von Annette Schuhmann

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21. Februar 2022

Walerian Wrobél wurde am 2. April 1925 in Fałków (Polen) geboren. Kurz nach seinem 16. Geburtstag im April 1941, wurde er von den deutschen Besatzern festgenommen und als „landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter“ nach Deutschland verschleppt. Nur ein Jahr später wurde er im Alter von 17 Jahren von der NS-Justiz verurteilt und hingerichtet. Sein Vergehen: In der Hoffnung, wieder nach Hause zu seiner Familie geschickt zu werden, hatte er an der Scheune des Hofes gezündelt, es entstand kein Schaden. Die Hofbesitzer*innen haben ihn dennoch angezeigt. Stefan Weger hat seine Familiengeschichte, die mit der Geschichte Walerian Wrobéls eng verwoben ist, zum Thema seiner Abschlussarbeit an der Ostkreuzschule gemacht. Daraus hervorgegangen ist das mittlerweile preisgekrönte Buch: „Luise. Archäologie eines Unrechts“.

 

A.S.: Wie kam es zum Projekt „Luise. Archäologie eines Unrechts“?

S.W.: Der ganze Prozess hat ein bisschen gedauert. Ich habe 2016 mit dem Studium an der Ostkreuzschule angefangen und hatte mich zu der Zeit bei einem kleinen Neuköllner Stadtteilmagazin engagiert. Für dieses Magazin wollte ich einen jüdischen Aktivisten von der Saalam Schalom-Initiative fotografieren. Damals recherchierte meine Frau gerade für ein anderes Thema im Bundesarchiv und ist dabei auch auf zwei NSDAP-Mitgliedsausweise aus meiner Familie gestoßen. Als sie mir diese schickte, war ich gerade in Terminabsprache mit dem Aktivisten, von dem ich wusste, dass ein Teil seiner Familie in der Shoah umgekommen ist. Daraufhin fing es bei mir im Kopf an zu arbeiten. Das war vielleicht der Anstoß, den ich damals gebraucht habe, um mich mit dem Thema in der eigenen Familie auseinanderzusetzen.
Ungefähr zur selben Zeit habe ich das Buch „Winternähe“ von Mirna Funk gelesen, wo sie unter anderem schreibt, ich paraphrasiere: Für euch Deutsche ist das alles, also die Zeit des Nationalsozialismus und der Shoah, so weit weg, weil ihr in der Familie nie etwas darüber gehört habt. Eure Urgroßeltern oder Großeltern haben nicht drüber gesprochen. Unsere schon.[1]

Diese beiden Ereignisse, die wiederaufgetauchten Mitgliedsausweise und das Buch von Mirna Funk, haben meine Nachforschung in der eigenen Familie angeregt. Und so bin ich dann auch auf die Geschichte von Luise, meiner Urgroßmutter, und Walerian Wróbel gestoßen.

A.S.: Das heißt, in Ihrer Familie wurde über die Zeit des Nationalsozialismus geschwiegen?

S.W: Das kann man so sagen. Bei uns wurde damals zum Thema Luise und Walerian Wróbel nur gesprochen, als die Geschichte im Schulunterricht behandelt wurde. „Du weißt schon, dass das Luise war“. Dies war dann der Satz, der für mich zum Leitsatz für das Buch wurde. Ansonsten wurde nicht darüber geredet.

Seit den 1990er Jahren gab es einen Gedenkverein in Bremen, der Verein „Walerjan Wróbel“, durch den unter anderem ein Austausch mit ehemaligen Zwangsarbeiter*innen organisiert wurde. In Bremen gab es in der Werftenindustrie relativ viele Zwangsarbeiter*innen, vor allem aus Polen und der Sowjetunion. Aber meine Familie hat sich in dieser Hinsicht nie engagiert, sondern überall rausgehalten oder anders gesagt: Ich wüsste nicht, ob man sich in meiner Familie jemals mit der Frage auseinandergesetzt hat, dass man sich da ja auch engagieren könnte. Andererseits gehört natürlich auch ein hohes Maß an Reflektiertheit dazu, nicht nur die Verbrechen der eigenen Familie anzuerkennen, sondern sich auch öffentlich dazu zu bekennen.
Ein anderes Beispiel zum Thema Schweigen gab es eben zu diesem Urgroßvater, dessen NSDAP-Mitgliedsausweis meine Frau gefunden hatte. Von dem hieß es, er sei „im Krieg geblieben“. Das ist für mich so ein Beispiel, wie das Weitergeben von Erinnerungen in der Familie die Geschichte massiv verharmlost: Er ist nicht im klassischen Sinne „im Krieg gewesen“ oder „geblieben“, denn er war ja auch nicht „im Krieg“. Mein Urgroßvater war als Kraftfahrer in einer Polizeieinheit, die der SS untergeordnet war und in den vierziger Jahren die Deportationen in Ungarn mit durchgeführt hat. Das war kein Kriegseinsatz. Dies waren übrigens auch die Deportationen aus den Ortschaften, welche unter anderem im Lili Jacob Album dokumentiert sind aus der Kapartenukraine. Trotzdem hieß es immer „Er war an der Front und ist im Krieg geblieben.“ Schlussendlich ist er als Kriegsgefangener bei der Schlacht um Budapest entweder während der Schlacht gefallen oder kurz danach in Kriegsgefangenschaft gestorben, genau wissen wir es bis heute nicht. Aber allein dieser falsche Satz „er war an der Front und ist dann im Krieg geblieben“, obwohl man zu Hause nahezu sechzig Feldpostbriefe hatte, die eine andere Geschichte erzählen, sich aber offenbar schon lange niemand mehr durchgelesen hat – vielleicht, weil man es nicht wissen wollte oder weil es als pietätlos galt. In meiner Familie herrschte somit eine Sprache der Verharmlosung, wenn man sagte „der war im Krieg“. Aber wenn jemand Jüdinnen und Juden deportiert und sogenannte Partisanenverfolgungen betreibt, was ja oft auch nichts anderes hieß als Verfolgung und Liquidation ideologischer oder „rassischer“ Feind*innen und Zivilist*innen. Menschen jagen, Menschen auftreiben, Menschen hinrichten – das ist was anderes als an der Front zu kämpfen. Wobei, und das muss man ausdrücklich sagen, durch den Schleier der Geschichte wohl für immer ungeklärt bleibt, was er selbst konkret getan und gelassen hat. Dies ist ja nur in sehr wenigen Fällen tatsächlich überliefert. Aber er war in dieser Einheit und diese Einheit hat eine sehr blutige Spur hinterlassen, wodurch es nahe liegt, dass er zumindest nicht unschuldig ist – gelinde gesagt.

