Veröffentlicht am 19. Juli 2016
Aus dem Polnischen übersetzt von Maria Albers
Als Wissenschaftlerin, die sich mit der aktuellen polnischen Erinnerungskultur – und damit auch mit dem eigenen kulturellen Umfeld – beschäftigt, kann ich den neuesten Erinnerungsboom kaum übersehen. Dabei handelt es sich vor allem um das forcierte Gedenken an die sogenannten Verstoßenen Soldaten. Die polnische Erinnerungskultur konzentriert sich gegenwärtig in hohem Maße auf die militärische und politische Geschichte des Landes, auf große historische Ereignisse und die Leistungen der polnischen Armee. Diese Erinnerungskultur ist männlich, katholisch, ethnisch polnisch, zentralisiert, antikommunistisch und in jeder Hinsicht normativ. Zwar gibt es darin auch innovative, abweichende und kritische Elemente, diese nehmen jedoch stets auf die beschriebene Fokussierung der Erinnerungskultur Bezug, reagieren darauf und verarbeiten sie. Der „Boom der Verstoßenen“ treibt diese Form des Gedenkens allerdings ins Extreme.
Wer waren die „Verstoßenen Soldaten“?
Der Ausdruck „Verstoßene Soldaten“ ist ähnlich wertend wie der seltener gebrauchte Terminus der „Standhaften Soldaten” und wird daher im Folgenden nur in Anführungszeichen benutzt. Das historische Geschehen, auf das er sich bezieht, ist der polnische antikommunistische Untergrund, der sich ab 1944 formierte. Damals rückte die Rote Armee schrittweise in die bis dahin von Deutschland besetzten Gebiete vor. Über 50 Jahre lang wurde dieser Prozess von der polnischen Geschichtsschreibung, Publizistik und Politik als Befreiung bezeichnet. Nach 1989 wurde vermehrt von einer Einnahme der Gebiete durch die Rote Armee gesprochen, nicht selten auch vom Beginn einer neuerlichen, diesmal sowjetischen, Besatzung, die in der unfreien Volksrepublik Polen bis 1989 andauern sollte.
Während des Zweiten Weltkrieges existierte in den polnischen Gebieten, unter deutscher bzw. sowjetischer Besatzung, ein komplexes konspiratives Netzwerk – der polnische Untergrundstaat –, zu dem auch eine Untergrundarmee gehörte, die überwiegend aus Partisanenverbänden bestand. Nicht alle Einheiten dieser Armee lösten sich mit der Kapitulation Deutschlands und dem Kriegsende in Europa auf. Dies galt insbesondere für die Verbände, die dem nationalistischen Untergrund zuzurechnen waren. Nach Schätzungen von Historikern des Instituts für nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) verfügte der gegen die Sowjetunion und den von ihr installierten neuen polnischen Staat gerichtete antikommunistische Untergrund unmittelbar nach Kriegsende bereits über mehrere Tausend Soldaten, die sich zumeist in den Wäldern versteckt hielten. In den folgenden Jahren sollten sich insgesamt etwa 20.000 Personen diesen Partisanenverbänden anschließen.[1] Diese Soldaten setzten dem neuen System und seinen Funktionären durch Angriffe auf Dienststellen der Miliz und Vertreter des Staatssicherheitsdienstes, durch die Befreiung von Gefangenen oder andere bewaffnete Aktionen effektiv zu. Dieser Kampf gegen die neue Staatsmacht durch den Untergrund galt nach Ansicht einiger Historiker als die „ernsthafteste Bedrohung“ für die Volksrepublik, die wiederum „das Gros ihrer Kräfte gegen ihn einsetzte“[2]. Die Hoffnung der Soldaten, einen souveränen Staat zu erkämpfen, blieb jedoch unerfüllt. Das Verharren im Widerstand musste auf lange Sicht tragisch enden. Marcin Zaremba, der Autor des wichtigen Buches „Die große Angst“, das die Jahre 1944 bis 1947 in Polen behandelt, fasst diesen Befund so zusammen:
„Ohne den vielen Soldaten und Offizieren des antikommunistischen Untergrundes, die entschlossen waren, für ein freies und unabhängiges Polen zu kämpfen, ihren Heroismus absprechen zu wollen, kann nicht übersehen werden, dass sich ihr Kampf langsam immer häufiger in eine grausame Karikatur seiner selbst verwandelte.“[3]
