von Jessica Bock

  |  

3. September 2019

„Ostfrauen verändern die Republik“, jubeln Tanja Brandes und Markus Decker,[1] „Oh Ostmann!“ seufzt der ZEIT-Journalist Martin Machowecz – in den medialen Debatten zum Stand des deutsch-deutschen Einigungsprozesses und in der ostdeutschen Transformation spielt die Kategorie Geschlecht eine wesentliche Rolle. Was auf den ersten Blick klischeebehaftet wirkt, wirft dennoch gleichzeitig die Frage auf, warum neue Forschungen zur Transformation Frauen und Geschlechterverhältnisse erneut kaum beachten. Bereits in den 1990er Jahren spielten die Frauen und Geschlechterverhältnisse innerhalb der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung eher eine marginale Rolle. Es war vor allem die interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, die die Auswirkungen des Systemwechsels in der früheren DDR in den Blick nahm. Die Fülle der bis in die frühen 2000er Jahre entstandenen Forschungen trug Karin Aleksander in ihrer Bibliographie „Frauen und Geschlechterverhältnisse in der DDR und in den neuen Bundesländern“ zusammen.[2]

 

Geschlecht – ignoriert und marginalisiert

Vor allem feministische Politikwissenschaftlerinnen kritisierten die Abwesenheit der Kategorie Geschlecht in den angewandten Transformationstheorien. Diese konzentrierten sich fast ausschließlich auf politische und wirtschaftliche Institutionen und Eliten – zwei Bereiche, in denen Frauen in der DDR unterrepräsentiert waren. Der Alltag und das Privatleben galten als vermeintlich unpolitische Bereiche und waren für die Forschung wenig relevant. Forscherinnen wie Christiane Lemke verwiesen darauf, dass für die Untersuchung der fundamentalen Umstrukturierung im öffentlichen und privaten Bereich wie Familie und Identität, die Kategorie Geschlecht unverzichtbar sei.[3]

Ein weiterer Kritikpunkt bezog sich auf den von der Transformationsforschung verwendeten Demokratiebegriff. Feministische Politikwissenschaftlerinnen wie Birgit Sauer, Eva Kreisky und Barbara Wicha plädierten für einen Demokratiebegriff, der die Geschlechterverhältnisse miteinbezieht.[4] In diesem Zusammenhang verwiesen sie auf ein wesentliches Versäumnis der Transformationsforschung: Die Frage, ob und inwieweit das importierte westliche Demokratie- und Wirtschaftsmodell bestehende Ungleichheiten fortschrieb und verfestigte, wurde in den empirischen Studien bislang nie gestellt.[5]

Die hier skizzierte Kritik an der Marginalisierung von Frauen und Geschlechterverhältnissen in den Transformationsprozessen ist nach wie vor aktuell. Jedoch können sich die neuen Studien zur Transformation dabei nicht nur auf die Frauen konzentrieren. Erstaunlicherweise bildet ‚der Ostmann‘ bislang ein Desiderat. Offen ist die Frage, wie die tiefgreifenden Wandlungen und Entwertungen sich auch auf das Rollenverständnis der Männer ausgewirkt haben. Inwieweit kann die Transformation auch als ein Prozess der „Entmaskulinisierung“ verstanden werden? Oder trug der Wandel von einem patriarchalen Sozialismus hin zum patriarchalen Kapitalismus zu einer Verfestigung einer hegemonialen Männlichkeit in Ostdeutschland bei?

 