 

Luise Passfoto, 2021. Unter Verwendung der Fotografie 8. Dez. 1938. © Foto: Stefan Weger.

 

A.S.: Die Geschichte des Walerian Wróbel ist eine der am besten aufgearbeiteten Geschichten von Zwangsarbeiter*innen aus der Zeit des Nationalsozialismus.
Ging es in Ihrer Geschichte nicht vielmehr um Ihre eigene Familie und deren Verstrickungen in eine Gewaltgeschichte?

S.W.: Mir geht es darum, die Sicht der vierten Nachkriegsgeneration zu erzählen. Es heißt ja, jede Generation stellt ihre eigenen Fragen an die Geschichte. Und das ist genau das, worin ich eine Chance sehe. Wir erleben gerade einen gesellschaftlichen Rechtsruck. Als ich angefangen habe an diesem Projekt zu arbeiten, gab es dieses fürchterliche Höcke-Zitat mit der 180-Grad-Wende in der Geschichtspolitik.
Dadurch, dass die heutige junge Generation, die Täterinnen und Täter nicht mehr gekannt hat, hat sie die Chance, diese Zeit auch aus der Täter-Nachfahrenperspektive neu aufzuarbeiten und Ehrlichkeit in die Geschichte zu bringen. Und das ist das, worum es mir geht.

Um das Beispiel von eben noch einmal aufzunehmen. Ich hatte vor, einen jüdischen Aktivisten zu fotografieren. Ich habe den Termin nicht zustande kommen lassen, total kommentarlos abgesagt, weil ich mir die Frage gestellt habe: „Wie begegnest du diesem Menschen?“ Ich habe damals die Geschichte meines Urgroßvaters erfahren, dass er an der Liquidation der ungarischen Jüdinnen und Juden beteiligt war. Der Mann den ich fotografieren sollte war Jude, seine Familie kam aus Budapest und Umgebung, ein guter Teil seiner Verwandten wurde durch deutsche Hand ermordet. Und für mich stellte sich die Frage, wie soll man heute, Jahrzehnte später miteinander sprechen? Thematisiert man es, thematisiert man es gar nicht? Ist es ein Affront, wenn man es nicht thematisiert? Ist es ein Affront, wenn man es sofort thematisiert und sagt „Du, bevor wir jetzt hier fotografieren, ich wollte dir sagen, mein Urgroßvater hat möglicherweise daran mitgearbeitet, dass deine Familie damals ermordet wurde.“ Wie geht man miteinander um?
Und da ist mir aufgefallen, dass es nicht reicht Schulklassen in die Gedenkstätten zu schicken. Solange man diese vielen Fragen hat und nicht weiß, wie man über diese Themen sprechen soll. Und so lange auch die Nachfahren der Täter*innen nicht sprechen, solange kann man als Gesellschaft auch nicht wieder zusammenwachsen.

Und dazu noch ein Beispiel: Ich bin in der Ostkreuzschule in einer Klasse gewesen mit einer Fotografin, mit der ich jetzt auch gerade den Abschluss gemacht habe, die kommt aus einer jüdisch-deutschen Familie und einem Fotografen, der kommt aus einer Sinto-Familie. Als ich in den Diskussionen in der Klasse nach einem Weg suchte, meine eigene Geschichte umzusetzen und fotografisch zu verarbeiten, erlebten wir unglaublich intensive Diskussionen. Es kamen KZ-Erzählungen bei ihm raus, und bei ihr ging es um Flucht, Auswanderung, Umtaufen lassen und das Zerstören des Familienarchivs. Ich erkannte, wie viel Mühe es bedarf, allein auf dieser individuellen Ebene zwischen Freunden ins Gespräch zu kommen, diese Geschichten auf den Tisch zu legen und dann auch darüber im Gespräch zu bleiben.

A.S: Ihr Projekt „Luise. Archäologie eines Unrechts“ haben Sie im Rahmen des Jahrgangs 14 der Ostkreuzschule als Abschlussarbeit vorgelegt. Die Themen Ihres Jahrgangs sind gut dokumentiert.
Viele Ihrer Kommiliton*innen setzen sich in ihren Arbeiten mit sehr persönlichen Geschichten auseinander, gleichwohl ist Ihre Arbeit offenbar jene, die sich am intensivsten mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Wie verliefen die Diskussionen in der Abschlussphase? Sie legten ja offen, dass Sie aus einer Täterfamilie kommen und Ihnen zwei Kommiliton*innen aus Opferfamilien gegenüberstanden. Welche Verwerfungen gab es oder gab es die überhaupt nicht? Oder waren es eher ästhetisch formale Gesichtspunkte, die eine Rolle in den Diskussionen spielten?

S.W.: Interessanterweise gab es viel stärkere Verwerfungen in den Diskussionen mit den Leuten, die selbst einen „deutschen Hintergrund“ haben, die aber gar nichts sagen konnten auf die Frage „Wie war es denn bei deinem Opa oder bei deinem Urgroßvater?“ Da kamen Antworten, wie: „Ja nö ach, keine Ahnung, ich glaube, der war in der Wehrmacht.“ Ich will nicht sagen, dass man ein schlechterer Mensch ist, weil man sich damit nicht beschäftigt hat. Aber ich fand es interessant, wie heftig gerade diese Diskussionen waren.

