Der Regisseur steht auf einem kleinen Bahnhof am Gleis und verzweifelt höchst theatralisch daran, dass er wegen des starken Zugverkehrs – keiner hält, alles fährt durch Bahnhof und Bild – nicht dazu kommt, einen Text zu verlesen, den er in der Hand hält. Schnitt: Es ist ruhig, niemand sitzt mehr im Wartehäuschen, der Verkehr ruht, die Kamera beschreibt ein Panorama von nahezu 360°.
Claude Lanzmann erklärt den Bahnhof, seine Lage und seine Funktion als Station für die Juden, die nach Theresienstadt deportiert wurden; und erst dann liest er den Text, den er die ganze Zeit in der Hand hält, eine Passage aus Benjamin Murmelsteins Buch über Theresienstadt.
Murmelstein als dem einzigen Überlebenden, dem „Judenältesten“[1] eines deutschen Konzentrationslagers ist der ganze Film gewidmet, und im größten Teil besteht er aus einem Interview, das Claude Lanzmann mit ihm im Jahr 1975 auf einer römischen Dachterrasse sowie im Inneren seiner Wohnung führte. Soweit ist dieser Film ein – möglicherweise letzter – Teil des großen Filmprojekts SHOAH, das den Autor und Regisseur Lanzmann mehr als die Hälfte seines Lebens verfolgte.
Doch der Anfang macht gleich mehrere Ebenen des Verstehens klar, die Claude Lanzmann bei der Betrachtung seiner Arbeit fordert: Er knüpft nicht unmittelbar bei der Erzählung von SHOAH an, und er sieht sich als Künstler, also ist seine Arbeit in erster Linie Kunst, nicht nur Dokumentation. Diese Haltung war schon im SHOAH-Projekt zu erkennen, vor allem, wenn man versucht die neunstündige Arbeit in einem Stück zu sehen. Diese Haltung wird im Verlauf des Films, der ja nicht die erste Ergänzung des SHOAH-Projekts ist, überdeutlich. Dafür hat der Regisseur gute Gründe: Zum einen sind viele Details der Geschichte des Holocaust selbstverständliches Wissen geworden, andere sind dafür vergessen. Die Rolle des „Judenältesten“ kennen nur noch wenige Menschen. Gleichzeitig ist diese Funktion nicht mehr derart negativ besetzt wie in den Schriften von Gershom Scholem und Hannah Arendt, hatten doch Scholem und Arendt die „Judenältesten“ mit dem Begriff des Verräters gleichgesetzt. Claude Lanzmann muss nun vor allem mit dieser Ergänzung des SHOAH-Projekts eine Revision seines Geschichtsbegriffs vornehmen, keine leichte Aufgabe.
Der Film wird seinem Gegenstand durch den Aufbau dreier Zeitebenen gerecht. Die Erzählzeit des heutigen (2013) Regisseurs und der von ihm besuchten Landschaften wird direkt mit der Zeitebene des Interviews im Sommer 1975 konfrontiert, wobei die Unmittelbarkeit der direkten, oft zynisch unterlegten Sprache Murmelsteins die vierzig Jahre vergessen lässt, die zwischen diesen beiden Zeitebenen liegen. Die dritte Zeitebene ist einerseits die historische Folie des gesamten Dokuments und der von ihr evozierten Erinnerung, wird aber andererseits von eingestreuten Filmfragmenten und Fotografien hergestellt. Diese dritte Ebene nimmt vom Umfang her den geringsten Raum im Film ein, wird aber so unmittelbar eingefügt, dass sie als Schock wirken kann. So hat Lanzmann kaum die „verkehrte Welt“ aus Murmelsteins Buchmanuskript zitiert und das Gespräch mit ihm angefangen, da wird ein Stück aus jenem perfiden Propagandafilm gezeigt, der später den vollkommen falschen Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ erhielt. Die Ausschnitte sind im Original mit Musik unterlegt – ein Teil aus der Wiener Klassik, der andere ein jazziger Swing –, dies sind die einzigen Musikstücke im ganzen Film.
