Stephan Müller ist Historiker, er betreibt das Geschichtsbüro Müller. Seit 2016 organisiert und konzipiert er neben anderen Filmfesten jährlich das (jeweils komplett ausverkaufte) Filmfestival Prenzlauerberginale. Seit drei Jahren wird das Filmfest vom Berliner Aufarbeitungsbeauftragten gefördert. Das Filmfest hat wechselnde und feste Kooperationspartner wie die Robert-Havemann-Gesellschaft, den Geschichtsverein Nord-Ost und fleischfilm.com.
zeitgeschichte|online: Warum braucht der Prenzlauer Berg ein eigenes Filmfestival?
Stephan Müller: Es braucht ein Filmfestival zum Prenzlauer Berg, weil gerade zwischen 1961 und 1989 dort viele Filme gedreht wurden. Zum Beispiel „Solo Sunny“ (1980, von Konrad Wolf und Wolfgang Kohlhaase), „Berlin -Ecke Schönhauser ...“ (1957, Wolfgang Kohlhaase) oder auch „Die Legende von Paul und Paula“ (1973, von Heiner Carow), drei der berühmtesten DEFA-Filme, die in Prenzlauer Berg gedreht wurden. Filmemacher, Künstler und Journalisten haben in Prenzlauer Berg gearbeitet und gewohnt. Es liegt nahe, dort zu drehen, wo man wohnt und wo man Netzwerke hat. Der Prenzlauer Berg war Ort ihrer jeweils eigenen Lebenswelt, daher wussten sie, welche Kulisse sich beispielsweise für eine bestimmte Szene aus einer Romanverfilmung eignete. Es gab also viele Spielfilme, die in Prenzlauer Berg spielten, aber auch für Dokumentarfilmer war der Stadtbezirk interessant. Mit beispielsweise "Einmal in der Woche schrein", "Die Kollwitz und ihre Kinder" und natürlich "Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann" sind spannende Dokumentationen entstanden. Das Material ist also reichhaltig vorhanden, ein Filmfest bietet sich aus Sicht von Historikern an. Dass das über so viele Jahre viele Besucher so sehen, freut uns natürlich sehr.
zeitgeschichte|online: Die sieben (bzw. ohne Zusatzvorstellungen fünf) Vorstellungen der Prenzlauerberginale finden im Filmtheater am Friedrichshain also in Friedrichhain statt. Gab es denn kein Kino in Prenzlauer Berg, das die Filme hätte zeigen können?
Müller: Was den Veranstaltungsort angeht, haben wir eine kleine, den Bedarfen angepasste Reise hinter uns. 2016 war das Museum Pankow Veranstaltungsort der ersten Festivalausgabe, was aber auch im Pankower Ortsteil Prenzlauer Berg steht. Der riesige Zuspruch hat uns damals überrascht. Deshalb war klar, die nächste Ausgabe müsste in einem professionalen Kino stattfinden, das benachbarte Babylon war von der Struktur und der Größe optimal. Seit drei Jahren ist das Filmtheater am Friedrichshain nun unser Veranstaltungsort. Der namensgebende Volkspark Friedrichshain liegt direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Der Name des Kinos deutet nicht darauf hin, aber das Filmtheater am Friedrichshain gehört noch zu Prenzlauer Berg.
zeitgeschichte|online: Dieses Jahr findet das Festival zum achten Mal statt. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Müller: Ich freue mich am meisten auf das Programm des zweiten Abends. Der Film „Es war einmal in Ostberlin...“ (1990, von Cathie Levy) wurde direkt nach der Wende gedreht und 1991 ein einziges Mal im Deutschen Fernsehfunk ausgestrahlt. Deshalb kennt ihn niemand und er ist daher sicher ein Geheimtipp. Im Frühjahr 1990 hat die französische Regisseurin Cathie Levy dafür wirklich tolle Menschen interviewt, die über ihre Befürchtungen und ihre Hoffnungen für die Zukunft sprechen und zudem kleine Rückblicke gestatten.
zeitgeschichte|online: Am 3. September eröffnete das Festival mit dem Film: „Berlin-Prenzlauer Berg - Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990“ von Petra Tschörtner. 2019 hatten Sie den Film schon einmal im Programm. Warum haben Sie sich für diesen Film als Eröffnungsfilm entschieden?