Die Ausgestaltung der Geschichte und des Buches hat mich sehr viel Mühe und Zeit gekostet. Ich habe dafür mit zwei Buchgestalterinnen und einer Bildredakteurin zusammengearbeitet. In den gemeinsamen Diskussionen war die Vermeidung der Täter-Opfer-Umkehr ein zentrales Moment. Wichtig war mir, zu sagen: „Ja, ich bin aus einer Familie, wo es Täter*innen gab und/oder Mitläufer*innen“. Selbst „Luise“ ist ja ein ambivalenter Fall: Ja, sie hat ihn (Walerian Wróbel) ans Messer geliefert, aber nein, sie hat den Hebel einer Guillotine nicht selbst betätigt. Der Fall „Luise“ zeigt, finde ich, sehr deutlich wie leicht man in eine Mittäter*innenschaft rutschen kann. Auch, wenn man jeweils ganz „rationale“, egoistische Interessen verfolgt, wie etwa den eigenen Hof in Ordnung zu halten. Das war das, was sie immer wieder gesagt hat in ihren Rechtfertigungen, die mir schriftlich überliefert vorliegen. Persönlich haben wir da ja nie drüber sprechen können.

 

Buchcover: Stefan Weger, Luise. Archäologie eines Unrechts. Das Buch wurde von Julia Drechsel und Julia Schneider gestaltet. Stefan Weger erhielt dafür den Deutschen Fotobuchpreis des Jahrgangs 2021/22.

 

A.S.: Hätte es Ihrer Einschätzung nach für Luise und deren Mutter die Chance gegeben, sich gegen eine Anzeige Walerian Wróbels zu entscheiden und die kleine banale Kokelei unter den Tisch zu kehren? Schließlich hatten sie bereits Hilfe geholt, um das Feuer zu löschen.

S.W.:  Das ist immer eine hypothetische Frage, nicht wahr? Aber so wie ich es lese, hatten sie natürlich die Möglichkeit. Sie hätten durchaus sagen können, das war ein Unfall, das ist meiner Tochter passiert, anstatt die Gestapo einzuschalten. Und schließlich haben sie auch gezielt bei der Polizei angerufen, ausgesagt und auch vor Gericht ihre Angaben wiederholt.

A.S.: Auf den Bildern von Walerian Wróbel sieht man deutlich, dass er noch ein Kind ist. Gab es keinerlei Empathie in dieser Bauernfamilie? Haben Sie danach mal gefragt?

S.W.: Ich konnte mit Luise nie selbst drüber sprechen, weil ich damals zu jung war. Und bevor ich das Thema in seiner ganzen Tragweite verstanden hatte, war sie schon gestorben. Aber ja. Es war keine arme Bauernfamilie, bei der Walerian Wróbel zwangsverpflichtet wurde, das sieht man auch an der Anzahl und der Qualität der privaten Fotos, die aus der Zeit überliefert sind. Aber ich weiß auch, was man sich in der Familie über Luise so erzählt hat: „… sie war ein Biest. Da musste man aufpassen und die konnte auch gut Menschen gegeneinander ausspielen …“. Ob man deswegen einem Menschen sämtliche Empathie abspricht, weiß ich nicht. Es gab ja auch KZ-Wächter, die nach dem Krieg oder währenddessen liebevolle Väter waren.

Der Bremer Rechtshistoriker Christoph Schminck-Gustavus[2] hat für seine Publikation über den Fall Walerian Wróbel auch Luise interviewt. Im Gespräch mit mir, hatte er gesagt, dass er sie auch verstehen konnte, ein Stück weit zumindest. Luise hat ihm von ihren Existenzängsten erzählt: Der Bauer, also ihr Vater, war kurz vorher gestorben. Sie war also mit ihrer Mutter, ihrer Schwester, die damals noch um einiges jünger war, und ihrem kleinen Bruder allein auf dem Hof. Hinzu kam noch ein alter Knecht. Sie mussten in dieser Zusammensetzung einen großen Hof bewirtschaften und haben eine Arbeitskraft gebraucht. Dann kam Walerian Wróbel zu ihnen, der angeblich nicht zum Arbeiten taugte, und sie hätten permanent Angst davor gehabt, dass er abhaut und/oder die Scheune abbrennt. So hat sie das erzählt. So steht es auch in ihrer Rechtfertigung, die sie 1993 damals nach dem Film, der ein Jahr vorher erschienen war, handschriftlich zu Papier gebracht hat.

A.S.: Die Propaganda wird funktioniert haben.

S.W.: Ja, sicherlich. Trotzdem muss man nicht jemanden ans Messer liefern. Und das geschah zu einer Zeit, wo man bereits wusste oder zumindest erahnen konnte, was geschehen wird. Walerian Wróbel wurde schließlich 1942 hingerichtet.

A.S.:  Sie sagen, dass es Ihnen darum geht, die Nachkommen der Täter*innen zu Wort kommen zu lassen und weisen auf den Hashtag „Nazihintergrund“ auf Twitter hin. Unter diesem Hashtag beschäftigen sich die User*innen mit der Frage, inwieweit die Nachkommen der Täter*innen des NS-Regimes von ihrer privilegierten Stellung noch heute profitieren. Wie würden Sie das für Ihre Familie beurteilen?

S.W.: Ich finde, dass die Debatte, auch unter dem #Nazihintergrund, ein wenig zu kurz springt. Mir geht es darum, den Blick zu öffnen für alle Folgen, die Mittäterschaft in den Familien bis heute hat. Es ist eine etwas verkürzte Sicht zu sagen, „ja, die Leute hatten Zwangsarbeiter*innen und haben davon profitiert“. Das ist sicherlich ein sehr wichtiger Aspekt, gerade zum Beispiel bei Industriellen-Familien. Ich denke aber, dass mit dem Wissen um die eigene (Täter-)Familiengeschichte auch eine gewisse Belastung einhergehen kann. Und das ist dann das dünne Eis, auf das man sich begibt, denn hier kann es zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommen. Zu den Folgen der Täter*innenschaft gehört im Fall unserer Familie auch eine sichtbare Verhärmung von Luise, was sicher auch mit einer nicht vollzogenen Aufarbeitung der Ereignisse zu tun hat. Das kennt man von einigen Familiengeschichten, zumindest jenen mit Tätergeschichten. Da prügelt zum Beispiel der Großvater, der in Stalingrad war, zu Hause die Kinder. Wie gesagt, die Debatte greift einfach zu kurz, wenn man sich nur auf die ökonomischen Vorteile bezieht. Täter*innnenschaft hat gesamtgesellschaftliche Folgen, bis heute.