Dabei ging es um mehr als nur um das schleichende Gefühl, einen aussichtslosen Kampf zu führen, die wegbrechende Unterstützung der Zivilbevölkerung und das Zusammenschrumpfen der Partisanenverbände zu kleinen Gruppen. Es ging darum, dass in einer für „Zeiten des Chaos und Zerfalls“[4] typischen Weise das Handeln einiger Soldaten kaum mehr vom Banditentum zu unterscheiden war. Es kam nicht nur zu Raubüberfällen, sondern auch zu schwereren Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Diese waren oft antisemitisch motiviert oder richteten sich gegen nationale Minderheiten und glichen ethnischen Säuberungen. So verübten beispielsweise 1946 die von Romuald „Bury“ Rajsas befehligten Einheiten an der in Podlachien lebenden belarussischen Bevölkerung Verbrechen, die laut dem IPN Merkmale eines Genozids aufwiesen.[5] In der Region Podhale griffen Verbände unter dem Kommando von Józef „Ogień“ Kuras Juden an, die den Holocaust überlebt hatten. Wie die Spezialistin für polnisch-jüdische Beziehungen Alina Cała betont, wurden Juden vom antikommunistischen Widerstand oftmals bezichtigt, mit dem Kommunismus zu sympathisieren, und „diese Vorwürfe legitimierten Feindschaft, Gewaltakte und Morde, seien es politisch motivierte oder Raubmorde“. So habe „die bewaffnete Partisanentätigkeit für Juden oft eine tödliche Gefahr“ dargestellt.[6]
Apologetisches Gedenken an die „Verstoßenen Soldaten“
Gegenwärtig können wir jedoch beobachten, wie die komplexen und ambivalenten Schicksale dieser Personen, die oft mit einem tragischen Tod oder im Gefängnis endeten, auf eine ganz einfache und eindeutige Formel gebracht werden, und zwar von offizieller Seite. So erklärte das polnische Parlament im Jahr 2011 den 1. März zum „Nationalen Gedenktag der verstoßenen Soldaten“, die im entsprechenden Gesetz als „Helden des antikommunistischen Untergrunds“ bezeichnet werden, „die sich durch die Verteidigung der Unabhängigkeit des polnischen Staates und den Kampf um Selbstbestimmung und die Verwirklichung der demokratischen Bestrebungen der polnischen Gesellschaft, mit der Waffe in der Hand oder auf anderem Wege gegen die sowjetische Aggression und das gewaltsam aufgezwungene kommunistische Regime auflehnten“.[7] Verabschiedet wurde das Gesetz von einem Sejm, in dem eine zentristisch-liberale Koalition aus Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) und Polnischer Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe, PSL) die Mehrheit stellte. Unterzeichnet wurde es vom damaligen Präsidenten Bronisław Komorowski (PO).[8]
Der in den 1990er Jahren geprägte Terminus[9] der „Verstoßenen Soldaten“ ist damit ein Sammelbegriff, unter dem undifferenziert alle Mitglieder der antikommunistischen Partisanenbewegung zusammengefasst werden, die ihren Kampf nach 1945 fortsetzten. Bis 1989 stellten die „Verstoßenen“ verständlicherweise ein Tabuthema dar, es sei denn, sie wurden als Banditen beschrieben. Heute werden damit umgekehrt, aber auf ähnlich gleichmacherische Weise, Helden, tragische Figuren, zwielichtige Abenteurer und Verbrecher in eine Reihe gestellt. Ehrenhafte Widerstandskämpfer wie Witold Pilecki finden sich gleichgesetzt mit Männern vom Schlage „Burys“, dem völkermordartige Verbrechen zur Last gelegt werden. Ihnen allen soll als „verstoßenen Soldaten“ Ehrerbietung für ihren patriotischen Verdienst an einer letztlich zwar erfolglosen, aber edlen Aufopferung entgegengebracht werden. Diese Simplifizierung ist dabei kein Hindernis für die angestrebte Erinnerungskultur, sondern im Gegenteil gerade ihre Triebkraft.
Die Basis dieses Handelns stellt der Antikommunismus dar, der zum zentralen Wert der gegenwärtigen polnischen Erinnerungskultur bestimmt wurde. In diesem Punkt überlagern und verstärken sich die unterschiedlichen seit 1989 verfolgten Geschichtspolitiken gegenseitig. Ohne die im 21. Jahrhundert neukonzipierte Narration über den Warschauer Aufstand von 1944 wäre der Boom um die „verstoßenen Soldaten“ in dieser Form nicht möglich. Eine der bedeutendsten „erinnerungspolitischen“ Institutionen in Polen ist heute das spektakuläre Museum des Warschauer Aufstands. In diesem wird die Geschichte des Aufstands gegen die nationalsozialistischen Besatzer Warschaus mit Hilfe einer „antikommunistischen“ Botschaft dargestellt und vermittelt. Als „Kommunisten“ werden dabei gleichermaßen der den Polen seine Hilfe verweigernde Stalin, die Soldaten der Roten Armee, die nach deren Einmarsch installierte Übergangsregierung, deren Beamte und alle mit ihr verbundenen Personen bezeichnet. Diese „Kommunisten“ werden als Gegner der Aufständischen dargestellt und damit den Deutschen gleichgesetzt, gegen die doch ihre militärischen Aktionen gerichtet gewesen waren.[10]
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Abb. 1: Titelabbildungen der rechtskonservativen Illustrierten „W sieci“ und „Do rzeczy“, auf denen die „Verstoßenen Soldaten“ sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Warschauer Aufstands dargestellt wurden.
