von Habbo Knoch

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4. Februar 2022

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatement von Habbo Knoch bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2021/22 im online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen

Teil I:

Nach welchen Kriterien bestimmen wir die Relevanz historischer Forschung? Kann man Erkenntnisinteressen hierarchisieren?
Diskussion am 29. November 2021 (online)

Eingangsstatement von Habbo Knoch (Köln)
 

1. Zunächst habe ich mich gefragt, warum in der Fragestellung dieser Runde das Wort „Relevanz“ nicht in Anführungszeichen steht. Schließlich ist Relevanz ein sozialwissenschaftlicher und insofern auch in Bezug zur Geschichtswissenschaft zu historisierender Begriff, der unter Umständen auf die Frage einer Verschiebung von „Bedeutung“ zu „Relevanz“ und vielleicht zurück zu „Bedeutung“ verweisen könnte.

Dann habe ich geschaut, wie an anderer Stelle „Relevanz“ im Zusammenhang mit Forschung und Lehre bestimmt wird und durch wen. Ich bin dabei unter anderem auf das „Center for Teaching and Learning“ an der Universität Wien gestoßen und hier auf folgenden Satz: „Wissenschaftlich relevant bedeutet, dass Sie ein Thema, das für Ihre Disziplinen, eventuell auch für Sie von Bedeutung ist.“ Der Satz ist dort tatsächlich so unvollständig geschrieben, wie ich ihn zitiere. Da fehlt also etwas. Und das deutet auf eine Zirkularität hin: Wissenschaftlich relevant ist, was wissenschaftlich von Bedeutung ist. Dies könnte den Kern der Schwierigkeit wissenschaftsinterner Relevanzbestimmung ausmachen.

Es wird dann nämlich darauf verwiesen, dass Studierende diese Relevanz dadurch gewinnen könnten, wenn sie mit Blick auf ihre Abschlussarbeiten danach schauen, was im Rahmen des Studiums angesprochen wurde, was Seminarleiter:innen lehren und was hinsichtlich aktueller Trends in der Disziplin in Seminaren und Vorlesungen behandelt wurde. Bemerkenswert fand ich an dieser Stelle, dass hier über alle Fächer hinweg ein rein wissenschaftsinternes Verfahren zur Bestimmung von Relevanz festgestellt wird.

Das entspricht Definitionen wissenschaftlicher Relevanz, wie man sie an verschiedenen Stellen findet, etwa von Birgit Weimert und Axel Zweck, und um die gerade benannte Redundanz oder Zirkularität nur noch einmal anders akzentuieren: „Wissenschaftlich relevant sind Forschungsergebnisse, wenn sie einen Beitrag zur Erweiterung der Wissensbasis und zum wissenschaftlichen Fortschritt eines Fachgebietes leisten.“[1] Die Definition enthält keinen Hinweis auf die dafür anzulegenden Kriterien oder auf eine damit verbundene Problematik.

Wissenschaftsexterne Kriterien tauchen im Kontext einer Relevanz, wie sie das „Center for Teaching and Learning“ der Universität Wien versteht, nicht auf. Doch schaut man ein bisschen weiter, erweitert sich der Relevanzbegriff schnell, etwa bei der Lektoratsagentur „Scribbr“. Dort wird er aber gewissermaßen zur Leerformel. Auf deren Website finden sich Formulierungsvorschläge, die Studierende benutzen sollen, um die Relevanz ihrer Arbeit zu unterstreichen, zum Beispiel: „Die Untersuchung wirft ein neues Licht auf X“, auf neue Erkenntnisse und so weiter. Aber es gibt noch drei andere Dimensionen, nämlich die Relevanz für die Gesellschaft: „X ist essenziell für…“. Das könnte man mit dem „Impact“ zusammenbringen, von dem Frank Trentmann gesprochen hat. Beim Thema Aktualität wird das alles noch ein bisschen schwächer. Denn dafür schlägt „Scribbr“ vor: „In jüngster Zeit stieg das Interesse an X wieder an.“ Oder noch allgemeiner: „Das, was ich behandele, ist bedeutend, weil X wichtig ist." Nun wissen wir auch, wo die Formulierungen in manchen Abschlussarbeiten herkommen.

