Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Bettina Hitzer bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. Die Reihe wird im Jahr 2024 weitergeführt.
zeitgeschichte|online veröffentlicht alle Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil IX: Beschreiben, erzählen, argumentieren oder analysieren Historiker*innen?
Diskussion am 26. April 2024 (online)
Eingangsstatement von Bettina Hitzer (Otto-von-Guericke-Universität Magedeburg)
Ich habe schon immer gerne geschrieben – zumindest so lange ich zurückdenken kann. Briefe an Patentanten, Zettel mit Nachrichten, Postkarten, kleine ausgedachte Geschichten. Und ich weiß noch – ja, natürlich, Erinnerung ist konstruiert, aber es passt zumindest in diese Erzählung – dass ich in der Schule fasziniert davon war, verschiedene Textgattungen kennenzulernen, die es mir erlaubten, mich schreibend mit den Texten anderer auseinanderzusetzen. Dass sich Gedanken beim Schreiben verfertigen können, das konnte ich nur bestätigen und – neurowissenschaftlich gesprochen – führte das bei mir offenbar zum Dopaminkick, der meine lebenslange Liebe oder vielleicht sogar Abhängigkeit vom Schreiben begründete.
Damit gehörte ich in Schulzeiten zur eher kleinen Gruppe der Seltsamen, die gerne lange Aufsätze schrieben und sich heimlich auf die Deutschklausuren freuten. Heute würde man wohl sagen: „Das ist ja weird“ und vielleicht war es auch so, aber nicht für mich. Ich schicke das vorweg, weil es nicht ganz bedeutungslos ist, dass meine erste Liebe der Literatur und dem in der Auseinandersetzung mit der Belletristik geschulten Schreiben galt, nicht der Geschichte. Hier, beim Lesen der sogenannten schönen Literatur, erkannte ich fasziniert, wie viele unterschiedliche Formen und Sprachen des Erzählens es gibt. Und damit komme ich dem Thema der heutigen Diskussion so langsam näher: In meinen Augen gibt es nicht die eine Form und auch nicht die eine Antwort auf die gestellte Frage.
Damit will ich jedoch keineswegs sagen, dass – wie es in der Ankündigung heißt – „gute Geschichtsschreibung immer alles zugleich“ ist, was ja am Ende bedeuten könnte, dass die Frage nach dem Verhältnis von Beschreiben, Erzählen, Argumentieren und Analysieren in einem quasi ununterscheidbaren Verschmelzen obsolet würde. Das ist sie aber gerade nicht.
Bevor ich mich nun aber den im Titel genannten vier Schreibbewegungen zuwende, möchte ich einen neuen Begriff hier aufs Podium bringen. Und mir ist bewusst, dass ich mich damit auf gefährliches Glatteis bewege, denn dieser Begriff ist mindestens so umstritten wie die Frage nach der der Geschichtsschreibung angemessenen Form. Es geht um die Schönheit. Schönheit ist heute im Zeitalter der sozialen Medien ja omnipräsent – und genießt zugleich in akademisch gebildeten Kreisen einen eher schlechten Ruf. Aber ich meine hier gerade nicht jene Schönheit der Oberfläche, die synonym für das „Glatte“ steht – das, an dem sich das Auge nicht stößt und in Bewunderung verharrt. Eher schon geht es in Richtung der antiken Deutung als das Gute und Wahre oder auch „Schöngute“. Aber eigentlich möchte ich hier gar nicht weiter einsteigen, sondern meine ganz eigene Definition von Textschönheit anbringen, für die es natürlich Vordenker und Vordenkerinnen gibt, sprich: das ist nicht allzu originär, aber für diesen kurzen Text erlaube ich mir, all dies zu unterschlagen. Und weise nur en passant darauf hin, dass Schönheit natürlich – wie übrigens ja auch Emotionen! – historisch und kulturell bedingt ist. Was macht also die Schönheit eines historiographischen Textes aus und wozu soll das überhaupt gut sein?
Die Schönheit eines Textes besteht in meinen Augen darin, dass er eine innere und äußere Stimmigkeit aufweist, metaphorisch gesprochen: einen Zusammenklang aller seiner Elemente. Dieser Zusammenklang muss nicht wohlklingend im engeren Sinn sein, er muss „nur“ zusammenklingen – und das tut unter Umständen auch die Dissonanz.
Keine Sorge, es bleibt hier nicht bei Metaphern, sondern ich möchte mich nun – so wie es die Veranstalter*innen dieser Reihe gewünscht haben – meiner konkreten Forschungs- und Schreibpraxis zuwenden. Meine Dissertation „Im Netz der Liebe“ setzte sich mit den Formen des Aus- und Einschlusses von Zuwanderern im Berlin des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auseinander. Ich analysierte, welche Konzepte, Praktiken und Institutionen die protestantische Innere Mission in dieser Auseinandersetzung entwickelt und welche Effekte dies auf die Berliner Stadtgesellschaft ebenso wie auf den Stadtraum hatte. Wie konnte eine „schöne“ Form dafür aussehen?