Mit freundlicher Genehmigung von Maria Kobielska
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Die „Verstoßenen“ verfügen – bislang – über keine eigene Organisation. Dennoch wird ihr Gedenken zunehmend institutionalisiert, und zwar sowohl auf staatlicher Ebene, wovon nicht zuletzt besagtes Gesetz zeugt, als auch auf lokaler Ebene. Statt als Vertreter einer verwickelten Geschichte, die aufmerksam und kritisch reflektiert werden sollte, finden die „Verstoßenen“ schlicht als Helden Eingang in die dominierende polnische Erinnerungskultur. Der amtierende polnische Staatspräsident Andrzej Duda von der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) übernahm 2016 die Schirmherrschaft über die polenweiten Gedenkveranstaltungen zum 1. März mit Hunderten von Märschen, Wettbewerben, Festveranstaltungen, historischen Reenactments, Treffen und sogar Sportwettbewerben zu Ehren der „Verstoßenen“. An einem Großteil der Veranstaltungen war auch die katholische Kirche beteiligt.[11] Die zentralen Gedenkveranstaltungen in Warschau fanden unter Teilnahme des Garderegiments der Polnischen Armee und des Verteidigungsministers statt und umfassten unter anderem zwei Messen – eine wurde in der Feldkathedrale der Polnischen Armee und eine in der Johanneskathedrale gefeiert –, einen Appell am Grabmal des Unbekannten Soldaten und einen abendlichen „Marsch der Erinnerung“; Präsident Duda verlieh besonders verdienten Personen Orden und Generalstitel. Das Gedenken an die „Verstoßenen“ zeigte sich unmissverständlich als der Teil der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dem die gegenwärtige Regierung sehr große Bedeutung beimisst.[12]
Das öffentliche Fernsehen ist bei der Vermittlung dieser Geschichtspolitik ein für die Regierung nützliches Medium. Ihr wichtigster Sender TVP 1 strahlte am 1. März 2016 eine eineinhalbstündige Live-Sendung über die staatlichen Veranstaltungen zum „Nationalen Gedenktag“ aus. Weitere 120 Minuten waren im Programm für die eigens zu diesem Anlass produzierte Musikshow „Ehre den Standhaften“ reserviert. In einer zusätzlichen halben Stunde wurde über die Arbeiten eines archäologischen Teams berichtet, das die Leichname von „Verstoßenen“ exhumiert, die in den 1940er und 1950er Jahren zum Tode verurteilt und exekutiert wurden. Der Sender TVP 2 zeigte einen Dokumentarfilm und ein Theaterstück über das Schicksal der „Verstoßenen“. Ähnlich sah es beim Geschichtssender TVP Historia aus, der zudem die Berichterstattung über die Feierlichkeiten ausstrahlte.
Ein Blick in die wichtigsten überregionalen rechtskonservativen Wochenmagazine, die die Politik der aktuellen Regierung unterstützen (vor allem natürlich die Ausgaben um das Datum des 1. März 2016 herum), zeigt, dass die Erinnerung an die „Verstoßenen“ inzwischen fest in der polnischen Kultur und im öffentlichen Leben verankert ist. Von den drei wichtigsten dieser Magazine hatte lediglich „Do rzeczy“ keine Extrabeilage zum Thema, brachte jedoch fünf Artikel, die sich diesem Thema in unterschiedlicher Breite widmeten. Hinzu kamen mindestens acht Werbebeiträge und Anzeigen, die sich auf die „Verstoßenen“ bezogen. „W sieci“ stellte eine über dreißig Seiten starke Beilage unter dem Titel „Die Rückkehr der Standhaften“ zusammen, die Tageszeitung „Gazeta Polska“ einen zwanzigseitigen Textblock unter dem Titel: „Die Verstoßenen Soldaten“.