A.S.: Sie meinen die Traumatisierungen, die von Täter*innen an die nachfolgende Generation weitergegeben wurden?

S.W.: Ich finde beispielsweise, dass die Beobachtung des Wegschauens und die Frage danach, was die Leute wussten, eine ganz symptomatische Debatte auslösen. Meine Frau kommt aus der Gegend um das Kriegsgefangenenlager Sandbostel und da gab es lange vor dem Aufbau einer Gedenkstätte eine ganz intensive öffentliche Debatte darüber, was die Bevölkerung vom Lager mitbekommen hat und was nicht. Und ich fand das nahezu unheimlich, dass zum Beispiel das nach dem Krieg errichtete sowjetische Ehrenmal, welches an die gestorbenen sowjetischen Soldaten erinnern sollte, vom Land Niedersachsen 1956 mit der Begründung gesprengt wurde, die Zahl der russischen Toten sei falsch. Das zeigt für mich eher, dass die Täter und Täterinnen ihr eigenes Tun nicht ständig vor Augen haben wollten. So interpretiere ich es zumindest. Natürlich spielte auch der Antikommunismus der Zeit eine große Rolle. Aber ein solches Denkmal war halt eine ständige Erinnerung daran, was man wenige Jahre zuvor getan hat.

A.S.: Sie meinen, dass die Deutschen den Opfern nicht verzeihen, was sie diesen angetan haben?

S.W.: Genau.

A.S.: Wie meinen Sie, hat sich das Schweigen in Ihrer Familie, das den Anlass zu Ihrem Projekt gab, auf Sie ausgewirkt?

S.W.:  Wenn ich merke, da ist ein Widerstand, dann interessiert mich das erstmal. Und das war das, was ich damals bei der Geschichte um Luise auch bemerkt habe. Ich habe zu meiner Mutter gesagt: „Du hattest mir doch damals gesagt, dass das Luise war. Dann habe ich der Gedenkstätte in Neuengamme geschrieben, um zu fragen, ob es Unterlagen zu diesem Fall gibt.“ Dabei habe ich festgestellt, dass Luise die Schreibweise ihres Namens nach dem Krieg geändert hat. Warum? Und dann kamen die Gegenfragen aus der Familie, was ich eigentlich mit der Geschichte machen will und ob ich vorhabe, das öffentlich zu machen, inklusive der Bemerkung, dass ich mir damit keinen großen Gefallen tun würde.

A.S.: Was war damit gemeint?

S.W.: Sie meinten, dass ich mich mit einer solchen Arbeit selbst in die Täterecke stelle. Und schließlich gab es bei einem Vortrag von Professor Schminck-Gustavus einen Vorfall, der die Haltung eines Teils meiner Familie deutlich macht. Schminck-Gustavus zeigte in seinem Vortrag über Walerian Wróbel Archivmaterialien und berichtete über den Hergang der Geschichte und auch von seinem Besuch bei dessen Familie. Als er am Ende seines Vortrags fragte, ob es Rückmeldungen oder Fragen aus dem Publikum gebe, stand ein Mann auf, der erklärte, dass Luises Mutter seine Großmutter sei, also jene Bäuerin von der im Vortrag die Rede gewesen sei und die Walerian Wróbel der Gestapo ausgeliefert habe. Ich kannte den Mann nicht, aber er gehörte tatsächlich zur Familie, wenn auch zu einem Zweig, zu dem wir schon lange keinen Kontakt mehr haben. Und dieser Mann erklärte ungefähr, soweit ich mich erinnere:
„Also ich will das hier mal richtigstellen. Das kommt ja hier alles so rüber, als wäre das eine Familie voller Monster und voller Nazis gewesen. Meine Großmutter, das war eine ganz liebe Frau, und man muss sich auch mal fragen, was das heißt, wenn dann der Pole dahin kommt und durchgefüttert wird und dann so undankbar ist, die Schuhe klaut und abhauen will und danach die Scheune ansteckt. Da muss man sich aber auch mal fragen, ob so jemand dann vielleicht auch mit so was hätte mal rechnen müssen …“.
Da habe ich diese Widerstände beim Umgang mit der Vergangenheit mehr als deutlich gespürt, nur sprach bisher niemand seine eigentliche Haltung zum Geschehen so deutlich aus.

Danach habe ich weitergesucht und -geforscht und auch den alten Hof besucht, der vor nun mittlerweile fast 70 Jahren verkauft wurde. Daher stammt auch der Titel des Buches „Archäologie eines Unrechts“, denn es war tatsächlich auch eine Art archäologische Arbeit. Ich musste die Lage des Geländes via Google Maps erst einmal herausfinden und dann vor Ort erschließen, welche Gebäude wo gestanden haben – und im wahrsten Sinne des Wortes auch ein bisschen graben. Es gab ja sowohl private als auch polizeiliche Fotografien sowie eine sogenannte Tatortzeichnung, mit deren Hilfe ich mir das Terrain, den Hof von Luise und ihrer Familie, erschließen konnte.
Insgesamt war ich über zwei Jahre lang auf diesem Gelände und auf dem Boden des alten Hofes unterwegs – immer wieder in den verschiedenen Jahreszeiten. Und immer wieder habe ich Neues gefunden.

A.S.: Was heißt "gefunden"?

S.W.: Die Strukturen des Hofes. Ich habe den alten Keller gefunden, der noch da war, allerdings zusammengesackt. Das alles sind zwar keine großen wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber es vermittelte mir ein Gefühl für den Ort des Geschehens.

A.S.: Welches Gefühl entwickelt man an einem Ort, der erst einmal nicht mehr zeigt als eine Streuobstwiese?