Müller: In den ersten Festivaljahren hatten wir keine Wiederholungen in der Filmauswahl. Aber dieses Jahr passt der Film wieder gut in unser Programm. Wir haben uns in diesem Jahr programmatisch an dem 35. Jubiläum des Mauerfalls am 9. November orientiert. Zudem haben wir diesmal einen Fokus auf die Jugend in Prenzlauer Berg und in Ostberlin gerichtet. Petra Tschörtners Dokumentarfilm beobachtet den Alltag der Bewohner des Prenzlauer Bergs - vor allem junge Menschen - wenige Monate nach dem Mauerfall. Da passt der Film gut rein, außerdem ist es ein fantastischer Film, der mit zeitlichem Abstand immer besser wird.
zeitgeschichte|online: Die Filme dieser Festivalausgabe drehen sich also um das Leben der Menschen in Prenzlauer Berg vor und um die Wende. Wie haben Sie die Filme ausgewählt?
Müller: In den ersten Jahren des Festivals habe ich Filme ausgewählt, die mir gut gefallen haben – ohne konkretes Konzept. Das hat sich irgendwann geändert. In diesem Jahr standen die Themen Jugend und Mauerfall im Fokus – dazu haben wir viele Dokumentationen ausgewählt. Deshalb drehen sich die Filme automatisch um das Leben im Kiez – mit jeweils anderen Blickwinkeln. Es gibt Kurzfilme über Gewalt und rechte Tendenzen von Jugendlichen sowie die rechtsextreme Szene in Prenzlauer Berg nach dem Mauerfall, hinzu kommen kurze Beiträge, die sich schon künstlerisch mit der neuen Lebenswirklichkeit im Szenekiez auseinandersetzen. Am dritten und vierten Abend sind wieder Filme der Staatlichen Filmdokumentation (SFD) im Programm. Dort zeigt sich die DDR stark propagandafrei, die Filme hat aber kein DDR-Bürger zu Gesicht bekommen. Sie wanderten stattdessen umgehend ins Archiv und sollten erst gezeigt werden, wenn die genannten Probleme im Alltag, beim Wohnen und auf der Arbeit überwunden sein würden, es sind also "Filme für die Zukunft", wie Anne Barnert sie in ihrer Publikation nennt. Zwei weitere Filme beschäftigen sich mit kriminellen Jugendliche in den Siebzigerjahren. Der letzte Film ist ein Rückblick auf eine bestimmte Gruppe in Prenzlauer Berg, nämlich die der Künstlerinnen und Künstler.
zeitgeschichte|online: Inwiefern zeigen die Filme den Kiez und seine Bewohner mit allen Ecken und Kanten?
Müller: Filme zeigen immer nur Ausschnitte. Beispielweise das Programm des dritten Abends über jugendliches Fehlverhalten fokussiert überwiegend Jugendliche aus dem Arbeitermilieu. In einem der Filme haben sie die Möglichkeit, sich stark vor der Kamera zu präsentieren, sie zeigen viel von ihrem Leben, das sehr weit entfernt ist vom sozialistischen Menschenbild, das die SED dauerhaft propagierte. Im anderen Film kommen die Jugendlichen gar nicht zu Wort. Sie werden vor Gericht gezeigt - sicherlich nicht mit ihrem Einverständnis - und müssen herhalten als Beispiel für Menschen, die vom Wege abgekommen sind. Der sozialistische Staat, so die Aussage des Films, mit seinen wirkungsvollen Instrumenten, wird aus ihnen aber wieder vollwertige Mitglieder der Gesellschaft machen. Auch die beiden Filme, die nach dem Mauerfall gedreht wurden, zeigen zahlreiche Personen mit starken Meinungen, bei manchen ist man überrascht, dass sie schon so kurz nach dem historischen Ereignis die langfristigen Folgen des Mauerfalls so gut vorhersehen können.
zeitgeschichte|online: Inwiefern schürt das Filmfestival auch „Ostalgie“?
