Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Ulrike Ludwig bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. Die Reihe wurde im Jahr 2024 (online) weitergeführt.
zeitgeschichte|online veröffentlicht alle Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil X: Was können Historiker*innen, was andere nicht können?
Diskussion am 18. November 2024 (online)
Eingangsstatement von Ulrike Ludwig (Universität Münster)
Aufgegeben wurden uns von den Veranstalter:innen für die Eingangsstatements zwei Stoßrichtungen der Frage Was können Historiker:innen, was andere nicht können?: Es soll einerseits um die innerakademischen Abgrenzung gegenüber anderen Fächern gehen und andererseits um die Funktion unseres Faches für die Gesellschaft.
Ich als Frühneuzeitlerin und damit als Vertreterin der Vormoderne habe es in mancher Hinsicht mit der Abgrenzung zu anderen Disziplinen sicherlich leichter. Denn Quellensprache und Quellenzugang sind für frühere Epochen vergleichsweise kompliziert, wenn auch nicht so unüberwindlich, wie es womöglich am Beginn des Studiums scheint. Aber festzuhalten ist, dass der Umgang mit historischen Quellen spezifische Kompetenzen erfordert, die das Fach von anderen unterscheidet.
Dem vorgeschaltet ist dabei ganz allgemein, dass wir Historiker:innen notwendigerweise nach Quellen fragen müssen, um Aussagen zu treffen. Hinzu tritt und damit verbunden ist die Frage nach dem Quellenwert, der nur sinnvoll ist durch den Bezug zur Fragestellung, durch Kontextualisierung und Quellenkritik zu bestimmen. Dass zu erlernen und damit einzuüben, quellengestützt Aussagen zu treffen, ist für mich der Kern historischen Arbeitens. Wichtig bleibt dabei gerade die Einsicht, dass sich für eine Hypothese ggf. keine Evidenz in den Quellen finden lässt (Vetorecht der Quellen). Und auch solche ‚Nichtbefunde‘ sind wichtig und nicht selten ausgesprochen erkenntnisreich.
Man könnte nun einwenden, dass wir den Zugriff über Quellenarbeit letztlich als Fach mit allen historischen Geisteswissenschaften, also etwa Kunst-, Literatur- oder der Rechtsgeschichte, teilen. Das stimmt. Zugleich unterscheiden wir uns von diesen durch einen anderen und ich würde sagen, einen breiteren Zugriff – sowohl mit Blick auf die Quellen, als auch mit Blick auf die gestellten Fragen.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus meinem Arbeitsfeld verdeutlichen, der Rechts- und Kriminalitätsgeschichte. Wenn man hier nach einer disziplinären Abgrenzung fragt, kommt vor allem die von Jurist:innen betriebene Rechtsgeschichte ins Spiel.
Nehmen wir noch etwas spezieller die Geschichte der peinlichen Gerichtsbarkeit, also der Strafgerichtsbarkeit über schwere Vergehen wie etwa Mord, Totschlag, Raub, Vergewaltigung, in der Frühen Neuzeit aber ebenso Ehebruch, Häresie oder Homosexualität.
Peinlich heißt diese Gerichtsbarkeit, weil die peinliche Befragung, also die Folter, zur Erforschung der ‚Wahrheit‘ zulässig war. Eingesetzt wurde diese im Rahmen des Inquisitionsprozesses, der freilich nicht mit der Institution oder dem Gerichtstyp der Inquisition in der katholischen Kirche gleichzusetzen ist, die zur Bekämpfung von sogenannten Häresien geschaffen wurde. In Inquisitionsgerichten der katholischen Kirche kam zwar auch der Inquisitionsprozess zum Einsatz, aber der Inquisitionsprozess spielte zugleich in der ‚ganz normalen‘ Strafgerichtsbarkeit Kontinentaleuropas seit dem 14./15. Jh. eine immer größere Rolle.