Die Autoren all dieser Beiträge und Interviews, die verschiedenen, jedoch ausschließlich positiven Aspekten der Geschichte der „Verstoßenen“ gewidmet sind, feiern die Verankerung der Erinnerung an die „Verstoßenen“ im Geschichtsbewusstsein der Polen als großen Erfolg. Dieses Triumphgefühl zeigt sich in der immer wiederkehrenden Metapher der „Wiederbelebung der 'Verstoßenen'“. In der konservativen Tageszeitung „Gazeta Polska“ stellt Wojciech Mucha fest: „[D]ie Untergrundarmee kehrt zurück. Sie gehen auf die Straßen, kommen in die Schulen, bringen die Dritte Republik unter Kontrolle […], ohne einen einzigen Schuss abzugeben.“[13] In einem „W sieci“-Interview mit dem Titel „Die Verstoßenen hält niemand mehr auf“ versichert der Historiker Krzysztof Szwagrzyk, der an der Exhumierung der Gebeine von „Verstoßenen“ beteiligt ist, dass die Soldaten „zurückkehren, und dies nicht nur medial […], sie kehren wahrhaftig zurück“.[14] An anderer Stelle informiert ein Artikel unter der Überschrift „Die Verstoßenen gehen in die Schulen“ über ein Bildungsprojekt für Oberstufenschüler.[15] Die „Verstoßenen Soldaten“ erscheinen in den verwendeten Metaphern als stark, aktiv, siegreich und mit der Macht ausgestattet, die polnische Realität zum Besseren zu verändern.
Bei genauerer Betrachtung besagter Wochenzeitschriften zeigt sich, dass sich das Thema auch wirtschaftlich ausschlachten lässt. Eine Reihe von Firmen nutzt die „Verstoßenen“ gerne zur Eigenwerbung. Nicht zufällig sind dies vor allem große Unternehmen, an denen der Staat Anteile hält. Partner der erwähnten „W sieci“-Beilage ist etwa die Stiftung des polnischen Energiekonzerns PGNiG. In Werbespots und auf Bildern zu deren patriotischer Hilfsaktion „Wir erwärmen polnische Herzen“ nehmen zwei erfolgreiche polnische Handballspieler einen Veteranen der Untergrundarmee in ihre Mitte. Bei der Eröffnungsveranstaltung dieses Projektes sprach auch Vizepremier und Kulturminister Piotr Gliński. Die Rückseite der Beilage der „Gazeta Polska“ wiederum zierte eine Anzeige der Versicherungsgesellschaft PZU, die darin erklärt, sie unterstütze „seit Jahren wichtige Aktionen zur Förderung von Kultur und der Wahrung des historischen Gedächtnisses“. Und das Bankinstitut PKO BP hüllte seinen Warschauer Hauptsitz, die sogenannte Rotunde im Zentrum der Stadt, in ein riesiges Banner, das ebenfalls auf die „Verstoßenen“ Bezug nahm: Es zeigte den Schriftzug „1. März Nationaler Gedenktag der verstoßenen Soldaten“, eine Collage von Fotografien „Verstoßener“, die Daten 1944 bis 1963 - im Jahr 1963 wurde der letzte, sich versteckt haltende Partisan erschossen -, das Logo der PKO BP und die Aufschrift „Danke“. Die Erinnerung an die „Verstoßenen“ wird also von einem institutionellen Machtgeflecht verbreitet und genutzt, daran beteiligt sind der Präsident, die Regierung, die katholische Kirche und diverse Großkonzerne.
Der volkstümliche Hintergrund der Kampagne
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Abb. 2: Graffiti bzw. Mural (Wandbild) von Witold Pileckis mit dem Schriftzug "Verstossene Soldaten / Ehre ihrem Gedenken". Foto: Wojciech Wilczyk, Łódź 2014.