Führen solche Vorschläge also einerseits zu Leerformeln, stehen sie auf der anderen Seite für das schon angesprochene Problem: Einerseits gibt es eine Art wissenschaftsinterner Selbstbezüglichkeit, innerhalb derer Relevanz allein bestimmt wird, andererseits gibt es die Dimension wissenschaftsexterner Kriterien, zum Beispiel gesellschaftliche, praxisbezogene, politische oder im weiteren Sinne dasjenige eines Aktualitätsbezugs. Wenn man diese Dichotomie zugrunde legt und zudem die Demarkationslinie berücksichtigt, wie und wer eigentlich die Herausforderungen dieser wissenschaftsinternen Relevanzdebatte diskutiert, stößt man auf das große Feld der gesellschaftlichen Herausforderungen an die Wissenschaft, wie sie auch im Sinne des Bereichs der „third mission“ an die Universität herangetragen werden. Damit ist die bekanntlich wachsende Erwartung verbunden, dass Grundlagenforschung die gesellschaftlichen Herausforderungen ernst nehmen und in einen öffentlichen Austausch dazu eintreten soll.

Schaut man auf diesen Aspekt unseres Themas, hat man zunächst den Eindruck, so viel Relevanz wie seit einiger Zeit von der Wissenschaft eingefordert wird, war scheinbar noch nie. Tendenziell wird dabei der anwendungsorientierten Forschung in den Natur- und Humanwissenschaften per se eine größere Relevanz beigemessen. Allerdings hat der Wissenschaftsrat in seinem Papier von 2020 zur „Anwendungsorientierung in der Forschung“  argumentiert, dass eine strikte Trennung zwischen Grundlagenforschung und Praxisbezug nicht mehr sinnvoll sei, sondern man sich eher auf einer Skala von Nuancierungen bewege.

Dem Papier liegt unter anderem folgende Positionierung zugrunde: „In zunehmendem Maße bestehen Erwartungen an das Wissenschaftssystem, Antworten auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu finden, sowie einen Beitrag zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Innovationen zu leisten.“ Das wird unter anderem mit der grundsätzlichen Veränderung der Rahmenbedingungen von Wissenschaft, ihrer Beschleunigung und Komplexität sowie der Globalisierung begründet. Es scheint, dass bei der Frage, ob es Hierarchisierungsmöglichkeiten von Forschungsthemen gibt und wer deren Relevanz bestimmt, der eigentliche Streitpunkt gar nicht unbedingt darin liegt, wie diese Kriterien wissenschaftsintern bestimmt werden können. Und vielleicht wird noch nicht hinreichend diskutiert, inwieweit wissenschaftsexterne Herausforderungen die Geschichtswissenschaft selbst herausfordern und Fragen ihrer gesellschaftlichen Relevanz stellen.

Peter Strohschneider (von 2013 bis 2019 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Anm. d. Red.) hat diese Art von „Vergesellschaftung der Wissenschaft“ wie er das nennt, sehr kritisch betrachtet, obwohl er ein vehementer Befürworter der öffentlichen Äußerung und der Positionierung durch Wissenschaftler:innen ist. Gleichzeitig warnte er vor verschiedenen Effekten dieser „Vergesellschaftung der Wissenschaft“. Unter anderem hat er es als Trugbild bezeichnet, dass durch ein Mehr an Öffentlichkeit von Wissenschaft der Einfluss von Wissenschaftler:innen in den gesellschaftlichen Debatten größer würde. Seiner Meinung nach wachse „mit mehr Öffentlichkeit (…) eigentlich eher die Vielstimmigkeit der Wissenschaft in der Öffentlichkeit“. Und das solle auch so sein. Deshalb solle man sich nicht der Hoffnung hingeben, dass alleine durch die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Herausforderungen auch Antworten erlangt werden könnten.

2. Aber wo findet sich in der Geschichtswissenschaft der Begriff „Relevanz“ eigentlich? Ich habe ihn bei Jürgen Kocka gefunden, in einem Aufsatz zur gesellschaftlichen Funktion der Geschichtswissenschaft aus dem Jahr 1975, im Kontext der Debatte „Wozu noch Geschichte?“, die bekanntlich in den 1970er Jahren intensiv geführt wurde.[2] Kocka benutzt den Begriff der Relevanz als Legitimationsressource für die Wende in der Geschichtswissenschaft hin zur Sozialgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, indem er diese von der nationalgeschichtlichen, staatsorientierten, gesellschaftsblinden Tradition der Geschichtswissenschaft abgrenzt. Denn durch diese Tradition habe die Geschichtswissenschaft ihre Relevanz für die neu einsetzenden kollektiven Selbstverständigungsprozesse, sprich in Bezug auf die gesellschaftlichen Herausforderungen, verloren oder nur eingeschränkt wahrgenommen, wogegen die Hinwendung zur Gesellschaftsgeschichte zur Wiedergewinnung dieser Relevanz beitrage.