S.W.: Es war eine Mischung aus Neugier und Unwohlsein. Ich betrachtete vor Ort zum Beispiel den Eingang zum Keller. Dann sah ich im Archiv ein achtzig Jahre altes Foto, wo auf der einen Seite des Hauses auch dieser Kellereingang abgebildet war und über diesem Kellereingang eine Stelle mit einem Pfeil markiert. Dort wurde angeblich die Streichholzschachtel gefunden, mit der an der Scheune gekokelt wurde. Und eben diese Schachtel liegt noch heute als „Beweisstück“ konserviert im Archiv in Bremen. Ich wollte die Verbindung zur Gegenwart wiederherstellen, indem ich erforschte, wo Walerian Wróbel langgelaufen ist bzw. wo er laut Untersuchungsbericht entlang gelaufen sein soll. Und wo war angeblich dieses Feuer?

 

Weg des Täters Vorderseite, 2019. Unter Verwendung der Fotografie 4. Weg des Täters nach der Tat mit der Signatur StAB, 4.89/5, 207. © Foto: Stefan Weger.

 

A.S.: Die Vergangenheit bekommt für Sie eine Materialität in dem Moment, wo Sie auf dem ehemaligen Hof stehen?

S.W.: Genau. Vor allem die Frage nach der Authentizität des Ortes stellt sich mir immer wieder. Und das ist eigentlich auch das Thema, was mich bei dem Erforschen des Hofes, auf dem alles geschah, so sehr interessiert hat. Es stellt sich die Frage danach, worüber mir die Geschichte eigentlich erzählt wird? Erzählt mir diese Streuobstwiese die Geschichte? Erzählt mir das Archiv die Geschichte? Erzählen mir die Privatfotos meiner Familie die Geschichte? Ist es eine Mischung aus allem? Ist es vielleicht auch eine Geschichte über das, was bewusst konserviert wird und was nicht? Immer wieder erkenne ich eine historische Unschärfe, das hat mich bei den Nachforschungen zu Luise stets begleitet. Man weiß nicht, was sie tatsächlich gewusst hat von den Konsequenzen, die Walerian Wróbel schließlich erwarteten. Der Ort kann einem vielleicht ein Gefühl wiedergeben, eine Verbindung zu dieser Zeit schaffen. Und daraus ergaben sich für mich im Verlauf der Arbeit an diesem Projekt Fragen: Was gibt mir dieser Ort? Oder gibt mir dieser Ort überhaupt etwas? Oder ist es mehr die Idee, dass es gut ist, sich das angesehen zu haben, und das Gefühl dann mitzunehmen, anstatt zu einer Gedenkstätte zu fahren?
Man hat in der Regel diese abgegrenzten Orte der Lager, die Gedenkstätten und die zu entgrenzen, war für mich ein Leitgedanke meines Projekts. Es sind eben oft ganz alltägliche Orte an denen sich das Unrecht abspielte. Das Kunstprojekt der Stolpersteine zum Beispiel nehmen wir zwar oft gar nicht mehr bewusst wahr. Aber der Stolperstein hat ja am Ende dieselbe Wirkung, die auch ich verursachen wollte. Sie holen dieses Grauen der Vergangenheit wieder hervor, und erinnern daran – mitten auf unseren alltäglichen Wegen.

A.S.: Man stolpert …

S.W.: … und stolpert und stolpert. Und das ist im Endeffekt das, was mir bei meiner Suche auf dem Hof immer wieder passiert ist: Ich bin gestolpert – und das immer wieder. Ich sehe: Hier war die Scheune. Wenn Walerian Wróbel mit Holz gearbeitet hat, war er vermutlich hier. Hier war ein Pfeiler, da liegen noch alte Ziegelsteine begraben. Ungefähr hier muss es gewesen sein, wo es gebrannt hat. Und dann schaue ich mir die Fotos an und frage mich, hat es denn wirklich da so stark gebrannt? Die Tatortfotos habe ich im Buch explizit mit drin, inklusive ihrer jeweiligen Rückseite. Und dort steht “Brandherde“, das sind aber nur zwei kleine verkohlte Stellen.

A.S.: Die Frage der Authentizität interessiert auch Historiker*innen in hohem Maße. Sie versuchen in Ihrem Projekt Authentizität herzustellen, indem Sie eine interessante Materialmischung produzieren. So finden wir Bilder von dem Ort, den Sie gerade beschrieben haben, also der Streuobstwiese und des Hofes, um dem Ort des Geschehens nachzuspüren. Sie haben Gerichts- und Polizeiakten gesichtet und Familienfotos betrachtet. Ist all das geeignet, Authentizität herzustellen oder ist es nicht vielmehr eine nachträgliche Inszenierung der Vergangenheit, ähnlich der Ordnung in einem Fotoalbum?