Müller: Die Schwarz-Weiß-Bilder der Filme, die wir heute schön finden, hatten in den 70er-Jahren vermutlich eine andere Wirkung. Vor allem bei den abgefilmten Straßen von damals fällt auf, dass nicht so viel Sachen am Straßenrand herumstehen. Heute stehen überall Stadtmöbel, die Filme wirken daher sehr aufgeräumt. Wenn wir uns die U-Bahn-Fotos des Fotografen Ulrich Wüst anschauen, dann sehen wir das Häuschen für die Abfertiger und eine Bank, aber sonst steht da nichts. Wenn man heute dieselbe U-Bahn-Station betritt, finden wir mehrere riesige Ticket-Automaten, viergeteilte Mülleimer, eine Notrufsäule, automatisch drehende Leuchtreklame, Snackautomaten und selbstverständlich sind auch die Seitenwände komplett mit Werbetafeln übersät.
zeitgeschichte|online: Also doch Ostalgie, früher war alles besser?
Müller: Ich will nicht ausschließen, dass einige Menschen im Publikum die Filme auch mit einer Prise Wehmut anschauen. Ich glaube aber nicht, dass das für die Mehrheit der Zuschauer das vorherrschende Moment der Rührung ist. Jede Person sieht etwas anderes in den Filmen. Zuschauer können Ostalgie in die Filme hinein interpretieren, was immer das auch sein mag. Ich glaube aber, dass die Alten ihre Jugend sehen, die Jüngeren und die Zugezogenen, sehen ihre aktuelle Lebenswelt in einem anderen Gewand, der Unterschied ist schon riesengroß: hier Kohleofen, unebene, kopfsteingepflasterte Hauptstraßen mit stinkenden Kleinwägen aus denen Menschen mit komischen Klamotten aussteigen, dort ein Stadtteil mit durchsanierten Wohnungen, Tiefgaragen in Neubauten, in denen Elektroautos stehen, Restaurants, Bioläden und Touristen in riesiger Zahl, zudem ein massives Gentrifizierungsproblem. Auch unsere Gespräche über die Filme wirken einer heimeligen Ostalgie entgegen. Dafür haben wir nach den Vorstellungen Filmemacher, Zeitzeugen und Experten eingeladen.
zeitgeschichte|online: Wenn der Film das positive Bild nicht hinterfragt und die Zuschauer*innen zum Nachdenken anregt, dann helfen die Gäste hinterher dabei zu kontextualisieren?
Müller: Die Filme des diesjährigen Programms hinterlassen bei den Zuschauern sicher nicht das Gefühl, hach, damals war alles super und schön. Auch der Film „Poesie des Untergrunds“ über die Künstlerszene in Prenzlauer Berg ist ganz gewiss nicht nur schön. Sicher haben die Künstler gerne in Prenzlauer Berg gewohnt, aber nur in diesem Rahmen, der Nische, die sie sich eingerichtet hatten. Zum Beispiel ist der Fotograf Harald Hauswald aus seiner Heimat, dem sächsischen Radebeul, in den Prenzlauer Berg gezogen, weil dort die Freiheiten noch am größten waren. Aber ein Paradies war es ganz sicher nicht.
zeitgeschichte|online: Sie sind gebürtiger Oberhausener. Erst nach der Wende sind Sie nach Berlin in den Prenzlauer Berg gezogen. Woher kommt die Faszination für den Berliner Kiez?
Müller: Ich bin mit Mitte zwanzig nach Berlin gekommen, die Großstädte an der Ruhr sind Stadt und Dorf zugleich. Sie haben aber eine konstante Ordnung, dies hatte Ostberlin 1996 noch nicht so sehr. Es gab noch Bars, die durch irgendwelche Kellerluken betreten wurden, Gras kaufte man auf der Straße und nicht in Holland, nebenher ging man zur Uni und ein wenig arbeiten, um die günstige Miete zahlen zu können. Es gab kleine Läden, die nur kurz existierten, die Leute hatten Platz und haben etwas ausprobiert. Natürlich war Berlin - und für mich vor allen Dingen der Prenzlauer Berg - ein Rausch und ein Großstadtrauschen. Irgendwann vermischte sich das dann aber mit der Geschichte der Stadt, für mich kann ich das sicher festmachen am Stadtbad Oderberger Straße. Die Arbeit in der Genossenschaft dort war sicher das Sprungbrett zur Geschichte des Bezirks für mich. Der Umstand, im Krieg nur wenig zerstört worden zu sein, im Osten nicht unter der Westberliner Kahlschlagsanierung gelitten zu haben und - dank der Wende - der geplanten Ostberliner Kahlschlagsanierung entgangen zu sein und gleichzeitig die Häuser vor dem völligen Verfall retten zu können, ist vielleicht das größte Glück des Prenzlauer Bergs, wenn die aktuelle Gentrifizierung dies nicht schon verbietet.
zeitgeschichte|online: Was genau fasziniert Sie am Prenzlauer Berg?