Mit freundlicher Genehmigung von Maria Kobielska
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Die „Verstoßenen“ sind jedoch nicht aus dem Nichts in der polnischen Erinnerungskultur aufgetaucht. Bereits seit einiger Zeit geistern sie als Objekte spontaner, „amateurhafter“ Aktionen durch die Gesellschaft. Inzwischen wurde das Gedenken jedoch zunehmend professionalisiert. Zugleich treten der aggressive Charakter dieses Gedenkens, seine Mechanismen und seine Konsequenzen zutage. Geschichtspolitik kann ihre Wirkung nur in einer Gesellschaft entfalten, die ein starkes Bedürfnis hat, sich ihre Geschichte in Erinnerung zu rufen. Dann nämlich verschmelzen spontane Bürgerinitiativen mit der von Staat und Medien verfolgten Politik, so dass beide Seiten sich gegenseitig stärken. Im konkreten Fall zeigt sich das beschriebene gesellschaftliche Bedürfnis nach der Präsenz der „Verstoßenen“ in der Subkultur der Fußballfan-Szene, in Form von Transparenten und Inszenierungen im Stadion und an Graffitis. Der Fotograf Wojciech Wilczyk[16] hat im Rahmen seines Projektes Heiliger Krieg auf Hunderten von Fotografien entsprechende Transparente, Objekte und Graffitis festgehalten. Im Jahr 2014 fotografierte Wilczyk[17] in Łódź ein typisches Beispiel für „historische Graffitis“: ein Mural (Wandbild), das aus einem Porträt Witold Pileckis und den in großen, dicken Buchstaben verfassten Zeilen „VERSTOSSENE SOLDATEN / EHRE IHREM GEDENKEN“ besteht (Abb. 2). Die zweite Zeile ist rot unterlegt, was zugleich die Assoziation an „vergossenes Blut“ und die „polnische Flagge“ weckt. In direkter Nachbarschaft zu diesem Graffiti findet sich ein an eine Wand geschmiertes „ŚŻK” – laut dem Glossar, das Wilczyk seinem Fotoband Heiliger Krieg beigefügt hat, ein Akronym für „śmierć żydowskiej kurwie“ (dt. „Tod der jüdischen Schlampe“), ein antisemitischer Slogan, den die Fußballfans des Łódźer Vereins, ŁKS, als verächtliche Bezeichnung für die Fans des Konkurrenzklubs Widzew benutzen.[18] Seit Wilczyks Fotoprojekt sind viele Graffitis, die die „Verstoßenen“ thematisieren hinzugekommen, Fußballfans wie patriotische Vereine gleichermaßen, ja sogar Stadtverwaltungen stellen ganze Dokumentationen über sie ins Internet. Meist werden diese nicht als Graffitis, sondern als Mural (Wandgemälde) bezeichnet, um ihnen einen ernsthafteren, anspruchsvolleren Charakter zu verleihen:
In Łowicz: „Weil sie nach Wolfsgesetzen lebten / hat die Geschichte sie beschwiegen. VERSTOSSENE SOLDATEN / ŁOWICZ GEDENKT EURER“ und „VERSTOSSENE SOLDATEN / RUHM UND EHRE DEN HELDEN“
In Kalisz: „Diese standhaften Menschen folgten einem einfachen Leitgedanken / der Krieg ist vorbei, wenn Polen frei ist“
In Piła: „Im Gedenken an euch, verstoßene Soldaten“
Diese jeweils grafisch ausgefeilten Schriftzüge werden durch Bilder ergänzt. Meist sind dies die weiß-rote Flagge Polens, die oft den gesamten Hintergrund ausfüllt, oder der weiße Adler, bisweilen in seiner kanonischen Form, in der er auf dem polnischen Wappen zu sehen ist, ein Wolfskopf, das Porträt eines oder mehrerer „Verstoßener“, Symbole des nationalistischen Partisanenverbandes Nationale Streitkräfte – oder der Anker Polska Walcząca (dt. „Kämpfendes Polen“) als bekanntes Symbol des Untergrundstaates im Zweiten Weltkrieg.
Im gesamten Land mehren sich derartige Gedenkformen und -anlässe, wodurch sich der Diskurs von einem Nischen- zu einem Mainstream-Phänomen wandelt. So wird beispielsweise im Krakauer Stadtmuseum eine Ausstellung zum polnischen Untergrund gezeigt, die mit der Abteilung „Das Erbe des polnischen Untergrundstaates“ abschließt. Veranschaulicht wird dieses Erbe unter anderem durch die Fotografie eines „patriotischen“ Accessoires zu einem Fußballspiel – eines riesigen Transparents mit der Aufschrift „Patriot, für die ,Streifen‘ [umgangssprachliche Bezeichnung für den Fußballverein KS Cracovia], fürs Land, zum Kampf mit dem Feind, steh bereit“ und dem erwähnten Ankersymbol. Dieser patriotische Code steht in einer Reihe mit dem Fan-Code und auch mit dem antisemitischen Code.[19] Die erklärte Vaterlandsliebe wird mit der Liebe zum eigenen Club verbunden, der Kampf um Polen – von den „Verstoßenen“ verstanden als Kampf für ein ethnisch „reines“ Polen – gleichgesetzt mit dem ewigen Kampf gegen den „feindlichen“ Lokalrivalen. Die Professionalisierung des Gedenkens zeigt sich nicht zuletzt auch im wachsenden Markt sogenannter „patriotischer Bekleidung“. Die von diesen Slogans angesprochenen Patrioten können sich mit Designer-T-Shirts und Hemden „uniformieren“. Besonders erfolgreich in diesem Geschäft ist die Firma „Red Is Bad“, deren Name bereits ein ausgrenzendes Verständnis von „Patriotismus“ und „Polentum“ signalisiert. Die „Verstoßenen“ bilden ein zentrales Motiv der Marke. Eine solche Manifestation des Gedenkens wirkt besonders stark, denn sie hat zugleich einen öffentlichen, gemeinschaftsbildenden Charakter und bindet die einzelne Person physisch mit ein, ähnlich wie eine Kriegsbemalung.