Neu gegenüber älteren Strafverfahren war am Inquisitionsprozess vor allem, dass er ex officio eingeleitet wurde – also von Amts wegen und ohne privaten Kläger. Hinzu kam eine andere Form der Beweisführung: Denn im Zentrum stand bei fehlenden starken Beweisen (Augenzeugen bei der Tat, Diebesgut im Besitz etc.) nun das Geständnis, ohne dass keine Verurteilung möglich war. Das war neu: Zuvor war es im Fall, dass Aussage gegen Aussage stand, üblich, die eigene Position durch eine bestimmte Zahl an Eidhelfern zu stärken. Es entschied also letztlich die Zahl und Reputation der Eidhelfer und damit de facto der soziale Status des Beklagten über die Frage, wessen Position geglaubt wurde.
Und hier brachte der Inquisitionsprozess beweisrechtlich eine echte Wende, da im Fall des peinlichen Strafrechts nun der soziale Status der beklagten Person eine deutlich geringere Rolle spielte. An die Stelle der Eideshelfer traten Zeugenbefragungen und indirekte Beweisführungen. Und für den Fall, dass ein Beklagter kein Geständnis ablegte, aber doch zahlreiche Hinweise gegen ihn sprachen, konnte zudem die Folter als Instrument der Geständnisgewinnung eingesetzt werden.
Wenn sich nun Rechtshistoriker:innen mit Inquisitionsprozessen beschäftigen, dann gehen diese in aller Regel den juristischen Diskursen nach, sie interessieren sich für den Anteil römischrechtlicher Konstruktionen in den Strafgesetzen und der juristischen Traktatliteratur oder vollziehen für einen konkreten Fall nach, welche zeitgenössischen juristischen Debatten und welche Rechtsquellen von Belang waren. Sie fragen, wie die Ausbildung gelehrter Juristen erfolgte, stellen rechtsvergleichende Betrachtungen an und erschließen die verschiedenen Strafrechtsquellen, die im Rahmen einer Urteilsfindung hinzugezogen wurden oder auch für Zwischenurteile, die für den Einsatz der Folter notwendig waren. Und all das ist selbstredend interessant.
Doch Historiker:innen interessieren sich im Allgemeinen für andere Aspekte: Uns geht es eher um die Frage, wer da wofür vor Gericht stand, wie typisch bzw. untypisch dies war und wie häufig die Folter zum Einsatz kam.
Wir versuchen aus den gerichtlichen Zeugenbefragungen Informationen über die Lebenswirklichkeit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu gewinnen und untersuchen, welche Rolle Gnadengesuche und dann auch erfolgte Begnadigungen spielten. Wir fragen, welche anderen Verfahrensoptionen – etwa gütlichen Einigungen – neben Inquisitionsverfahren genutzt wurden und wie typisch es überhaupt war, dass strafrechtlich relevante Vergehen im Rahmen von Inquisitionsprozessen sanktioniert wurden. Wir interessieren uns für die Bedeutung, die das Gerichtsrecht als Herrschaftsregal für die Herausbildung regionaler und ebenso territorialer Herrschaft besaß. Und auch umgekehrt gehen wir der Frage nach, inwieweit eine gezielte Gerichtsnutzung durch die Untertanen oder aber die zahlreichen Gnadenbitten zu einer Stärkung eben dieser Herrschaft von unten beitrugen.
Die Kriminalitätsgeschichte ist für uns letztlich ein Zugang, um mehr über frühneuzeitliche Gesellschaften zu erfahren. Die Quellen, die im Zuge von Inquisitionsprozessen entstanden, sind für uns interessant, weil hier Menschen und Aspekte des (alltäglichen) Lebens zur Sprache kommen, die es sonst selten in die Überlieferung geschafft haben.
Historiker:innen sind im Vergleich zu Rechtshistoriker:innen also in gewisser Weise eher Allrounder. Das Spektrum unserer Fragen ist breiter und aufs Ganze gesehen vielleicht auch das Spektrum der jeweils hinzugezogenen Quellen, in jedem Fall ist es aber ein anderes Spektrum. Denn die gelehrten juristischen Traktate und innerrechtlichen Diskurse sind für uns zumeist nur bedingt fassbar.
