Nach seinen Lieblingskollegen unter den Fotojournalisten gefragt, erklärte Alfred Eisenstaedt einmal: „The ideal attitude of a photojournalist is typified for me by my colleague at ‚Life‘, Margaret Bourke-White. At the peak of her distinguished career she was as willing and eager as any beginner on a first assignment. She would get up at daybreak to photograph a bread crumb, if necessary. If you ever lose this kind of interest and enthusiasm, you might as well say good-by to photography.“[1]
Am 18. Januar 2013 wurde im Berliner Martin-Gropius-Bau eine Ausstellung mit Fotografien von Margaret Bourke-White aus den Jahren 1930 bis 1945 eröffnet, die von Berlin aus ins Preus-Museum im norwegischen Horten, ins Fotomuseum Den Haag und an die Syracuse University im US-Bundesstaat New York weiterreisen wird. Ein kurzer Blick auf die Biografie von Margaret Bourke-White (1904–1971) räumt jeden Zweifel darüber aus, dass sie eine große Wanderausstellung verdient. Ein denkwürdiger Moment jagt den nächsten: Sie bereiste 1930 als erste ausländische Fotografin die Sowjetunion und hielt sich auch 1941 just in dem Moment in Moskau auf, als Hitler die ersten Bomben auf die Stadt werfen ließ. Sie begleitete die US-Armee beim Nordafrikafeldzug, nachdem das Boot, auf dem sie das Mittelmeer überquerte, gesunken war und sie im Rettungsboot den afrikanischen Kontinent erreicht hatte. Sie durfte als erste Frau einen Kampfeinsatz der US Air Force mitfliegen, beteiligte sich am Italienfeldzug, verbrachte später Monate und Jahre im Indien an der Schwelle zur Unabhängigkeit, im von der Apartheid geprägten Südafrika sowie schließlich im Korea-Krieg, bevor sie an Parkinson erkrankte und ihren Beruf aufgeben musste.
Begonnen hatte Bourke-Whites Karriere 1927, als sie nach dem Abschluss des Studiums der Biologie mehrere Monate damit verbrachte, das Otis-Stahlwerk in Cleveland zu fotografieren. Die Lichtverhältnisse waren äußerst schwierig: Die Dunkelheit im Inneren der Industrieanlagen wechselte mit dem gleißenden Licht des flüssigen Stahls während des Gießvorgangs – eine Herausforderung, die zu meistern die Fotografin viel Geduld, Erfindungsgeist und Willenskraft kostete. Die Ergebnisse dieser Pionierarbeit auf dem Gebiet der Industriefotografie verschafften ihr eine Eintrittskarte in die Welt der Magazinfotografie, die in den USA eben aus der Taufe gehoben wurde. Als Henry R. Luce 1930 zuerst „Fortune“ gründete und 1936 dann „Life“, wurde sie jeweils eingeladen, für die Redaktion zu arbeiten, und steuerte in beiden Fällen auch das Titelbild für die Erstausgabe bei. Wie viele Fotografen ihrer Zeit arbeitete Bourke-White stets zweigleisig. Parallel zu ihrer Tätigkeit für „Fortune“ und „Life“ erstellte sie eine Reihe von Fotoreportagen in Buchlänge, stand aber während des Zweiten Weltkriegs auch im Dienst des Pentagon, ohne jedoch – wie viele ihrer männlichen Kollegen – dem Signal Corps anzugehören.
Die Ausstellung im Gropius-Bau zeigt Originalabzüge aus den Jahren 1930 bis 1945, bei denen es sich zu einem großen Teil um Silbergelatineabzüge aus dem an der Syracuse University aufbewahrten Nachlass der Fotografin handelt. [2]Die in der Ausstellung gezeigten Bilder sind deshalb kaum größer, zum Teil sogar deutlich kleiner als die Reproduktionen im Katalog, sind dafür aber von der Aura des „Authentischen“ gezeichnet. Gleichwohl ist den Begleittexten nicht zu entnehmen, ob Bourke-White selbst die Abzüge herstellte oder ob es sich um Arbeiten aus den Laboren von „Life“ und anderen handelt.