Embleme des patriotischen Gedenkens
Wie die aufgeführten Beispiele verdeutlichen, operiert die Erinnerung an die „Verstoßenen“ mit fest definierten Emblemen. Zunächst ist da die Benennung selbst, die die Bezeichneten wie ein Schild umgibt und hinter der das Narrativ steckt, dass diese Soldaten von der Geschichtsschreibung „verstoßen“ worden seien und damit aus der Erinnerung der Gesellschaft getilgt wurden. Nun, nach langen Jahren ungerechten Verschweigens, würden die „Verstoßenen“ endlich ihren rechtmäßigen Platz wieder einnehmen. Das zweite wichtige Element sind die Pseudonyme, die die tatsächlichen Namen der Partisanen ersetzen oder diesen wenigstens beigefügt werden. Denn diese Pseudonyme verleihen ihnen etwas Romantisches, Konspiratives. Ein drittes Emblem sind die weitverbreiteten, oben bereits zitierten Verse aus Zbigniew Herberts Gedicht Wölfe aus dem Band Rovigo (1992), welche sich in der Fabel-Manier Äsops auf die Untergrundkämpfer beziehen: „weil sie nach Wolfsgesetzen lebten / hat die Geschichte sie beschwiegen“. Damit verbunden ist schließlich das vierte immer wiederkehrende Element: das Bild des Wolfes, der als Metapher für den Partisanen und sein Schicksal dient. Fünftens schließlich suggeriert die dominierende Narration, alle Partisanen hätten derselben Organisation, nämlich den Nationalen Streitkräften (pl. Narodowe Siły Zbrojne, NSZ) angehört. Ihren Pseudonymen oder Konterfeis wird das sogenannte NSZ-Kreuz beigefügt, welches, als Orden stilisiert, den bekrönten Adler und die Abkürzung dieser radikalnationalistischen Untergrundorganisation kombiniert. Dieser Eindruck entspricht jedoch nicht den historischen Fakten. Die Nationalen Streitkräfte waren zwar eine wichtige, aber bei weitem nicht die größte militärische Untergrundorganisation.[20] Einige der heute beliebtesten Gestalten – wie etwa der erwähnte Pilecki, der oft mit dem NSZ-Kreuz abgebildet wird – hatten in Wirklichkeit gar keine Verbindungen zu diesem Lager. Sechstens hat die Erinnerung an die „Verstoßenen“ einen apologetischen Charakter: Sie blendet die oben erwähnten Verbrechen an der Zivilbevölkerung, die von den Nationalen Streitkräften und anderen Verbänden begangen wurden, völlig aus bzw. verschleiert sie. Stattdessen werden die Soldaten ausschließlich als Helden dargestellt, die gegen die Verräter – die „Kommunisten“ – kämpften.
