Als Thomas Brasch 1980 seinen Debütfilm drehte, war er ein gefeierter Schriftsteller. 1977 war sein hoch gelobter Erzählband „Vor den Vätern sterben die Söhne“ im Westberliner Rotbuch Verlag erschienen. Um ihn veröffentlichen zu können, war Thomas Brasch nach Westberlin ausgewandert. In der DDR hatte er seit Anfang der 1970er Jahre als freier Autor gelebt und vor allem Lyrik und Theaterstücke geschrieben, die nicht aufgeführt oder kurzerhand verboten wurden.
Dann drehte er 1980 im Stile des Film Noir der frühen 1940er Jahre einen Krimi, dessen Handlung in den Jahren 1948/49 spielt und dessen Hauptfigur sich an Al Capone, den sagenumwobenden Gangsterboss der 1920er Jahre orientiert. Ästhetisch und historisch war „Engel aus Eisen“ scheinbar weit von der Dreh-Gegenwart entfernt.
In der Gegenwart des Films liegt Berlin in Trümmern. Die Stadt ist in vier Sektoren geteilt. Die Einführung der Deutschen Mark in den westlichen Zonen der Stadt nahmen die sowjetischen Alliierten zum Anlass, die Zufahrtswege für Waren des täglichen Bedarfs zu blockieren. Reagiert wurde mit der Luftbrücke. Beinahe im Minutentakt brachten Flugzeuge der westlichen Alliierten Lebensmittel und Kohle in die Stadt. Der Film erzählt davon auf der akustischen Ebene. Die Flugzeugmotoren sind das dominierende Geräusch in dem Film. Auch als es plötzlich ausbleibt. Die Stille, bemerkt von einem Kind, markiert die entscheidende Wende im Film.
Thomas Brasch porträtiert eine Zwischenzeit in einem Zwischenland. Der Krieg war zwar zu Ende, der Frieden aber noch nicht ausgemacht. Berlin war zwar eine Stadt, hatte aber vier Zonen, zwei Währungen und zwei Gerichtsbarkeiten. Dazwischen bewegten sich Gauner und Ganoven wie Werner Gladow und Werner Gäbler (der im Film Gabler heißt). Mit einer Bande Jugendlicher begingen sie Einbrüche im Westen und flüchteten in den Osten – und umgekehrt. Westberlin war noch nicht eingemauert. Die Grenzposten ließen sich leicht überrumpeln, ihre Befugnisse endeten an der Sektorengrenze. Für die Gladowbande bot genau diese Situation ein lukratives Geschäftsmodell.
Kumpanei und Verrat
Thomas Brasch erzählt den authentischen Kriminalfall in trüben schwarz/weiß-Bildern. Werner Gladow, den Kopf der Bande, besetzte er mit Ulrich Wesselmann, der am Anfang seiner kurzen Schauspielkarriere stand. Wesselmann spielt den berüchtigten Gangster zurückhaltend, überlegt und mit zwingender Selbstbeherrschung. Das ist kein Junge, der breitbeinig einen gefährlichen Gangster mimt, sondern ein Analytiker, der Verbrechen als Versuchanordnung ansieht. Je waghalsiger die Überfälle, desto besser. Der Wert der Beute interessiert ihn kaum, eher die Unwahrscheinlichkeit des Coups.
Zu der Gruppe Kleinkrimineller gesellt sich der von Hilmar Thate gespielte ehemalige Scharfrichter Gustav Völpel. Dreißig Jahre älter als Gladow versorgt er den jüngeren mit Informationen, stachelt ihn zu immer riskanteren Aktionen an – und hält sich sonst im Hintergrund. Er war es, der Geld machen wollte, ohne sich selber die Finger schmutzig zu machen. Thate spielt den vermeintlichen Strippenzieher, der zu spät merkt, dass er die Marionette (von Gladow) ist, mit mürrischer Ruhe und stoischer Gelassenheit. Das Glück, das er in der Kriminalität sucht, wird er nicht finden.
Eine Figur allerdings taucht in den historischen Vorlagen nicht auf. Denn dass eine Frau in der Gladowbande eine tragende Rolle gespielt habe, ist aus den zeitgenössischen Berichten nicht herauszulesen.[1] Lisa Gabler, gespielt von Katharina Thalbach, aber ist mehr als nur Lockvogel und Spionin der Diebesbande. Nicht zufällig erinnert ihr Nachname an die Ibsen-Figur Hedda, die als gelangweilte Ehefrau aus ihrem bürgerlichen Leben ausbricht und damit (nicht nur) ihr Leben zerstört. Für Brasch ist dieser „Anarchismus der Frau [...] der weitestgehende oder interessanteste.“[2]
Mit ihren kurzen Haaren sieht die Katharina Thalbach zudem verblüffend der jungen Jean Seberg in Godards Film „Außer Atem“ von 1960 ähnlich. In beiden Filmen ist es die junge Frau, die den Gangster an die Polizei verrät, was sowohl in „Außer Atem“ wie in „Engel aus Eisen“ den Tod des Helden herbeiführt.
Moritat des blinden Leierkastenmanns
Ohne Wissen um die zeithistorischen Kontexte – die Luftbrücke, den besonderen Status von Westberlin – ist „Engel aus Eisen“ als Kriminalfilm heute kaum mehr verständlich. Wer ihn als solchen sieht, begreift nicht wirklich, was passiert. Wovon dieser Film aber kongenial zu erzählen weiß, ist das zwischen-den-Zeiten und zwischen-den-Welten stehende Bewusstsein, das sich nicht verorten will.
In einer ähnlichen Position mag sich Thomas Brasch befunden haben, der, ausgereist aus der DDR, erfolgreich in der BRD, weder als DDR-Dissident noch als BRD-Autor angesehen werden wollte. Und so ist die wohl berühmteste Szene aus „Engel aus Eisen“ keine aus dem Film, sondern die – immer noch auf youtube zu sehende – Dankesrede für den Bayerischen Filmpreis 1981. Thomas Brasch bedankte sich bei der Filmhochschule der DDR für die Ausbildung, die er im Fach Dramaturgie an der HFF in Babelsberg genossen hatte. Nach nur einem Jahr wurde er allerdings exmatrikuliert, weil er gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die ČSSR demonstriert hatte.
Mit seinem Debütfilm „Engel aus Eisen“ hat Thomas Brasch der Stadt Berlin ein ambivalentes Denkmal gesetzt. Für kurze Zeit herrschten chaotische Zustände, die Verbrechen, wie die der Gladowbande möglich machten. In den 1980er Jahren, als der Film entstand, waren die Zeiten auf andere Weise chaotisch. Westberlin sollte nach dem Reißbrett umgestaltet, ganze Straßenzeilen sollten abgerissen werden. Die Bedürfnisse derer, die dort lebten, wurden nicht berücksichtigt, was eine Welle von Hausbesetzungen auf den Plan rief. Thomas Brasch filmt Berlin in Trümmern und sich selbst in einem Cameo-Auftritt mittendrin als blinden Leierkastemann, der schweigend sein Instrument bedient. Es werden keine Moritaten gesungen. Aber der Sound der leiernden Orgel wird zur akustischen Signatur der Stadt erklärt. Als würden die alten immergleichen Geschichten wieder und wieder erzählt.
[1] Vgl. Thomas Brasch: Engel aus Eisen. Beschreibung eines Films, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981.
[2] Thomas Brasch über seine Filmarbeit, in Thomas Brasch: Filme Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 12.