S.W.: Fotoalbum höre ich immer so ungerne. Die interessante Frage ist: Was sucht man eigentlich? Was genau möchte man wissen? Ich finde in der Frage der Authentizität den Ort enorm wichtig und hinterfrage gleichzeitig, was kann mir der Ort erzählen und was nicht. Zum Beispiel: Es gab nicht nur den Hof, wo das alles stattgefunden hat, sondern es gab auch, etwas abseits des Deiches, einen Verbindungsweg, der heute größtenteils verloren ist, aber an der Straße steht nach wie vor das alte Tor. Dort bin ich hingegangen, um ein Foto zu machen, habe erst die richtige Perspektive gesucht und schließlich die Kamera aufgebaut. Es hat keine fünf Minuten gedauert bis die Nachbarin dieses vereinsamten Tores raus kam und fragte: „Was machen Sie denn hier?“. Ich erklärte ihr, dass ich das Tor fotografiere. Sie wollte wissen, warum und ich erklärte ihr, dass das einmal zum Marten‘schen Hof gehörte und ich ihn aus den Erzählungen meiner Mutter kenne. Dort sei die Geschichte mit Walerian Wróbel passiert, für den es hier auch einen kleinen Gedenkweg und eine Plakette gebe. Sie erklärte, sie habe zwar von einem Hof gewusst, aber dass diese Geschichte sich dort abgespielt hat, habe sie noch nie gehört. Und da wird die Authentizität eines Ortes dann wirklich spannend. Ganz am Anfang meiner Recherchen habe ich einen älteren Herrn auf der Streuobstwiese getroffen, der kam wohl von dem Naturschutzverband, dem das Gelände heute gehört, und wartete auf seine Gruppe, um die Apfelbäume zu pflegen. Mit dem habe ich gesprochen, der meinte nur: „Wat? Wer? Wróbel? Nee, nie gehört.“
Für mich war das spannend. Diese Orte sind da, sie liegen vor uns – überall. Wir bewegen uns in diesen Orten und übersehen sie doch kontinuierlich. Und damit gehen sie auch in der Erinnerung verloren.
Jetzt stellt sich die Frage, welche Funktion hat das Ganze? Das finde ich beim Thema Authentizität sehr wichtig. Welche Funktion hat Authentizität hinsichtlich des Gedenkens an diese Verbrechen? Und ich finde, man sollte darauf achten, dass diese Orte nicht etwas Sakrales bekommen. Also in einer Form inszeniert werden, die einen quasi in eine andere Stimmung versetzen soll. Ich komme auf den Begriff des Sakralen, weil ich es gerne mit Kirchen vergleiche, die auch eine bestimmte Wirkung auf ihre Besucher*innen entfalten sollen. Man sprach hier beispielsweise von der „Theologie der Steine“. Orte wirken auf die Menschen und erzeugen etwas, was den Sinn und Zweck der Institution verstärken soll. Die Gedenkstätten sind zwar stärker auf einen pädagogischen Transfer ausgerichtet. In der Vergangenheit war es aber auch oft Angst oder Scham, die produziert wurde und werden sollte. Ich kenne das beispielsweise von der Gedenkstätte in Hohenschönhausen, wo es noch manchmal dazu gehörte, dass ehemalige Gefängnisinsass*innen Schüler*innen in die Zellen einsperrten, damit sie ein Gefühl dafür bekommen, wie das so war. Das ist Abschreckungspädagogik. Das ist ja zum Glück heute aus der Mode gekommen.

Aber die Frage bleibt: Wofür sind diese Orte überhaupt da? Sind sie dafür da, dass man hingeht, sich etwas anhört, traurig ist und wieder geht? Oder damit man etwas mitnimmt, um diese Erfahrungen, die man da gemacht hat, diese Sachen, die man da gelernt hat und die man da gesehen hat, im Alltag anzuwenden? Sind die dafür da, diese Erkenntnisse gar dafür da, um sie in ein gegenwärtiges, politisches, soziales Miteinander einfließen zu lassen? Oder sind diese Orte Gedenkorte, an denen Gedenken lediglich ritualisiert stattfindet? Trauer ohne Tränen[3]: Man geht an einen Gedenkort und sagt „Oh Gott, war das alles schlimm“, und dann geht man in eine Gedenkveranstaltung, man spricht mit Überlebenden. Und dann geht man auch wieder nach Hause und sagt sich: Gut, dass wir mal wieder was getan haben!

Ich bin für eine andere Aufrichtigkeit, und dazu kann die Geschichte der Nachfahren der Täter*innen dienen. Wir müssen uns auf die Zeit vorbereiten, wenn Zeitzeug*innen nicht mehr sprechen können, weil auch die letzten gestorben sind. Wie erzählen wir die Geschichte dann weiter? Mir fehlt hier die Perspektive der Täter*innen, ohne dass ich in die Gefahr einer Täter-Opfer-Umkehr geraten will. Das meint nicht, wir müssen auch über die Tätergeschichten sprechen, weil die genauso schlimm sind wie die Opfergeschichten. Auf gar keinen Fall! Aber ich finde, es gehört zur Aufrichtigkeit dazu – oder besser: zur Perspektive einer neuen Erinnerungskultur –, dass man auch von den Tätergeschichten berichtet, denn schließlich gehören diese genauso untrennbar zu der Geschichte, wie die Seite der Opfer.

A.S.: Die Kinder der Täter*innen sollen die Kinder der Opfer auffordern, ihre Geschichte zu erzählen?

S.W.: Ich denke es kann Mut machen, wenn jede*r erzählt, was er/sie aus der eigenen Familie weiß. Das kann einen offeneren Dialog schaffen, statt immer nur den Opfern und deren Nachfahren die Verantwortung dafür zuzuweisen, die Erinnerung an diese Zeit wachzuhalten und zu berichten. Auch die Täter*innen und die Täternachfahren tragen eine Verantwortung zu sprechen. Und bei Luise, also meiner eigenen Familie, finde ich die Erkenntnis am bedrückendsten, wie leicht es offenbar war, zur Mittäter*in zu werden. Das ist sozusagen mein Transfer in die Gegenwart.

Geschichte ist, wenn man sie nicht nutzt um für die Gegenwart einen positiven Beitrag zu liefern, zwar ein nettes Hobby, aber gesamtgesellschaftlich verschenkte Liebesmüh. Meiner Meinung nach kann man vieles aus der Geschichte für die Gegenwart lernen. Welche Themen haben wir gegenwärtig: die Verweigerung der Erinnerung an die NS-Verbrechen durch die AfD, Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und Geflüchtete, Antisemitismus, Anschläge auf Synagogen… wann macht man sich zu*r Mitläufer*in, zu*r Mittäter*in, wenn man nicht aktiv wird?

A.S.: Heißt das, Sie formulieren einen Auftrag an Ihre eigene Generation, jener seit den 1980er Jahren Geborenen?

S.W.:  Es ist eher eine Aufforderung als ein Auftrag. Ich habe in den Gesprächen über meine Abschlussarbeit gemerkt, dass viele erst einmal geschluckt haben. Dieses Gesicht von Walerian Wróbel, der festgenommen wurde mit seiner kleinen Schiebermütze. Er steht da wie ein kleiner Lausbub, der irgendwas ausgefressen hat. Dann zu hören, dass er wegen dieser Sache hingerichtet wurde, macht die Menschen oft sehr betroffen. Positiv für mich ist, dass viele Leute gesagt haben: Ich weiß gar nicht was bei mir war. Ich muss mal meine Oma, meinen Opa fragen.

