von Annette Schuhmann

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1. Oktober 2023

Am 25. September veröffentlichte die FAZ ein Interview mit der Autorin Charlotte Gneuß zu ihrem Roman Gittersee, mit dem sie vor ein paar Wochen auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand.[1] Das Interview drehte sich naturgemäß um Inhalt und Produktion des Romans, es kam allerdings auch eine sogenannte "Fehlerliste" zur Sprache, die in den Feuilletons und sozialen Medien bereits rezipiert wurde.
Die Romanerzählung spielt in den 1970er Jahren in der DDR, genauer: in Gittersee bei Dresden. Daran entzündete sich in den letzten Wochen eine Debatte, die sehr diffus um Fragen der Aneignung kreiste und darum, ob eine im Jahr 1992 geborene Autorin in der Lage sei, angemessen, also "authentisch", über die DDR zu schreiben und ob sie dies überhaupt "darf". Angestoßen wurde diese absurde Debatte durch den Leak einer "Fehlerliste", die sich der Autor Ingo Schulze bemüßigt sah zu verfassen. Ingo Schulze, in der DDR sozialisiert und doppelt so alt wie die Autorin, listet hierin in bester Studienratsmanier Formulierungen, Beschreibungen und Wortwahl auf, die in einen Roman über die DDR der 1970er Jahre seiner Meinung nach nicht hineingehören.
Zu einer solchen Beurteilung wurde er nach Aussage der Autorin nie aufgefordert, und schon gar nicht habe eine solche „Fehlerliste“ an die Presse oder gar die Jury des Buchpreises zu gehen, was sie auf unergründlichen Wegen jedoch tat. Es ist die Frage, wer mehr beschädigt wurde durch diese Debatte, die Autorin von Gittersee oder der Autor der "Fehlerliste".

Überhaupt wäre zu diskutieren, ob allein Herkunft und Sozialisation in der DDR bedeuten, eine besondere Expertise für die Geschichte dieses Land zu besitzen. Ein Land, das im Jahr 1989 knapp 17 Millionen Einwohner*innen zählte und sich in Lebenslage und Erfahrung ihrer Bürger*innen, klassenlose Gesellschaft hin oder her, doch erheblich unterschied.
Ich selbst habe 28 Jahre in der DDR gelebt, ausschließlich in Ostberlin. Ausdrücke und Redewendungen, die man in Zwickau, Plauen oder Wismar verwendete, konnte ich nicht immer deuten. Bei dem Besuch einer Hochzeit im Erzgebirge verstand ich die einheimischen Gäste nicht, die mit mir am Tisch saßen. Schaut man sich die Filme des indischen Absolventen der Filmhochschule Babelsberg Gautam Bora aus dem Jahr 1983 über bäuerliches Leben in Bärwalde (Fläming) an, war dieser ländliche DDR-Alltag weiter weg vom Leben im Prenzlauer Berg als das Westberliner Café Kranzler.[2]
Die "Fehlerliste" und die Motive ihrer Erstellung hier zu diskutieren, wäre aus meiner Sicht ebenso unwürdig wie es die Existenz derselben ist.
 

Und dennoch ist die aktuelle Debatte um die Deutung und Darstellung der (Lebens-) Erfahrungen der Ostdeutschen symptomatisch für eine von vielen wahrgenommen Kluft im eben doch nicht ganz zusammengewachsenen Deutschland.
Wenn es also nicht um die "richtige" Verwendung des DDR-Vokabulars geht, oder um die Frage, wer überhaupt über die Geschichte der DDR sprechen darf, worum geht es dann in den aktuellen Debatten, die mit dem Erscheinen der Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann einen neuen Schub erfahren haben?[3]

Forschungsarbeiten zur Vorgeschichte und Geschichte der DDR füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Die wissenschaftlichen Fragestellungen der Zeithistoriker*innen und daraus folgende Monographien, Sammelbände und Artikel sind in ihrer thematischen Breite derart umfassend, dass schon vor einigen Jahren die Vokabel „ausgeforscht“ mit einem Fragezeichen dahinter die Runde machte.[4] Die Diktaturgeschichte, die Geschichte des Eigensinns, der Industriearbeiter*innen, der Staatssicherheit, des Bildungssystems, der Eliten, der sozialen Frage (u.v.m.) und schließlich der Transformationszeit, also jener Zeit, in der die DDR in die Strukturen der Bundesrepublik übernommen wurde, sind zwar nicht aus-, jedoch sehr breit erforscht. Allein der Bibliothekskatalog des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung weist über 20.200 Titel zur DDR-Geschichte (seit dem Jahr 1989) und 217 Titel zur Transformationsgeschichte nach 1989 nach.