Die Geschichtswissenschaft, so Kocka, sei immer eine „gesellschaftliche Veranstaltung“, nicht zuletzt wegen des öffentlichen Interesses und der eingesetzten öffentlichen Mittel. Deswegen sei es eine Einrichtung, die sich in der „Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit, Interessen und Mittel die Frage nach ihren Leistungen und Funktionen, nach ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und die Einzelnen nicht nur gefallen lassen, sondern auch selbst stellen muss, da sie dadurch die Kriterien entwickeln könne“. Die oberste Maxime, die Kocka im Jahr 1975 dafür formulierte, ist selbst ein Kriterium für ihre Relevanz: Die Geschichtswissenschaft dürfe die Grundbedingungen ihrer Möglichkeit als reflexiver, unabhängiger Wissenschaft nicht in Frage stellen, also Demokratie und Freiheit, sondern müsse diese aktiv befördern, etwa durch die „Demokratisierung im Sinne des Abbaus aller überflüssigen Herrschaft oder die Sicherung der Menschen und Bürgerrechte“.

Vor diesem Hintergrund finde ich es zunächst wichtig, den Relevanzbegriff und den Bedeutungsbegriff zu historisieren. Dazu sollten die Wandlungen und Konjunkturen der Kategorie „Relevanz“ in den letzten zwanzig, dreißig Jahren noch einmal genauer betrachtet werden. Warum stand möglicherweise an bestimmten Entwicklungsphasen der Geschichtswissenschaft im Zuge des „cultural turns“ die Frage der Relevanz nicht mehr derart im Zentrum, wie Kocka dies gefordert hat, während in anderen Phasen wie der gegenwärtigen Fragen, die mit den Menschen- und Bürgerrechten im weiteren Sinne zu tun haben, wiederum sehr stark in den Vordergrund getreten und gleichzeitig mit eindeutigen Forderungen verbunden sind, sich an wissenschaftsexternen Kriterien zu orientieren.

Skeptisch gegenüber der öffentlichen Relevanz der Geschichtswissenschaft hat das „History Manifesto 2015“ argumentiert, die Geschichte spiele keine Rolle mehr. Sie sei „marginalisiert und politisch irrelevant“, da sie sich bestimmter gesellschaftlicher Herausforderungen und Fragen nicht angenommen habe. Daraus wird aber gerade nicht gefolgert, dass man die wissenschaftsinterne Produktion von historischem Wissen als wissenschaftlich relevant stärken sollte, sondern die Forderung erhoben, sich methodisch und narrativ sehr viel stärker Langzeitstudien zuzuwenden, auch mit ganz anderen Methoden und Zugängen, etwa digitaler Natur, um die „longue durée“, die „bigger pictures“ stärker zu betonen.

Eine solche Forderung führt gewissermaßen zurück zur „großen Erzählung“, die mit den „turns“ überwunden werden sollte. Sollen die kleinteiligen Forschungsfragen geopfert werden, weil sie kein hinreichendes öffentliches Interesse finden oder auf die gesellschaftlichen Herausforderungen nicht hinreichend antworten, möglicherweise auch nicht aktuell genug sind? Und soll das Fach dadurch an Relevanz gewinnen, dass wieder Erzählungen produziert werden, die sich an den Bedürfnissen der Öffentlichkeit orientieren?

3. Ich möchte und kann in diesem Rahmen keine Antwort auf diese Frage liefern. Ich glaube nur, dass damit eine besondere Konstellation verbunden ist: die Irrelevanz der Relevanzfrage in den Geisteswissenschaften für die Relevanzdebatte von Wissenschaft insgesamt. Die Geisteswissenschaften bestimmen nicht mehr über die Kriterien ihrer eigenen Relevanz die Debatten im öffentlichen, politischen oder gesellschaftlichen Raum. Und das hat Auswirkungen auf die Frage, welchen Status diese mit Blick auf die wissenschaftliche Relevanz der Geschichtswissenschaft insgesamt haben. Man kann dies systemimmanent diskutieren, aber man kann damit auch an die Öffentlichkeit treten und versuchen, gesellschaftliche Debatten mitzuprägen. Aber ich habe den Eindruck, dass die Geschichtswissenschaft die Kriterien der Relevanz ihres eigenen Wirkens nicht mehr wirklich mitbestimmen können. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, aber es fehlt ein zentraler Reflexionsschritt, wie er seinerzeit Kockas Relevanzmaxime zugrunde lag.

