnahmen der Zeitzeug*innen. Der Entmenschlichung im Nationalsozialismus wird filmisch die menschliche Begegnung gegenübergestellt. Neben der sachlichen Einordnung und den Geschichten der Überlebenden haben auch Melanie Spittas anklagende Spitzen eine große politische Kraft. Verächtlich fragt und zeigt sie, was die Wissenschaft denn mit all dem Zwang und der Gewalt herausgefunden hätte.

Als der Film erschien, hatte die Fülle an gezeigten Akten einen unermesslichen Wert als Beweismittel und Richtigstellung gegenüber den Lügen der Täter und Täterinnen vor Gericht und in den Entschädigungsverfahren. Die Akten waren lange unter Verschluss. Nach 1945 wurden sie weiterhin in den im NS verantwortlichen Stellen, wie den Gesundheitsämtern, gelagert. Erst durch Protest von Sinti*zze und Roma*nja wurden sie 1980 im Bundesarchiv zentral archiviert. Bis auf ein Foto von Eva Justin wurde zuvor kein weiteres Foto der Mitarbeitenden der sogenannten Rassehygienischen Forschungsstelle publiziert.

Mit diesem Film bringen Melanie Spitta und Katrin Seybold die Quellen und die Geschichten der Opfer der Öffentlichkeit. Sie widerlegen damit auch die These der Entschädigungsstellen, die Verfolgung der Sinti*zze im Nationalsozialismus hätte erst ab der KZ-Haft in Auschwitz begonnen und sei nicht auf rassistische Gründe, sondern auf die Kriminalität und „Asozialität“ der Verfolgten zurückzuführen. Der Film erzählt Geschichten, die zuvor nicht nur nicht gehört, sondern auch geleugnet und verhöhnt wurden, er erzählt die Perspektiven der Überlebenden.

 

Der Film heute

Wenn wir den Film heute sehen, gibt uns das die Möglichkeit zu sehen und zu hören, wie die in den 1980er Jahren bereits betagteren Zeitzeug*innen ihre Geschichten erzählen. Der nun digital verfügbare Film hält sie für die Nachwelt fest. Er arbeitet den Samudaripen in sehr verschiedener Hinsicht betroffenenzentriert auf: durch die Lebensgeschichten der Zeitzeug*innen, innerhalb eines von Melanie Spitta in zweiter Generation geteilten Erinnerungsraums, und in der Veröffentlichung und kritischen Einordnung der Täterquellen.

Heute ist der Film durch den zeitlichen Abstand selbst ein Zeitdokument. Gleichzeitig wirkt er noch immer eindringlich und regt zur weiteren Auseinandersetzung mit der Geschichte des Samudaripen und seiner umkämpften Erinnerung an. Nicht zuletzt zeugt er von der zentralen Arbeit zur Anerkennung und Aufarbeitung des Völkermords von Aktivist*innen wie Melanie Spitta in der Bürgerrechtsbewegung der Sinti*zze und Roma*nja, auch wenn die Bewegung nicht explizit thematisiert wird. Melanie Spitta engagierte sich ab 1971 in der Bewegung und vertrat sie beim ersten Welt-Roma-Kongress in London. Jahrzehntelang und teilweise bis heute müssen Sinti*zze und Roma*Romnja für das offizielle Gedenken und die Erinnerungsarbeit kämpfen, während der Rassismus gegen sie, der sogenannte Antiziganismus oder Gadjé Rassismus, und die rassistische Migrations- und Asylpolitik weiter in horrendem Ausmaß wirken. Die Angst, dass sich die Geschichte wiederholt, sowie die Mahnung des Films für die gegenwärtige, brandgefährliche Zeit, teilte auch Petra Rosenberg im Gespräch während der Berlinale.

 

Das falsche Wort (1987)

Regie: Katrin Seybold und Melanie Spitta

Filmmuseum München