Den Auftakt der Ausstellung, die eine geographische mit einer chronologischen Ordnung kombiniert, bilden Industriefotografien aus den USA der Jahre 1930 bis 1951. Es folgen Fotografien aus Deutschland (1930/32), aus der Tschechoslowakei (1938), aus der Sowjetunion (1930/32 und 1941) sowie aus dem Zweiten Weltkrieg (1939–1945). So beeindruckend Bourke-Whites Arbeiten im Einzelnen sind, so unglücklich ist das separierende Konzept, nach dem sie gehängt wurden (und das der Katalog exakt reproduziert). Bilder, die 1930 in den USA und in der Sowjetunion aufgenommen wurden, zeigen gleichermaßen die Eigenheiten einer sich schnell industrialisierenden Welt, und ohne Bildunterschrift wäre es dem Betrachter in vielen Fällen kaum möglich zu sagen, ob die jeweilige Aufnahme im Westen oder im Osten gemacht wurde. Umso spannender wäre es gewesen, die geographische Ordnung aufzubrechen und die Fotos direkt gegenüberzustellen.[3]
Liest man Bourke-Whites 1963 veröffentlichte Autobiografie, die drei Wochen lang auf der Bestsellerliste der „New York Times“ in der Kategorie Non-fiction rangierte[4], drängen sich noch einige weitere Fragen auf. Zu den eindrücklichsten Passagen in diesem Buch gehört die Beschreibung der Monate, die die Fotografin in den Otis-Stahlwerken verbrachte und die ihr den Weg an die Spitze der Fotojournalismus ebneten. Keine der Aufnahmen aus dieser Zeit ist in der Ausstellung vertreten, die – ohne Begründung im Katalogtext – erst 1930 einsetzt.
Weiterhin wird nicht klar, warum die Ausstellung in aller Ausführlichkeit Bourke-Whites Aufenthalt in der Tschechoslowakei 1938 dokumentiert, der fast ebenso viel Raum einnimmt wie der gesamte Zweite Weltkrieg. Unbegründet bleibt zudem, warum Bilder von Bourke-Whites extensiven Reisen nach Indien, Südafrika und Korea in der Ausstellung fehlen. Im einleitenden Text der Kuratorin Oliva María Rubio zum Katalog (der wörtlich auf die Tafeln im Gropius-Bau übertragen wurde) nehmen diese Reisen gerade einmal vier Zeilen (!) ein, obwohl Bourke-White von ihrem Aufenthalt in Indien schrieb: „My insatiable desire to be on the scene when history is being made was never more nearly fulfilled.“[5]
Rubios Katalog- und Wandtafeltext ist schon dadurch ein Ärgernis, dass er mit Halbwahrheiten beginnt („Margaret Bourke-White is considered to be one of the first photojournalists in the history of photography“, S. 4). Dann wird die Tatsache überstrapaziert, dass Bourke-White eine Frau war, statt Hinweise darauf zu geben, warum große und wichtige Teile des Werks nicht in der Ausstellung gezeigt werden – so ist zum Beispiel der ganze Nordafrikafeldzug nur mit einer einzigen Aufnahme vertreten.
Weit aufschlussreicher ist der zweite im Katalog gedruckte Text von Sean M. Quimby über „Margaret Bourke-White’s Self Portrait“, der vor allem darauf verweist, wie wichtig der Fotografin die Einheit von Bild und Text war. Anders als manche ihrer Kollegen glaubte Bourke-White nämlich nicht, dass ein Bild „für sich spricht“, sondern bestand darauf, dass Bildunterschriften und Begleittexte für ein Verständnis ihrer Fotografien unabdingbar seien. Warum Quimby sich dann jedoch dazu versteigt, eine (küchen)psychologische Einschätzung der beiden gescheiterten Ehen von Margaret Bourke-White abzugeben, bleibt ein Rätsel. Und unbeantwortet bleibt auch die abschließend gestellte Frage: „What is the best way of exhibiting – and evaluating – her considerable corpus?“ Quimby empfiehlt, das Werk „through many different lenses“ zu betrachten (S. 19). Eben!