Daher profitieren wir von der interdisziplinären Zusammenarbeit: So können Rechtshistoriker:innen bestimmte Aspekte des gelehrten Rechts in der Frühen Neuzeit ganz anders erschließen, schlicht, weil die juristische Methode, aber auch die Arbeit und vor allem die Kenntnis von Exempeln, die bestimmten Argumentationsgängen zugrunde liegen, bis heute Teil der juristischen Ausbildung sind. Umgekehrt braucht die Rechtsgeschichte die Allgemeine Geschichte, etwa um mehr über gesellschaftliche Kontexte, Sozialprofile und Karrierewege von Juristen zu erfahren oder besser zu verstehen, wie es zur Herausbildung bestimmter Gerichtsstrukturen kam. Wir sind quasi wechselseitig Hilfswissenschaften füreinander.
Wir als Historiker:innen können daher sicherlich andere Dinge als die Kolleg:innen unserer Nachbarfächer, aber zugleich eröffnet die gemeinsame, interdisziplinäre Betrachtung eines Gegenstandes wechselseitig neue Einsichten und bietet so einen Erkenntnisfortschritt, die eine Disziplin für sich allein nicht erreichen kann
Fragt man nun nach der zweiten Ebene, die von den Veranstaltern angesprochen wurde, nämlich nach der Rolle der Geschichtswissenschaft in der und für die Gesellschaft, kann die Kriminalitätsgeschichte ebenfalls gut als Beispiel dienen.
Denn Geschichtswissenschaft kann zunächst einmal Methoden anbieten, um sich mitunter sehr irritierenden Dingen zu nähern und diese besser zu verstehen. Hierher gehört etwa die Einsicht, dass der Inquisitionsprozess und mit ihm die Einführung der Folter in bestimmter Hinsicht die Rechte der Beklagten stärken konnte, weil es ihnen möglich wurde, ohne Eideshelfer mit gesellschaftlicher Reputation die eigene Unschuld zu beschwören. Und das lässt sich auch beobachten, denn es gibt hinreichend Fälle, in denen Beklagte unter der Folter eben kein Geständnis ablegten und im Nachgang freigesprochen wurden.
Zweitens entwickelt man beim historischen Arbeiten ein Bewusstsein für die Unterscheidung zwischen historischer Forschung und Rekonstruktion auf der einen und moralischer Bewertung auf der anderen Seite. Hierfür ist die Folter ebenfalls ein gutes Beispiel, denn ohne Frage ist der Einsatz der Folter zur Geständniserzwingung aus unserer heutigen Position moralisch verwerflich, aber das nützt uns nichts, wenn wir verstehen wollen, warum deren Einführung mit dem Inquisitionsprozess zeitgenössisch als Verbesserung des Beweisrechts gesehen wurde. Genau das zu erklären und dann in einem zweiten Schritt eine übergreifende und durchaus auch von unserer Gegenwart aus Einordnung zu liefern, ist die Aufgabe der Geschichtswissenschaft.
Drittens lernt man in der Geschichtswissenschaft die Konstruiertheit eines Phänomens zu entschlüsseln und nachzuvollziehen, etwa den Glauben an die Existenz von Hexen und Hexern. Zugleich lernt man aber, dass der Umstand, dass sich ein Phänomen dekonstruieren lässt, nichts an seiner situativen Wirkmächtigkeit ändert, die sich in den zahlreichen Hexenprozessen spiegelt.
Viertens zeigt sich schließlich nicht nur, aber gerade auch bei der Erforschung historischer Phänomene, dass es keine einfachen Antworten gibt. Aussagen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind extrem schwer zu treffen. Typisch sind stattdessen multifaktorielle Zusammenhänge und komplexe Gefüge, die Standortgebundenheit von Perspektiven in den Quellen und in der historischen Fragestellung. In Ihrem Geschichtsstudium lernen Sie, genau damit umzugehen.
Diese Einsichten gilt es letztlich in aktuelle Debatten einzuspeisen. Denn damit kann es besser gelingen, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und auch auszuhalten, einseitigen Indienstnahmen der Geschichte entgegenzuwirken und zugleich das dennoch nötige Referenzwissen aus einer historischen Perspektive zur Verfügung zu stellen.