Frauen als Akteurinnen des Wandels

Eine neue kritische ostdeutsche Transformationsforschung sollte frauenspezifische Erfahrungen, Konzepte und Handlungsstrategien in den Mittelpunkt rücken. Auf diese Weise werden Frauen als Handelnde und Gestalterinnen des allumfassenden Wandels und des Demokratisierungsprozesses sichtbar. Für die empirische Unterfütterung dieser Perspektivenverschiebung bieten insbesondere die Frauen-/Lesbenarchive, -bibliotheken und Dokumentationsstellen in den neuen Bundesändern bislang kaum beachtetes, aber dennoch wertvolles Quellenmaterial.[6] Einrichtungen wie die feministische Bibliothek MONAliesA, die Genderbibliothek an der Berliner Humboldt-Universität oder das Frauenstadtarchiv Dresden haben jüngst durch Projekte im Rahmen des Digitalen Deutschen Frauenarchivs (DDF) zahlreiche Archivalien eingeworben und erfasst, die der historischen Transformationsforschung nun zur Verfügung stehen. Die Bestände umfassen unterschiedliche Materialien wie zum Beispiel Dokumentationen von und über Frauengruppen vor und nach 1989, Statistiken und Berichte kommunaler Gleichstellungsbeauftragter, Plakate, Fotos, Broschüren und Zeitschriften sowie Interviews. Anhand dieser Materialien können Aussagen darüber getroffen werden, wie Frauen nach 1990 mit der Etablierung einer lokalen wie regionalen feministischen Infrastruktur einen wesentlichen Beitrag für den Aufbau einer (geschlechtergerechten) Zivilgesellschaft geleistet haben und auf welche alten und neuen Widerstände sie dabei gestoßen sind. Eigene, selbstbestimmte Politik und Räume von und für Frauen waren auch nach 1989/90 in Ostdeutschland keine Selbstverständlichkeit.

Zugleich wurden zahlreiche Dokumente innerhalb der DDF-Projekte digitalisiert. Dazu gehören beispielsweise 130 Interviews mit Frauen der Generationen 1920-1960 über ihr Leben im Sozialismus, die vom Ost-West-Europäischen FrauenNetzwerk (OWEN) im Rahmen des internationalen osteuropäischen Projekts "Women's Memory" zwischen 1998 und 2002 geführt wurden. Mit Hilfe dieser Materialien können zum Beispiel die Transformation der Geschlechterverhältnisse aus Zäsur übergreifender Perspektive untersucht und die Prägungen und Erfahrungen von Frauen vor Gründung der DDR berücksichtigt werden.

 

Im Zuge der Neuaufstellung der ostdeutschen Transformationsforschung bietet sich die Gelegenheit, beide Forschungsbereiche, feministische und Geschlechterstudien und Transformationsforschung, zusammenzuführen. Die Geschlechterforschung und die Archive der feministischen Bewegungen bieten Theoreme und Materialien, die neue Perspektiven und Erkenntnisse auf Geschlechterordnung und Strukturbrüche nach 1990 in Ostdeutschland ermöglichen.

 


[1] Mittschnitt des rbb der Buchpremiere „Ostfrauen verändern die Republik“ von Tanja Brandes und Markus Decker am 25.3.2019 im Berliner Pfefferbergtheater [zuletzt abgerufen am 2. September 2019].
[2] Aleksander, Karin (2005): Frauen und Geschlechterverhältnisse in der DDR und in den neuen Bundesländern. Eine Bibliographie, Berlin: trafo-Verlag.
[3] Lemke, Christiane (1996): Frauen und Politik in den Transformationsprozessen, in: Lemke, Christiane et. al. (Hg.): Frauenbewegung und Frauenpolitik in Osteuropa, Frankfurt am Main; Campus-Verlag, S. 15-33, hier: 17 f.
[4] Kreisky, Eva (1996): Vom patriarchalen Staatssozialismus zur patriarchalen Demokratie. Der politische Systemwechsel in Osteuropa aus der Gender-Perspektive, in: Kreisky, Eva (Hg.): Vom patriarchalen Staatssozialismus zur patriarchalen Demokratie Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, S. 7-22. Sauer, Birgit (1996): Transition zur Demokratie? : die Kategorie "Geschlecht" als Prüfstein für die Zuverlässigkeit von sozialwissenschaftlichen Transformationstheorien, in: Kreisky, Eva (Hg.): Vom patriarchalen Staatssozialismus zur patriarchalen Demokratie Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, S. 131-167.
[5] Wicha, Barbara (2000): Frauen als Opfer von Wende und Transformation, in: Elizabeth Wolfgruber / Petra Grabner (Hg.): Politik und Geschlecht. Dokumentation der 6. Frauenringvorlesung an der Universität Salzburg WS 1999/2000, Innsbruck, S. 223-248, hier: 228.
[6] Hierzu mehr bei: Anja Schröter und Clemens Villinger, Anpassen, aneignen, abgrenzen: Interdisziplinäre Arbeiten zur langen Geschichte der Wende, in: Zeitgeschichte-online, März 2019  und: Anja Schröter, Geteilt und vereint. Frauenbilder in Ost und West, in: Zeitgeschichte-online, März 2019 [zuletzt abgerufen am 2. September 2019].