Ich verfiel auf eine Raumstruktur: vier Kapitel – vier Räume innerhalb der Stadt. Das waren sowohl konkrete Orte – die Bahnhofsmission, die Stadtmission etwa – als auch erdachte Räume, in denen bestimmte Vorstellungen von Zuwanderung und Zuwanderern zusammengeführt worden waren. Indem ich diese Räume als Struktur für das Buch nutzte, wurden aber zugleich die unterschiedlichen Figuren der Zuwanderer und Zuwandererinnen sowie ihre Wege durch Berlin konkret. Ich konnte schreibend ihren Schritten durch die für sie zunächst unbekannte Stadt folgen und auf diese Weise ein Element der Erzählung einfügen, das mir selbst beim Schreiben half, aufmerksam für die bedeutsamen Details ihrer Erfahrungen ebenso wie der für sie geschaffenen In- und Exklusionsmechanismen zu bleiben. Um hier zur Metapher des Zusammenklangs zurückzukommen: die Struktur der Räumlichkeit, das auf der Grundlage der Quellen ein Stück weit imaginierte konkrete Erzählen des Durchschreitens dieser Orte entsprach dem Argument, die Analyse fand in der Architektur des Textes ihre passende Form. So zumindest damals meine Gedanken. Ob sich auch für die Leserinnen und Leser dieser Zusammenklang einstellt, müssen diese entscheiden.
Warum – und das war meine zweite Frage – ist das denn überhaupt nötig? Käme die Analyse und das Argument nicht auch ohne einen solchen Zusammenklang aus? Schielt das also nicht am Ende nur auf den Bucherfolg, eine möglichst große Leser*innenschaft, die es anders vielleicht nicht zu gewinnen gibt – und dies alles womöglich sogar um den Preis der gedanklichen Tiefe und des komplexen Arguments? Ich möchte behaupten: nein. Zugegeben: Es gibt historiographische Texte, die dieses Ideal des Zusammenklangs nicht anstreben und dennoch überzeugend analysieren und argumentieren. Meines Erachtens hilft der „Zusammenklang“ aber dem Verständnis von Analyse und Argument und zwar auf zwei Ebenen: er macht den Text leichter verständlich und er legt zugleich das innere Gerüst quasi offen, indem er es in eine andere, äußerlich sichtbare Form überführt. Er kann also ein Element der Transparenz sein, das die Auseinandersetzung mit dem Argument fördert, nicht aber Rhetorik im engeren Sinne, die allein der Überzeugung dient. Und zuletzt – das muss ich zugeben – erscheint mir ein solcher Text lesbarer, schöner.
Ich möchte jedoch nicht schließen, ohne eine andere Dimension des Erzählens und womöglich auch des Beschreibens in meiner Praxis als Historikerin anzusprechen. Hier dient mir meine Habilitationsschrift als Anschauungsmaterial, die später unter dem Titel „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ veröffentlicht wurde. Dort schreibe ich mich – wiederum in vier Kapiteln – vier Mal durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Strukturidee dahinter war eine, die ich aus Kinderbüchern kannte: vier unterschiedliche Dimensionen des Zusammenhangs von Krebs und Emotionen wollte ich analysieren, die jeweils als Bilder für sich stehen konnten, aber auch wie transparente Bildfolien übereinandergelegt ein kompletteres Bild ergeben und neue Bezüge sichtbar machen – Bezüge, die ich dann im Schlusskapitel ausdrücklich aufnahm. Dieses Buch ist als solches nicht erzählend, aber Erzählungen nehmen hier einen viel größeren Raum ein als in der Dissertation.
Besonders erläuterungsbedürftig ist sicher die Entscheidung, drei von vier Kapiteln mit einer Erzählung beziehungsweise eher einer Geschichte zu beginnen. Diese Geschichte ist in den ersten beiden Kapiteln nicht direkt den Quellen entnommen, sondern nimmt sich die Freiheit, eine in den Quellen vorgefundene Lebensgeschichte von innen her zu erzählen, also zu ergänzen durch das, was nicht in den Quellen stand, aber was andere Quellen plausibel machten. Hier fallen Erzählung und Beschreibung ein Stück weit zusammen, denn für meine Frage nach den Emotionen erschienen mir insbesondere die Details einer historischen Situation von Bedeutung. Und diese konnte ich in den den Kapiteln vorangestellten semi-fiktionalen Erzählungen in einer einzigen Geschichte zusammenbringen. Diese sollte dazu dienen, die Sinne und die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser für diese Details zu schärfen, ihre Fantasie auf die historische Situation zu richten – um dann ein ganzes Kapitel lang die Elemente dieser Erzählung zu analysieren, sie in den jeweiligen historischen Kontext einzuordnen.
Im vierten Kapitel verzichtete ich dagegen auf eine solche einleitende Erzählung, weil es mir hier darum ging, die Erfahrungsgeschichte von an Krebs erkrankten Menschen mit der Geschichte der therapeutischen Dinge und Räume zu verknüpfen. Und weil es bereits so viele Erzählungen von Menschen gibt, die an Krebs erkrankt sind, entschied ich mich, an dieser Stelle die vorher gewählte Erzählstruktur zu durchbrechen und stattdessen das Erzählen selbst zu problematisieren.
Beschreiben, erzählen, argumentieren und analysieren stehen für mich also nicht in einem festgefügten Verhältnis zueinander. Fest steht meines Erachtens nur, dass Erzählung ohne Analyse, Beschreibung ohne Argument der Aufgabe von Geschichtsschreibung widerspricht: zum Nachdenken und zur Infragestellung anzuregen, Zusammenhänge zu verstehen, die Auseinandersetzung zu suchen. Der Zusammenklang dieser großen Vier muss für jeden Text neu gesucht werden.
Für welche Leserinnen und Leser der Text geschrieben wird, ist dafür ebenfalls von Bedeutung. Das habe ich allerdings erst spät so ausdrücklich in meine Überlegungen einbezogen. Das bleibt also Stoff für eine weitere Diskussion.