Müller: Der Prenzlauer Berg hat unabhängig vom Systemwechsel eine stürmische Veränderung durchgemacht – und mein Leben ist dem ja auch unterworfen, wenn auch erst seit Mitte der Neunzigerjahre. Ich kann Menschen verstehen, die bedauern, dass es die Welt von damals nicht mehr gibt, auch wenn die Erinnerung immer selektiv ist. Vielleicht kann ich es gerade deshalb verstehen, weil es im Ruhrgebiet ebenfalls massive Veränderungen gab, auch wenn sie sich nicht so abrupt vollzogen haben wie in Ostberlin: Wohlhabende Städte mit riesigen Bodenschätzen, der Motor des westdeutschen Wirtschaftswunders, in denen sich binnen weniger Jahrzehnte die Welt komplett verändert hat, deren Wirtschaftsgrundlage komplett weggebrochen ist: Gelsenkirchen, die "Stadt der tausend Feuer", deren Wohlstand für mindestens ein weiteres Jahrhundert mit Stahl und Kohle fest gesichert schien, findet sich heute in allen Statistiken irgendwo am Ende wieder, alle anderen Ruhrstädte nur kurz davor, meist hinter Erfurt, Jena oder Leipzig. Auch diese Welt gibt es also heute nicht mehr.
zeitgeschichte|online: Sie wohnen seit fast 30 Jahren in Prenzlauer Berg. Was hat sich verändert?
Müller: Sicher vieles, festmachen lässt sich das aber vielleicht am besten an der Verdrängung der Klubs, was vielleicht vor fünfzehn Jahren einsetzte und schnell abgeschlossen war. Ebenfalls gingen die Mieten durch die Decke. Das habe ich lange ignoriert – vielleicht wollte ich das auch nicht wahrhaben. Mein Umfeld hat diesen Prozess glaube ich, viel früher erkannt. Ich habe Fotos aus der Zeit, in der ich in den Prenzlauer Berg gezogen bin. In der Straße, in der ich wohne, war damals vielleicht ein Haus saniert. Seit vielen Jahren sind selbstverständlich alle Häuser der Straße saniert. Menschen, die heute in den Prenzlauer Berg ziehen, erleben den Kiez bestimmt anders als ich. Die Sicht der wenigen heute Anfang 20-jährigen Studentinnen und Studenten, die in Prenzlauer Berg leben, kenne ich beispielsweise gar nicht.
zeitgeschichte|online: Könnten Sie sich vorstellen, auch irgendwann einmal aus dem Prenzlauer Berg zu ziehen?
Müller: Nein. Es kann natürlich sein, dass ich selbst irgendwann einmal weggentrifiziert werde. Aber ob ich mir einen Umzug dann vorstellen kann, ist fraglich. Mein Wunsch ist das nicht! Für mich geht es weniger um den Prenzlauer Berg als um die drei Straßen um die Schönhauser Allee herum, in denen ich mich im Alltag bewege. Das ist dann doch auch wieder das Dorf in der Stadt.
zeitgeschichte|online: Welcher Ort ist ihr Lieblingsort in Prenzlauer Berg?
Müller: Im Verlauf der Jahre wechselten meine Orte in Prenzlauer Berg, in denen ich mich gerne aufgehalten habe. Berlin und der Prenzlauer Berg sind sehr urban, was mir gut gefällt. In der Provinz gibt es viele hochgeklappte Bordsteine, dauerhaft auf dem Land zu wohnen, wäre ein großes Leid, ein schreckliches Schicksal.
Die Prenzlauerberginale findet seit 2016 statt. Die Vorführungen sind dieses Jahr an jedem Dienstag im September im Filmtheater am Friedrichshain. Das vollständige Programm finden Sie hier.