Gleichzeitig bewegen wir uns in der Bundesrepublik – und das ist dann vielleicht auch ein Unterschied zur britischen Situation, gerade in den Geistes- und in den Geschichtswissenschaften – noch in einer Art historisch begründetem Sonderraum, der Begriffe wie historische Orientierung, Sinnstiftung, kritische Identitätsbildung, so hoch hängt, dass die Geschichtswissenschaft vor dem Eindringen von „Impact“-Kriterien, der statistischen Messbarkeit von Auswirkungen und Ähnlichem noch relativ geschützt zu sein scheint. Diese „Schutzzone“ ist historisch begründet durch die lange Geschichte der Geschichtswissenschaft in diesem Land, aber auch durch den Effekt des Nationalsozialismus und dessen Aufarbeitung seit den 1980er Jahren.

Dabei ist ein weiteres Resonanzfeld der Relevanzfrage zu berücksichtigen, das gerade in den letzten Jahren wieder vermehrt auf gesellschaftliche Herausforderungen verweist. Das ist die Forderung nach mehr Transparenz, Demokratisierung und Pluralisierung wissenschaftsgenerierten Wissens, also gerade nach einer Offenlegung der Grundlagen dessen, was als wissenschaftliche Relevanz verstanden wird. Wer bestimmt aber letztlich über diese Kriterien? Die Politik, die Wissenschaftspolitik, die Öffentlichkeit oder möglicherweise die Bürger:innen? Umfragen zeigen, dass viele Bürger:innen ein signifikantes Interesse an der Generierung dessen haben, was wissenschaftlich erarbeitet wird und dabei aktiv mitwirken wollen. Das „Wissenschaftsbarometer“ von 2017 hat ergeben, dass 56 Prozent aller Bürger:innen stärker in die Entwicklung von Forschungsfragen miteinbezogen werden wollen. Das wird nicht auf einzelne Fächer heruntergebrochen. Wir wissen also nicht, ob die Geschichtswissenschaft sich nicht möglicherweise weiterhin in einer sakrosankten Blase bewegen kann, in der sie forscht und ihre Ergebnisse kommuniziert und damit alleine darüber bestimmen kann, was die Kriterien ihrer Relevanz denn tatsächlich sind.

4. Das führt mich zu einer abschließenden Bemerkung über die Kriterien, die der Bestimmung von Relevanz zugrunde liegen oder gelegt werden können. Nun kann man natürlich sagen, dass gesellschaftliche Herausforderungen und wissenschaftsimmanente Kriterien gegeneinander abzuwägen sind. Man sollte das aber im Zusammenhang mit den wachsenden gesellschaftlichen, politischen und administrativen Herausforderungen betrachten, die an den Relevanznachweis von Wissenschaft geknüpft sind und bestimmte Verfahren zu ihrer Bestimmung nach sich ziehen. Juliane Hamann, David Kaldewey und Julia Schubert sind 2019 zu einer reflexiven Bestimmung von Relevanz gelangt und argumentieren, dass alle Bewertungskriterien immer zu Engpässen führen können aber nicht müssen. Pfadabhängigkeiten in wissenschaftlichen Evaluationsprozessen produzieren bestimmte Ausrichtungseffekte nach bestimmten Relevanzkriterien, die mit Engführungen verbunden sein können. Die demokratisch-partizipative Variante stelle demgegenüber ein gut gemeintes Verfahren dar, das aber zulasten der spezialisierten Tiefenschärfe von Forschung gehe. Sie schlagen als Lösung vor, sich auf nicht auf Bewertungskriterien einzulassen, ohne diese als solche zu hinterfragen. Das führt wieder zur Bedingung der Möglichkeit unseres Forschens und Lehrens und ihrer Bedeutung für die Relevanz von Wissenschaft in der Öffentlichkeit zurück. An der Ausgestaltung ihrer Bedingungen sind wir in meinen Augen als Fach in den vergangenen Jahren nicht mehr hinreichend beteiligt.

 

 

[1] Weimert, Birgit & Zweck, Axel. Wissenschaftliche Relevanz (2015), in: Handbuch "Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung".
[2]Kocka, Jürgen. Geschichte wozu? (zuerst 1975), in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): "Über das Studium der Geschichte". dtv, München 1990.