Zwei junge Rechtsextremisten verübten in der Nacht auf den 23. November 1992 in der schleswig-holsteinischen Stadt Mölln einen rassistischen Brandanschlag auf zwei Wohnhäuser. Dabei kamen in der Mühlenstraße 9 die zehnjährige Yeliz Arslan, die vierzehnjährige Ayşe Yilmaz, und ihre 51-jährige Großmutter Bahide Arslan zu Tode. Bahide Arslan hatte zuvor den siebenjährigen İbrahim Arslan vor dem Tod bewahren können, indem sie ihn in ein nasses Bettlaken gewickelt hatte. Die weiteren Familienmitglieder konnten sich und die kleinsten Kinder, teils mit schweren Knochenbrüchen, aus ihrem brennenden Haus retten. In der Ratzeburger Straße 13 konnten sich alle 32 Bewohner*innen vor dem Feuer retten, teils mit Verletzungen durch die Flucht aus den Fenstern.
In ihrem neuen Dokumentarfilm Die Möllner Briefe begleitet Martina Priessner Überlebende des rechtsterroristischen Brandanschlags in Mölln am 23.11.1992. Während der 75. Filmfestspiele in Berlin feiert der Film Premiere, wurde mit dem Amnesty International Filmpreis ausgezeichnet und gewann den Panorama-Publikumspreis. Er zeigt, wie in Deutschland um die Erinnerung rechter Gewalt gerungen wird.
Rund 30 Jahre später erfahren die Überlebenden durch Zufall, dass im Stadtarchiv hunderte an sie gerichtete Solidaritäts- und Beileidsbekundungen liegen. Unmittelbar nach dem Brandanschlag erreichten den damaligen Bürgermeister mehrere hundert Briefe zur Weiterleitung an die betroffenen Familien. Darunter sind Kinderzeichnungen, Beileidskarten, Solidaritätsbriefe und Spenden, geschickt von Privatpersonen, Schulklassen, politischen Initiativen, Parteien und Organisationen. „Wir teilen euren Schmerz“ – „Eine beschämte, eine zornige, eine trauernde Deutsche“ – „Wir sind nicht der Meinung, dass dies Einzeltäter sind“ – die Briefe zeugen von tiefer Trauer um die Ermordeten und Anteilnahme am Leid der Überlebenden. Viele ordnen den Brandanschlag in eine post-nationalsozialistische Zeitgeschichte mit andauerndem Rassismus und rechter Gewalt ein. Einige Absender*innen verbünden sich über die eigene Rassismus- und/oder Antisemitismuserfahrung mit den Hinterbliebenen, andere schildern ihr Entsetzen als nicht unmittelbar Betroffene von rechter Gewalt. Doch die Briefe kamen nicht bei ihren Adressat*innen, den Überlebenden des Brandanschlags, an.
Die Stadtverwaltung öffnete damals die Briefe, beantwortete sogar einige. Anschließend archivierten die Mitarbeiter*innen der Stadt Mölln die Briefe – ohne sie den Überlebenden gezeigt zu haben. Gefunden wurden sie von einer Bekannten des Überlebenden İbrahim Arslan, die für eine wissenschaftliche Arbeit im Möllner Archiv recherchierte. Der damalige Bürgermeister lehnt auf Anfragen des Filmteams jegliche Kommentare ab, der bis heute tätige Archivar kann sich den Vorgang nicht erklären, der aktuelle Bürgermeister wirkt teils bemüht, teils ausweichend.

Als Siebenjähriger überlebte İbrahim Arslan den Brandanschlag. Er ist der Hauptprotagonist des Films: Mehr als dreißig Jahre später kontaktiert er einige der Absender*innen und erfährt die Solidarität, die ihm damals verwehrt blieb. Zusammen mit weiteren Überlebenden und der Stadt Mölln bringt er die Übergabe der Briefe an das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) auf den Weg. DOMiD digitalisiert und archiviert sie.
Bis heute ist die Erinnerung an den Anschlag für die Überlebenden ein Kampf in doppelter Hinsicht. Persönlich ringen sie ein Leben lang mit ihren Flashbacks, der Überlebensschuld, Angst und dem Schmerz. İbrahim Arslan ist zum Aktivisten gegen rechte Gewalt und zum zentralen erinnerungskulturellen Akteur des Brandanschlags in Mölln 1992 geworden. Er macht Bildungsarbeit in Schulen, organisiert die jährlichen Gedenkveranstaltungen der Überlebenden in Mölln, gibt Interviews und verbündet sich mit Betroffenen anderer rechtsterroristischer Anschläge. Die parallele Gedenkveranstaltung der Stadt Mölln fand fast drei Jahrzehnte ohne aktive Beteiligung der Überlebenden statt. Ali Aygün, einer der Überlebenden aus der Ratzeburger Straße, schildert, er habe sich bei der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt Mölln wie ein Statist gefühlt. Gegen Ende des Films sehen wir die erste Gedenkveranstaltung, die die Stadt gemeinsam mit und auf der zum ersten Mal auch die Überlebenden der Ratzeburger Straße öffentlich sprechen.