Und dennoch, viele in der DDR sozialisierte Menschen nehmen ein hohes Maß an Ignoranz gegenüber ihrer Geschichte, ihren Lebenserfahrungen und den harten Brüchen in ihren Biographien durch die Mehrheit der Westdeutschen wahr. Diese Wahrnehmung ist im Übrigen keine Täuschung, und sie hat Folgen: Während im Jahr 1992 die Frage, ob es eine spezifisch ostdeutsche Identität gebe, noch 69 Prozent der Befragten mit Ja beantworteten, waren es 2020 77 Prozent.[5] Das "absurde" an der DDR-Geschichte, so die 1986 geborene Autorin Anne Rabe, sei, dass sie sehr gut aufgearbeitet sei, es jedoch nicht geschafft habe, ihre Generation zu erreichen.[6] Der Soziologe Raj Kollmorgen stellt zudem fest, das sich die massenmedialen Diskurse zum Thema Ostdeutschland zunehmend aus den Politikseiten in die Bereiche Feuilleton und Unterhaltung bewegen, was unter anderem zu einer Exotisierung der Ostdeutschen führe, also zu einer "Thematisierung ihrer vermeintlichen Besonderheiten, Abweichungen und Anomalien gegenüber Westdeutschland".[7] Gleichzeitig wurden ostdeutsche "Empfindlichkeiten" und Transformationsprobleme nicht selten skandalisiert, Schlagworte dafür sind vor allem Stasi, Doping, Daueralimentierung.[8]

Die Identitätsprobleme der Ostdeutschen werden somit zwar von Soziolog*innen wie Raj Kollmorgen und Steffen Mau empirisch dicht untersucht, finden unter Zeithistoriker*innen in jüngster Zeit jedoch recht wenig Widerhall, sieht man von ausgewiesenen Experten wie Marcus Böick, Jens Gieseke oder Ilko Sascha Kowalczuk einmal ab.  
Stärkere Impulse, die Lebenswirklichkeiten der Ostdeutschen zu erforschen, gehen derzeit vielmehr von einer neuen Generation junger Autor*innen außerhalb der Geschichtswissenschaft aus. Autor*innen, wie die schon genannte Charlotte Gneuß (*1992), Anne Rabe (*1986), Matthias Jügler (*1984), Aron Boks (*1997) oder Felix Stephan (*1983), um nur einige zu nennen, stellen andere, nicht selten sehr unbequeme Fragen. Vor allem stellen sie diese Fragen nicht ausschließlich vor dem Aktenmaterial des Bundesarchivs, vielmehr richten sie diese sehr konkret an ihre ostdeutschen Eltern und Großeltern. Gefordert wird ein neues 1968. Und wem das noch zu "westdeutsch" klingt: Viele derjenigen, die sich jetzt zu Wort melden, wollen von ihren Eltern wissen, wie sie sich ihr Leben in der Diktatur eingerichtet hatten, wo und ob sie aufgestanden sind, anstatt zu schweigen, seit wann sie wussten, dass die hehren Ideale des Anfangs von einer parteipolitisch und ideologisch gefestigten Elite unter Zuhilfenahme eines in alle Bereiche des Lebens hineinwuchernden Überwachungsapparates desavouiert wurden. Damit machen sie sich, vor allem in Ostdeutschland, nicht immer beliebt. So beschreibt etwa Matthias Jügler, dass er nach dem Erscheinen seines Romans "Die Verlassenen", in dem er die Geschichte der Zerstörung einer Familie durch die Staatssicherheit erzählt, "reihenweise Leserpost" erhielt: "Der Ton dieser Mails glich sich in den meisten Fällen: Ziehen Sie, verdammt nochmal, unsere DDR nicht in den Dreck".[9]

Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" steht derzeit auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und gehört meiner Meinung nach zu den besten Büchern im Bereich Belletristik, die sich mit den Erfahrungswelten innerhalb und nach der Diktatur auseinandersetzen. Die (Gewalt-)Geschichte des Staatssozialismus, ebenso wie die traumatischen Erfahrungen der Transformationszeit wirken, so Rabe, bis heute nach. Die Autorin scheut keine Diskussion, ob es um den Rechtsextremismus in Ostdeutschland oder die Verklärung des real existierenden Sozialismus geht, und sie berichtet immer wieder von einem großen Schweigen bei ihren Lesungen in Ostdeutschland. Auch dieses Schweigen wertet sie als eine Folge der vielen Tabus, mit denen die Auseinandersetzung etwa der frühen Geschichte und der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der DDR belegt waren.[10]
Der Autor Felix Stephan (*1983) bezeichnet vor allem die Form der Komplizenschaft, des Mitläufertums, des "Mundhaltens" in der DDR als "wahnsinnig unterformuliert" in Literatur und Kunst. Nach Stephan gibt es mittlerweile großartige Schilderungen alternativer Milieus, des sich Zurückziehens oder Formen des Widerstandes, er fragt sich jedoch (und uns), wo denn die Schilderungen des Verrats, der Angepasstheit, des Mitläufertums bleiben. In seinem Roman "Die frühen Jahre" erzählt er nahezu beiläufig und aus der Perspektive eines Kindes vom Aufwachsen in einer Familie, die tief und hauptamtlich verstrickt war in die Arbeit der Staatssicherheit.[11] Charlotte Gneuß schließlich, stellt im oben genannten Interview die Frage, ob es vielleicht eines Tages heißen wird:
"2023, das war das Jahr, als die Kinder und Enkel begannen, Fragen zu stellen, die ihre Vorgänger nicht fragen wollten oder konnten."[12]
 