Die Verkürzung auf Symbole, aber auch die Professionalisierung der „Erinnerungsmechanismen“ lassen sich besonders gut an dem ersten Spielfilm über die „Verstoßenen“ zeigen: Jerzy Zalewskis Rojs Geschichte (Historia Roja), der am 4. März 2016, also nur wenige Tage nach dem nationalen Gedenktag, in die Kinos kam. Der Film ist künstlerisch nicht besonders ambitioniert und lockte nur etwa 220.000 Zuschauer in die Kinos.[21] Zum Vergleich: Den jüngsten Film über den Warschauer Aufstand Warschau ’44 (Miasto ’44) aus dem Jahr 2014 sahen rund 1,75 Millionen Menschen in Polen. Aufschlussreich sind jedoch die Einstellungen und Bewertungen, die in Filmkritiken zum Ausdruck kamen. Jakub Majmurek, Filmkritiker und Publizist der linken Tageszeitung „Dziennik Opinii“, wies auf die unrühmliche Parallele zwischen Rojs Geschichte und der oben beschriebenen Fußball-Fankultur hin. Beide hätten eine sehr simple Aussage: „Würde man [...] versuchen, die 'Idee' hinter Rojs Geschichte zu rekonstruieren, so würde man nichts erhalten als die aus den Stadien und von den 'Unabhängigkeitsmärschen' her bekannten Parolen 'Tod den Feinden des Vaterlands!' [22], 'Hier ist Polen!', 'Kommunisten raus!', 'Mal mit der Sichel, mal mit dem Hammer gegen das rote Gesocks!'… und das zweieinhalb Stunden lang“.[23] Andrzej Horubała von der nationalkonservativen Wochenzeitung „Do rzeczy” teilt diese Ansicht und hat eine ähnliche Assoziation mit Stadionparolen, wertet dies aber als eine positive Eigenschaft des Filmes: „Zalewski schafft ostentativ ein polnisches Kino freier Polen. […] [In diesem] herrscht Heldentum, das wird nicht durch Ironie und Groteske gebrochen und entwertet. Als würde der Regisseur den vielstimmigen Ruf 'Ruhm und Ehre den Helden!' aufnehmen“.[24]
Programmatische Vereinfachungen des Narrativs
In Rojs Geschichte gibt es eine Szene, die wohl am besten demonstriert, was Majmurek kritisiert und Horubała begrüßt. Der verletzte „Roj“ wacht an einem ihm unbekannten Ort auf und stellt fest, dass er von einer Aristokratin gepflegt wird. Auf seine Frage hin, wo er sich befinde, beruhigt sie ihn nicht etwa mit den üblichen Worten „Sie sind in X“ oder „an einem sicheren Ort“. Stattdessen erzählt sie ihm ausschweifend, dass sie sich auf ihrem parzellierten und in einen staatlichen Landwirtschaftsbetrieb umgewandelten Anwesen befänden, das nun von ihrem „ehemaligen Stallknecht“ verwaltet werde. Eine Feststellung, die von einem verächtlichen Schnauben begleitet wird. Es folgt ein Schlüsselmoment des Films: Als die Gräfin merkt, dass der verwundete Held am Sinn seines Kampfes zu zweifeln beginnt, kann sie nicht anders, als seine Prioritäten wieder zurechtzurücken: „Wenn du anfängst, dir über die Sinnhaftigkeit deines Handelns den Kopf zu zerbrechen, hast du verloren. Gott, Ehre, Vaterland [die klassische Trias der polnischen patriotischen Werte] geben dir nur dann Kraft, wenn du den Sinn dieser Begriffe nicht in Frage stellt“.
Zweifel, Reflexion und kritisches Denken bedrohen folglich die hochzuhaltenden Werte. Das „Kino freier Polen“ wie Horubała seinen Artikel betitelt beruht ausschließlich auf solch „programmatischer Gedankenlosigkeit“ (aus dem Titel Majmureks) und heißt diese gut. Als freier Pole, so die Logik, brauche man nicht zu interpretieren, zu reflektieren, sich auf allzu komplizierte Gedankengänge einzulassen: Die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Machen gelten in dieser Logik als Instrumente der Unterdrückung. Freiheit sei Eindeutigkeit. Es wird ein Schwarz-Weiß-Bild der Vergangenheit angeboten, in der es keine Auseinandersetzungen, keine ideologischen Konflikte, keine schwierigen Entscheidungen und keinen historischen Kontext gibt. Es gibt nur kommunistische Verräter und Antikommunisten, wobei die Letztgenannten stets im Recht sind. Vereinfachung ist das Hauptmerkmal des Erinnerungsbooms, der folglich nicht als Basis für eine komplexe Filmerzählung taugt, sich dafür aber bestens als T-Shirt-Aufdruck eignet und in die Geschichtspolitik der aktuellen Regierung einfügt.
[1] Rafał Wnuk/Sławomir Poleszak, Zarys dziejów polskiego podziemia niepodległościowego 1944–1956, in: Atlas polskiego podziemia niepodległościowego 1944-1956, IPN, Warszawa-Lublin 2007, S. XXXIV.
[2] Ebd.
[3] Marcin Zaremba, Die große Angst. Polen 1944–1947: Leben im Ausnahmezustand, Paderborn 2016, S. 267.
[4] Ebd., S. 273.
[5] Siehe Instytut Pamięci Narodowej:Informacja o ustaleniach końcowych śledztwa S 28/02/Zi w sprawie pozbawienia życia 79 osób - mieszkańców powiatu Bielsk Podlaski w tym 30 osób tzw. furmanów w lesie koło Puchał Starych, dokonanych w okresie od dnia 29 stycznia 1946r. do dnia 2 lutego 1946 [dt. Information über die abschließenden Ergebnisse der Untersuchung S 28/02/Zi zum Mord an 79 Einwohnern des Landkreises Bielsk Podlaski, darunter 30 sogenannter Kutscher im Wald bei Puchały Stare, zwischen dem 29. Januar 1946 und 2. Februar 1946].