Wie immer in Lanzmanns Filmen braucht das Interview eine lange Zeit, um sich auf den eigentlichen Gegenstand hin zu entwickeln, und es dauert rund 70 Minuten, bevor Murmelstein das erste Mal auf Térezin (Theresienstadt) zu sprechen kommt. In der ersten Stunde des Films wird überhaupt mehr vom Regisseur vorgelesen, vor allem Texte von Benjamin Murmelstein zu Themen, die im Interview – aus welchen Gründen auch immer – keine Rolle gespielt haben. Das Interview hat einen eigenen Spannungsbogen, von dem fast fröhlichen Anfang, in dem Murmelstein seine historische Rolle reflektiert, über die langen Erzählungen aus der Wiener jüdischen Gemeinde in den Jahren 1938 und 1939 bis zu den Ereignissen unmittelbar vor Murmelsteins Deportation nach Térezin, bei denen er ungehalten auf Nachfragen Lanzmanns reagiert.
Die historische Ebene dieses Interviews wird während der ganzen Zeit vor allem in einem Detail festgehalten: Der Regisseur raucht Kette.
Die Ereignisse im Ghetto werden durch schnellere Schnitte dramatisiert, Lanzmann führt mit einem längeren Spaziergang zu den Stätten grausamer Verbrechen wie der Ermordung von Murmelsteins Vorgänger Paul Eppstein. Im Interview wiederum verschiebt sich der Fokus der Kamera: Murmelstein spricht nun direkt in die Kamera, beginnt sich zu rechtfertigen, erscheint oft dünnhäutig trotz der massigen Gestalt seines Gesichts, das nun fast den ganzen Bildrahmen füllt. Breiten Raum nehmen seine Bemühungen ein, die Sichtbarkeit von Térezin für die Rettung der ihm anvertrauten Menschen zu nutzen – da fallen dann Sätze wie „Man muss sich prostituieren“ oder dass er sich konstant „zwischen Gaskammer und Rotem Kreuz“ bewegt habe. Der Film endet mit einer langen Sequenz, die im Forum Romanum gedreht wurde: Hier wird die historische Bedeutung der Taten Benjamin Murmelsteins abgemessen; er selbst bezeichnet sich als „Dinosaurus auf der Autobahn“, der dem Verkehr des historischen Verständnisses im Weg steht. An dieser Stelle wird das Urteil Gershom Scholems, dass Murmelstein gehängt werden sollte (aber Eichmann nicht), hervorgeholt und mit trockener Ironie als „kapriziös“ abgetan, worauf dem Filmemacher nichts Besseres einfällt als die Bezeichnung Murmelsteins als „Tiger“, und das bei einem Schwenk über antike Straßen.
Claude Lanzmann hat das Interview dieses Films im Jahr 1975 gedreht, also relativ früh während seines zwölfjährigen SHOAH-Projekts. Dass er knapp vier Jahrzehnte gewartet hat, bis er dieses Interview zu einem Film verarbeitete, erklärt er selbst damit, dass er weder die Rolle des „Judenältesten“ noch den Umgang Murmelsteins mit dieser Rolle in den SHOAH-Film integrieren konnte. Ähnliches ist über die drei vorherigen Ergänzungen zu SHOAH zu sagen, und doch ist dieser Film ganz anders, auch und gerade in seinem historischen Anspruch – und als Kunstwerk. Lanzmann führt hier mit seinem Lebenswerk vor, dass sich Geschichte durch ihre Betrachtung und durch die Kommunikation über sie verändert, und zwar auch – oder gerade – bei so grundlegenden Themen wie der Historisierung des Holocaust. Aber auch die Kunst hat sich verändert: Ist die erste Fassung von SHOAH in Montagetechnik und formaler Struktur noch dem Nouveau Roman in der Literatur oder dem Nouveau Réalisme in der bildenden Kunst verpflichtet – und war sie in dieser Hinsicht 1985 schon etwas aus der Zeit gefallen –, so hat sich der Begriff des Dokumentarischen in der Kunst so weit verändert, dass ihm nur noch mit der Kategorie des Narrativ beizukommen war. Für die jüdische Filmgeschichte, insbesondere für die Fragmente zu Theresienstadt, ist dies sicher das Verdienst von Ronny Loewy[2], der den Film nicht mehr sehen konnte und im Nachspann hätte berücksichtigt werden müssen. Bewusst oder nicht, ihm ist Claude Lanzmann mit dem „Letzten der Ungerechten“ gefolgt. Entstanden ist so: große Kunst.
Claude Lanzmann (Benjamin Murmelstein), Der letzte der Ungerechten, 220‘, DVD: Filmladen Wien 2014 (http://www.filmladen.at/film/der-letzte-der-ungerechten/)