Betroffenenperspektive und Solidarität
Die Möllner Briefe kann als filmischer Beitrag einer Bewegung der Aufarbeitung und des Widerstands gegen rechte Gewalt, Rassismus und Antisemitismus in Deutschland verstanden werden, in der die Opfer rechter Anschläge mit ihren Geschichten und Forderungen in den Vordergrund treten. Angesichts ihrer Erfahrung, politisch und medial nicht gehört zu werden und unsichtbar zu bleiben, ist die Zentrierung von Priessners Film auf die Betroffenen umso bedeutsamer. Denn nach mehreren rechtsterroristischen Anschlägen, auch den NSU-Morden oder in Hanau, mussten die Überlebenden und ihre Unterstützer*innen in hohem Maße selbstorganisiert Aufklärung betreiben, die Erinnerung wachhalten und Konsequenzen fordern, während sie selbst immer wieder Desinteresse und rassistische Kriminalisierung erfuhren.
Ähnliche Dokumentarfilme, die die Betroffenen rechter Anschläge begleiten, sind Mala Reinhardts Film Der zweite Anschlag über den Möllner Brandanschlag, die NSU-Morde und die rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, Julian Vogels Einzeltäter-Trilogie im ZDF zu den rechten Anschlägen in München, Halle und Hanau und der ebenfalls auf der 75. Berlinale präsentierte Film Das Deutsche Volk von Marcin Wierzchowski zum rechtsterroristischen Anschlag in Hanau.

Alle diese Dokumentarfilme eignen sich ein konventionelles Mittel dokumentarischer Formen an, mit dem Deutungsmacht und Expertise verhandelt wird. Als talking heads erfahren hier rassifizierte Menschen Anerkennung für ihre Expertise und Geschichte, die sonst häufig unter- oder verzerrt repräsentiert wird. Wir sehen zentrale, gleichzeitig marginalisierte, Akteur*innen der Erinnerungslandschaft rechter Anschläge. Ihre Perspektive steht im Zentrum und wird in eindrücklichen Nahaufnahmen gezeigt, ohne dass ihnen andere Perspektiven, etwa ein Statement der Politik, entgegengestellt werden. Sie haben kritische Analysen von Rassismus in Deutschland, in denen sie traumatische, persönliche Erfahrungen mit gesellschaftlichen Strukturen verbinden. Regisseurin Martina Priessner und ihr Team haben sichtlich Beziehungsarbeit mit den Protagonist*innen geleistet und in enger Absprache gearbeitet.
Neben der Betroffenenzentrierung ist in diesem Film die Solidarität und der Zusammenhalt gegen rechte Gewalt zentral. Dies entspricht auch İbrahim Arslans Aktivismus für Allianzen gegen Rassismus, Antisemitismus, rechte Gewalt. Etliche Briefe werden gezeigt, die Analysefähigkeit und Mitgefühl ihrer Absender*innen berühren zutiefst. İbrahim Arslan besucht drei der ehemaligen Briefeschreiberinnen – eine weiße, eine Schwarze und eine jüdische Frau. Sie sprechen über ihr Mitgefühl, das sie teilweise im Alter von 12 Jahren bekundet haben, und wie verbunden sie in der eigenen Rassismus- oder Antisemitismuserfahrung mit dem Schmerz über den Brandanschlag sind. Sie sind diejenigen, die İbrahim Arslan zuhören, ihm ihre Solidarität aussprechen und ihn sichtlich stärken. Engagierte Einzelpersonen und zivilgesellschaftliche Bündnisse zeigen im Film eine Präsenz, die seitens der Politik fehlt.
Kritisches Erinnern
Das Möllner Stadtarchiv war ein Ort des Verschwindenlassens – und des institutionalisierten Rassismus, so Regisseurin Martina Priessner während der Berlinale. Es hat dazu beigetragen, die Solidarität mit den Überlebenden und die Kritik rechter Gewalt unsichtbar zu machen, die die Welt für die Überlebenden bedeutet und eine gesellschaftliche Kraft hätte entfalten können. Das Archiv von DOMiD hingegen wird zum Ort des engen Austauschs mit den Überlebenden, der tiefen Anerkennung und des Mitgefühls sowie der digitalen Sichtbarmachung der Geschichte.
In der Begegnung der Protagonist*innen werden deren verschiedene Bezüge zur Geschichte des Anschlags und ihr verschiedener Umgang mit dieser deutlich. Die Überlebenden, die Briefeschreibenden, der aktuelle sowie in Abwesenheit der damalige Bürgermeister, der Archivar der Stadt Mölln, die Mitarbeiter*innen des Migrationsmuseums DOMiD werden als Akteur*innen der gegenwärtigen Erinnerungslandschaft betrachtet. Mühelos und doch eindringlich berührt der Film damit geschichtsphilosophische Fragen rund um das Erinnern und Vergessen, Gedenken, Bewahren, Sammeln und Erzählen von Geschichte.
Den Überlebenden ist die Geschichte des Brandanschlags in den Körper und die Psyche eingeschrieben. Sie können nicht vergessen und die Erinnerung ist schmerzhaft. Wir sehen im Film, wie sich Namık Arslan das brennende Haus und die Zahlen 1992 auf den Arm tätowieren lässt. İbrahim Arslan als zentraler Akteur der Erinnerungs-, Gedenk- und Bildungsarbeit widmet diese den Verstorbenen.
Die Möllner Briefe lässt sich auch als Aufruf für kritische Geschichte, Archiv- und Erinnerungsarbeit verstehen, marginalisierte Erinnerungen sichtbar zu machen und den Zeitzeug*innen mit Respekt zu begegnen, die diese Geschichte bis heute gewaltvoll betrifft.
Die Möllner Briefe (2025)
Regie Martina Priessner, Deutschland