[6] Alina Cała, Ochrona bezpieczeństwa fizycznego Żydów w Polsce powojennej. Komisje Specjalne przy Centralnym Komitecie Żydów w Polsce, ŻIH, Warszawa 2014, S. 17. Dort finden sich auch Angaben zu weiteren von den Nationalen Streitkräften verübten Verbrechen an Juden.
[7] Ustawa z 3 lutego 2011 r. o ustanowieniu Narodowego Dnia Pamięci „Żołnierzy Wyklętych”, Dz. U. Nr. 32, Pos. 160. [dt. Das Gesetz vom 3. Februar 2011]
[8] Die Gesetzesinitiative geht auf Komorowskis rechtskonservativen Vorgänger Lech Kaczyński zurück, der bei der Flugzeugkatastrophe von Smolensk 2010 ums Leben kam.
[9] Umstritten ist, von wem dieser Begriff erstmals verwendet wurde und auf welchem Weg er Verbreitung fand. Im Allgemeinen wird jedoch auf einen Kreis von Historikern und Publizisten verwiesen, die mit der in den 1990er Jahren wirkenden rechtskonservativen Organisation Republikanische Liga in Verbindung standen, der bekanntesten unter den Organisationen, die 1993 gegen die Regierungsübernahme durch das postkommunistische Bündnis der Demokratischen Linken (Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD) protestierten.
[10] Zum Museum des Warschauer Aufstandes: Monika Żychlińska/Erica Fontana, Museal Games and Emotional Truths: Creating Polish National Identity at the Warsaw Rising Museum, “East European Politics & Societies”, published online before print May 11, 2015; Maria Kobielska, Muzeum Powstania Warszawskiego: polityka pamięci i powstańcze afekty, in: Ryszard Nycz (Hg.)/Roma Sendyka, Pamięć i afekty, Wyd. IBL PAN, Warszawa 2014, S. 323–341.
[11] Eine Liste der Schirmherrschaften findet sich auf der offiziellen Webseite des Präsidenten.
[12] Eine Ausnahme bildet die Katastrophe von Smolensk, bei der sich allerdings der Bereich der Erinnerungspolitik besonders stark mit anderen aktuellen politischen Themen verbindet.
[13] Wojciech Mucha, Armia z innego świata, in: „Gazeta Polska”, 02.03.2016, S. 13.
[14] Wyklętych już nikt nie zatrzyma, mit Krzysztof Szwagrzyk spricht Mariusz Wilk, „Powrót niezłomnych”, in: Beilage zu „W sieci” vom 29.02.2016–06.03.2016, S. 9.
[15] Agnieszka Niewińska, Wyklęci wejdą do szkół, in: „Do rzeczy. Tygodnik Lisickiego”, 9/2016, S. 47.
[16] Wilczyk war zuvor vor allem für seinen Fotozyklus Niewinne oko nie istnieje (dt. Ein unschuldiges Auge gibt es nicht) bekannt, in dem er den aktuellen Zustand von Gebäuden dokumentiert, die zuvor Synagogen und Gebetshäuser waren.
[17] Wojciech Wilczyk, Święta wojna (2009-2014), Atlas Sztuki, Karakter, Łódź-Kraków 2014, S. 196.
[18] Ebd., S. 31.
[19] Vgl. Anna Zawadzka, Polska Walcząca, in: Święta wojna, op. cit., S. 14–16.
[20] Vergleiche die Tabelle Ilość i liczebność oddziałów podziemia niepodległościowego w Polsce w latach 1944-1956, in: Atlas polskiego podziemia niepodległościowego, op. cit., S. LX.
[21] Dies ist die nach vier Wochen Ausstrahlung erreichte Zuschauerzahl. In den Wochen danach fiel der Film nach Angaben der Gesellschaft der Polnischen Filmschaffenden aus der Liste der bestbesuchtesten Filme heraus.
[22] Diese und die folgende Parole – klare Beispiele symbolischer Gewalt – konnte man vielfach auf dem „Unabhängigkeitsmarsch“ am 11. November 2015 hören und sehen. Der jährlich stattfindende Marsch wird von rechtsradikalen Organisationen veranstaltet und versammelt seit 2010 stets viele tausend Teilnehmer – Tendenz steigend.
[23] Jakub Majmurek, Kino programowej bezmyślności, in: „Dziennik Opinii”, 63/2016 (1213).
[24] Andrezej Horubała, Jerzego Zalewskiego kino wolnych Polaków, in: „Do rzeczy. Tygodnik Lisickiego”, 9/2016, S. 48–49.
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