Dem Besucher der Ausstellung wie dem Leser des Katalogs sei deshalb Bourke-Whites Autobiografie als Ergänzung ebenso dringend ans Herz gelegt wie das breite und in zahlreichen Bildbänden hervorragend dokumentierte Werk.[6] Die Memoiren sind nicht uneitel (das liegt wohl in der Natur der Sache), aber bei weitem spannender und unterhaltsamer als das, was im Katalog zur Ausstellung über die Fotografin zu lesen ist. Auffällig ist zum Beispiel, dass das Frau-Sein für Bourke-White keinerlei theoretischen Mehrwert hatte, sondern allenfalls praktische Nachteile, denen die Vorteile ungefähr die Waage hielten. Darüber, dass die Kuratorin die Fotografin im Begleittext in eine Reihe stellt mit Gertrude Stein, Claude Cahun und Djuna Barnes (statt mit Ernst Salomon, Robert Capa und James Nachtwey), hätte sich Margaret Bourke-White womöglich eher amüsiert.
Eines allerdings hat die Ausstellung zu bieten, das weder im Katalog noch in Bourke-Whites Bildbänden zu finden ist: In einigen wenigen Vitrinen werden ihre Aufnahmen im Kontext derjenigen „Life“-Artikel gezeigt, für die sie gemacht wurden. Diese Art der Kontextualisierung ist umso wichtiger, als die begleitenden Texte zu den einzelnen Exponaten sehr spärlich ausfallen. Dem Gesamtwerk dieser Fotografin werden indes weder die Ausstellung noch der Katalog gerecht. Eine stärkere Historisierung der Bilder und ihrer journalistischen Gebrauchszusammenhänge würde der Wertschätzung für die künstlerische Qualität keinen Abbruch tun.[7]
[1] Alfred Eisenstaedt / Arthur Goldsmith, The Eye of Eisenstaedt, New York 1969, S. 36.
[2] Siehe <http://library.syr.edu/digital/guides/b/bourke-white_m.htm> (8.2.2013).
[3] Lothar Müller, Vom Titelblatt zum Tafelbild, in: Süddeutsche Zeitung, 28.1.2013, S. 9, schreibt in seiner Ausstellungskritik: „Die technisch-maschinelle Internationale überwölbt in diesen Bildern die Weltregionen, Nationen, Gesellschaftssysteme, lässt sie als Provinzendesselben Fortschritts erscheinen.“
[4] Margaret Bourke-White, Portrait of Myself, New York 1963 (dt.: Licht und Schatten. Mein Leben und meine Bilder, München 1964). Das Buch belegte am 28. Juli, am 4. August und am 11. August 1963 jeweils Platz 9 der Sachbuch-Liste, war also nicht – wie gelegentlich suggeriert wird – der Spitzenreiter. Vgl. <http://www.hawes.com/1963/1963-07-28.pdf>, <http://www.hawes.com/1963/1963-08-04.pdf> und <http://www.hawes.com/1963/1963-08-11.pdf> (8.2.2013).
[5] Bourke-White, Portrait of Myself, S. 272.
[6] U.a. dies., Eyes on Russia, New York 1931; dies. / Erskine Caldwell, North of the Danube, New York 1939; dies. / Erskine Caldwell, You Have Seen their Faces, New York 1937; dies., Shooting the Russian War, New York 1942; dies., They Called it ‘Purple Heart Valley’. A Combat Chronicle of the War in Italy, New York 1944; dies., Dear Fatherland, Rest Quietly, New York 1946; dies., Halfway to Freedom. A Report on the New India in the Words and Photographs of Margaret Bourke-White, New York 1949; Ronald E. Ostman / Harry Littell, Margaret Bourke-White. The Early Work, 1922–1930, Boston 2005.
[7] So auch die Kritik bei Müller, Vom Titelblatt zum Tafelbild. Siehe zudem Peter Geimer, In schwindelnder Höhe, vor grausigem Abgrund, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.1.2013, S. 27, URL: <http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/margaret-bourke-white-in-berlin-in-schwindelnder-hoehe-vor-grausigem-abgrund-12034877.html> (8.2.2013), und Bernhard Schulz, Arbeit, Leid und Schönheit, in: Tagesspiegel, 29.1.2013, S. 22, URL: <http://www.tagesspiegel.de/kultur/fotoausstellung-arbeit-leid-und-schoenheit/7699346.html> (8.2.2013).
Dieser Artikel erschien erstmals am 16.2.2013 auf H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezausstellungen&id=171> Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der HSK-Redaktion.