Aus Anlass des „Tages der Deutschen Einheit“ veröffentlichen wir auf zeitgeschichte|online drei neue Texte von jüngeren Historiker*innen, die sich mit Themen und Fragen zur DDR-Geschichte auseinandersetzen.

René Schlott hat den jüngsten der hier erwähnten Autoren, den 1997 geborenen Aron Boks interviewt. Dieses Gespräch zeigt recht deutlich, wie drängend Fragen der Zeitgeschichte auch für jene Generationen sind, von denen man noch vor ein paar Jahren meinte, dass ihre Herkunft, ob aus Ost oder West, völlig unerheblich sei. Aron Boks entdeckte nahezu zufällig die Geschichte seines Urgroßonkels, des Malers Willi Sitte, und schrieb in seinem Roman "Nackt in die DDR" über dessen Geschichte.

Karolina Bukovska schrieb für uns die Geschichte ihres Vaters auf, der Ende der 1970er Jahre aus der ostböhmischen Stadt Hradec Králové in der damaligen Tschechoslowakei zum Studium nach Dresden kam. Gibt es für die Geschichte migrantischer Erfahrungen in der der DDR mittlerweile recht umfangreiche Forschungen, gilt dies kaum für jene knapp 80.000 ausländischen Studierenden.[13]

Und Daniel Bosch schließlich, hat sich mit der Frühgeschichte des legendären Berliner Tierparks auseinandergesetzt. Die Geschichte des Prestigeprojekts "Tierpark", seiner Relevanz als Schaufenster-Projekt in Richtung Westen und der daraus folgenden Beobachtung durch die Staatssicherheit. Vor allem aber die Biografie des Zoologen Heinrich Dathe und seines Agierens in beiden deutschen Diktaturen zeigt Ambivalenzen, Aushandlungsprozesse, Anpassung und Möglichkeiten des Widerstandes in der DDR.

Ich wünsche einen nachdenklichen Feiertag!
Annette Schuhmann, 2. Oktober 2023

 

[1] Sandra Kegel, Was habt ihr eigentlich vor 1989 gemacht? In: FAZ vom 25.9.2023
[2] Andreas Kötzing, Fremde und eigene Blicke. Filme ausländischer Studierender in der DDR auf der Berlinale, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2023.
[3] Mehr dazu: DDR und Ostdeutschland - Ein aktueller Diskurs, Podcast Vergangenheitsformen, 31.8.2023.
[4] Thomas Lindenberger, Ist die DDR ausgeforscht? Unsere Zeitgeschichte zwischen nationalem Boom und Globalisierung, in: ZeitRäume, Hg. vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Göttingen 2015, S. 100 - 116 und: Kolonisierung des Ostens? Neue Debatten zur Geschichte der DDR und der Vereinigungsgesellschaft, in: YouTube-Kanal des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung (zuletzt: 30.9.23)
[5] Zu diesen Zahlen und ihrer Ergebung u.a. durch den Sozialreport 2014 und den Deutschland-Monitor 2020: Raj Kollmorgen, Ostdeutsche Identität(en)? bpb online, 22.3.2022, S. 8. (zuletzt: 30.9.2023)
[6] Sabine Voss, Grabungsfeld Ost. Romane über die DDR, eine Sendung des Deutschlandfunk Kultur vom 14. Mai 2023. (zuletzt: 29.9.2023)
[7] Raj Kollmorgen, FN 5.
[8] Ebd.
[9] Matthias Jügler, Hört ihr uns denn zu? In FAZ vom 6.6.2023. (zuletzt am 29.9.23)
[10] Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück, Stuttgart 2023. Dies., Der blinde Fleck, SZ vom 10./11.Juni 2023, S. 15.
[11] Siehe FN 5 und Felix Stephan, Die frühen Jahre, Berlin 2023.
[12] Siehe FN 1.
[13] Damian Mac Con Uladh, „Studium bei Freunden?“ Ausländische Studierende in der DDR bis 1970, in: Ankunft – Alltag – Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnung in der DDR-Gesellschaft, herausgegeben von Christian Th. Müller und Patrice G. Poutrus, Köln, 2005. S. 175 – 220.