A.S.: Sie meinen, dass Ihre Arbeit für Irritationen sorgen kann und die Menschen bewegt, stärker nachzufragen? Allerdings gibt es viele Bilder aus der NS-Zeit, die betroffen machen. Warum meinen Sie, ist Ihre Geschichte anders?

S.W.: Um ein Beispiel zu liefern: Ich wurde zu einem Seminar eingeladen, wo es um die Nachkommen der Täter*innen ging. Dort habe ich über meine Recherchen berichtet und festgestellt, dass das Interesse groß ist und ein Bedürfnis besteht, auch die Orte zu erforschen und in die Archive zu gehen. Und das ist der Kern meiner Arbeit, verschiedene Quellen offen zu legen.
Es gibt zum Beispiel diese Seminare, die von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme durchgeführt werden. Dort beschäftigt man sich sehr intensiv mit der eigenen Familiengeschichte aus der Perspektive von Täter*innennachkommen. Da ist das Interesse unglaublich groß! Zeitlich fand im November 2021 meine Ausstellungseröffnung dort im Rahmen des Forums „Zukunft der Erinnerung“ statt, wo auch dieser Frage nachgegangen wurde und Leute sich auf die Suche nach Archivmaterial und konkreten Orten gemacht haben. Das Interesse an Einzelschicksalen abseits der großen oftmals abstrakten Opferzahlen ist also mehr als evident und die Leute haben ein großes Interesse daran, auch in Archiven nach der Geschichte ihrer Vorfahren zu suchen.

A.S.: Welche Erfahrungen haben Sie im Archiv gemacht?

S.W.:  Der Vorteil bei meiner Arbeit war die Tatsache, dass die Akte zu Walerian Wróbel im Staatsarchiv in Bremen sehr gut erhalten ist. Schwierig hingegen war, dass sie erst nur einmal für mich ausgehoben wurde. Ich durfte sie durchsehen und habe die ersten Fotografien davon gemacht. Für das Fotografieren musste ich damals schon einen Sonderantrag für die künstlerische Nutzung stellen. Das war aber kein Problem. Als ich dann ein zweites Mal kommen wollte, um noch die hochwertigen Fotos anzufertigen, die ich für das Projekt brauchte, wurde es schwieriger.

A.S.: Warum?

S.W.: Wenn die Akte einmal ausgehoben ist, dann schaut sie sich ein*e Archivar*in nochmals an – gegebenenfalls das erste Mal seit Jahren oder Jahrzehnten – und stellt unter Umständen fest, dass hier und da etwas Material bröselt. Im Ergebnis wurde die Akte dann erstmal einbehalten. Auch mit dem Argument, dass es die Unterlagen auch auf Mikrofiche gebe.

A.S.: In miserabelster Qualität…

S.W.: Genau, in miserabelster Qualität. Als ich erklärte, dass ich das Original brauche, bekam ich zur Antwort, dass ich mich an die Oberarchivrätin wenden müsse. Das dauerte dann alles ein wenig. Aber schlussendlich konnte ich doch noch einmal das Original fotografieren. In Hamburg dagegen war es schwieriger. Im dortigen Staatsarchiv lagen die Akten von Wróbels letztem Gefängnisaufenthalt vor seiner Hinrichtung, u.a. auch das letzte Foto von ihm, weswegen es mir auch sehr wichtig war, dort zu fotografieren.
Dazu muss man verstehen, dass die Archive gerade hinsichtlich des Authentizitätsgedankens meiner Arbeit sehr wichtig waren. Man kann den Ort nicht von den Akten trennen, die Akten nicht von den privaten Bildern und alles zusammen nicht von der erzählten Geschichte. Mein erster Besuch im Staatsarchiv Hamburg hat mich tief berührt. Ich fragte nach der Akte mit den Hinrichtungsfotos von Walerian Wróbel. Die Antwort war: Wir sind da noch in der Freigabe. Ich hatte die Akte zwei, drei Tage vorher bestellt. Wieso in der Freigabe?

 

Letzte Nacht, Erster Teil 2021. Unter Verwendung eines Dokuments mit der Signatur StAB, 4.89/5,207. © Foto: Stefan Weger.

 

A.S.: Was meint Hinrichtungsfotos?

S.W.:  Am Tag vor der Hinrichtung oder am Tag der Hinrichtung selbst wurden jeweils Fotos von den Gefangenen gemacht. Manchmal gab es auch zwei Fotos, eines vom Tag der Einlieferung und eines am Tag vor der Hinrichtung.
Und das gehört dann auch zum Prozess des Forschens: Ich habe die Dicke des Stapels fotografiert, es war eine mindestens 15 Zentimeter dicke Akte. Ich habe fotografiert, wie Walerian Wróbels Akte zwischen den anderen Akten und Fotografien der Gefangenen liegt. Für mich war das schwer zu ertragen. So schwer, dass ich dachte: Du kommst in Teufels Küche, wenn du das Ding zurückgibst, und die sehen da Tränenspuren auf den Unterlagen. Das mögen Archivar*innen ja gar nicht. Ich habe sie durchgeblättert, da waren junge Menschen, da waren alte Menschen, da war eine 90-jährige Frau, die hingerichtet wurde. Irgendwann findet man dieses eine Foto von dem jungen Mann, der da wegen deiner Vorfahren hingekommen ist, wo man bisher nur das kleine, leicht eingeschüchterte Gesicht mit der Schiebermütze kannte. Dieses Bild zwischen all diesen anderen Menschen, die ermordet wurden… Fast zeitgleich mit Walerian Wróbel wurden innerhalb einer halben Stunde sechs, sieben Leute hingerichtet, zwischen 6 Uhr und 6.30 Uhr am Morgen, das heißt quasi im Minutentakt.
Ich denke, dass eine solche Erfahrung abseits von Büchern, Ausstellungen und Arbeitsblättern für Schulen und für die außerschulische Bildung, das Arbeiten direkt am Material, direkt vor Ort, erst ein Gefühl für das ungeheure Ausmaß des Unrechts vermittelt. Erst als ich diese Akten durchblätterte, fing ich an zu verstehen, wie wichtig es ist, diese Geschichte immer wieder zu erzählen.

A.S:  Die folgende Frage schließt direkt an Ihren letzten Punkt an: Wie haben Sie sich auf dem Weg zu Ihrem Projekt verändert? Sie arbeiten seit 2018 daran und sind sicher nicht mehr derselbe.

S.W.: Was sich am stärksten verändert hat: Für mich ist es sehr wichtig geworden, meine Sicht auf die Dinge als Geschichte zu erzählen und die Betrachter*innen mitzunehmen auf die Forschungsreise – und das nicht nur intellektuel sondern auch emotional. Das ist gar nicht so einfach. Ich denke die Fotografie oder Kunst ganz allgemein sind hervorragend geeignet, um sich dem Thema „Gedenken“ immer wieder neu zu nähern. Es gibt ja den Begriff der Künstlerischen Forschung – aus meiner Sicht ein Weg um vieles besser begreifbar zu machen und auch zu tatsächlichen Erkenntnissen zu kommen.
Ein Beispiel: Ich habe angefangen, das Archivmaterial relativ „clean“ zu fotografieren, zu Beginn sogar noch viel sauberer als ich es jetzt im Buch zeige. Soll heißen: Alles ganz grade und eben – klassische Reproduktionen halt. Damals habe ich alles digital fotografiert. Dadurch konnte man den Text zwar sehr gut lesen, gleichzeitig ging jedoch die Plastizität des Materials verloren. Ich habe dann ein zweites Mal alles mit 4 x 5 Inch Großformat fotografiert. Nun konnte man das Bild auf 1x2 Meter großziehen. Es entstand das Gefühl, als könne man das Papier durch die Augen fühlen. Diese Plastizität ist mir bei meinen Geschichten immer wichtiger geworden, um die Betrachter*innen dabei mitzunehmen.
Deswegen war eine klare Leitung der Besucher*innen für die Ausstellung in den Treptow-Ateliers auch so wichtig. Ich hatte draußen einen Flurbereich, der die Einführung des Projektes darstellte und drinnen einen abgedunkelten Raum, in dem ein Video lief, das ich vor Ort in der „Streuobstwiese“ gedreht habe.
 

Ausstellungssituation in den Treptow-Ateliers in Berlin, © Foto: Stefan Weger.

Die Besucher*innen mussten Taschenlampen benutzen und die Geschichte mit der Taschenlampe im abgedunkelten Raum verfolgen. Dabei lief das Video mit den Geräuschen von der Wiese und mit Gänsen, die da langgeflogen sind. Man konnte das Projekt erforschend ablaufen. Das ist das, was ich gelernt habe: Es reicht nicht, die Fakten zu erzählen. Die Fakten sind kalt. Grundsätzlich ist die Zahl der Opfer erst einmal etwas Kaltes. Schicksale, einzelne Lebensläufe kann man nicht nur über einen Text erzählen, finde ich. Aber über Bilder kann man Leben sehr gut erzählen. Diese Schicksale, die Plastizität des Materials und das was noch da ist und das was schon weg ist und das was uns, wie die Zeit selbst, durch die Finger rinnt.
Wichtig war es für mich auch, die Scheuklappen vor der eigenen Geschichte zu verlieren und diese öffentlich zu machen. Ich habe festgestellt, dass es viele Menschen gibt, die Familienforschung betreiben, mein Vater betreibt auch Familienforschung, bis ins 17. Jahrhundert zurück. Aber die Angst davor zu verlieren, mit anderen auch über die negativen Seiten zu sprechen, das zumindest habe ich gelernt. Und das ist, ich habe das in dem Essay auch geschrieben, nicht zuletzt auch eine Art emotionaler Reifeprozess.

Im Jahr 2019 war ich in Fałków, das ist der Ort in dem Walerian Wróbel lebte, bevor er zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. Ich wusste, dass es dort ein kleines Heimatmuseum gibt, mit einer Ecke wo seine Geschichte erzählt wird. Leider hatte das Museum geschlossen, als wir da waren. Aber es war klar, dass dort jede*r die Geschichte kennt – oder zumindest fühlte es sich für mich so an, vollkommen irrational vermutlich. Und ich fahre dorthin mit einem deutschen Kennzeichen am Auto, bei mir meine Frau und ein Freund, der Polnisch sprechen kann und in der kleinen Pizzeria vermittelt. Wir fragten nach der Familie Wróbel. Irgendwann erklärte man uns, dass es noch eine Familie dieses Namens gebe. Ich habe immerzu gedacht, wenn ich jetzt jemanden aus der Familie von Walerian treffe, wenn ich an dem Haus vorbei gehe, dann kommt jemand aus der Tür und erkennt mich als Deutschen. Dann werden sie fragen „… seid ihr die gewesen, damals die Walerian …?“. Das klingt total bescheuert, wenn man das sagt, aber dieses Kopfkino hat wirklich so stattgefunden.
Und ich fühlte mich unglaublich unwohl. Ein unglaubliches Unwohlsein überkam mich.

Und dennoch: Ich habe im Laufe meiner Arbeit festgestellt, dass man mir, selbst in Gesprächen mit Menschen aus Opferfamilien, mit sehr viel Offenheit begegnete. Das ist für mich ein ganz starker Lerneffekt und ein Anreiz weiterzumachen und sich auch mit der anderen Familiengeschichte auf ähnliche Art zu beschäftigen.

 

Das Interview mit Stefan Weger führte Annette Schuhmann am 2. November 2021 in Berlin.

 

Weitere Fotos sowie der Nachdruck des Essays aus dem Künstlerbuch "Luise. Archäologie eines Unrechts" von Stefan Weger wurden bei Visual-history veröffentlicht. 


 

[1] Mirna Funk, Winternähe, S.Fischer Verlag, 2017.

[2] Gustav Schminck-Gustavus, Das Heimweh des Walerjan Wróbel. Ein Sondergerichtsverfahren 1941/42. Dietz Verlag, Bonn 1986.

[3] Trauer ohne Tränen. Nach der Erinnerungskultur ist der der Buchtitel der aktuellen Monographie von Per Leo, erschienen im Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021.