Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Marian Füssel bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand erstmalig im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. Die Reihe wurde in den Jahren 2024 und 2025 (online) weitergeführt.
zeitgeschichte|online veröffentlicht alle Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert daraufgelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil XI: Gibt es historische Wahrheit?
Diskussion am 10. November 2025 (online)
Eingangsstatement von Marian Füssel (Georg-August-Universität Göttingen)
Folgte man dem Titel eines Sammelbandes aus der Jahrtausendwende, so haben die Historiker*innen die Wahrheit schon vor mindestens 25 Jahren verloren (Kiesow/Simon 2000). Das würde aber auch bedeuten, dass es sie überhaupt einmal gab. Macht man die Debatte nun wieder einmal auf, so sieht man sich gleich mit einer breiten Kluft zwischen historischer Alltagsarbeit und epistemologischer Grundsatzdebatte konfrontiert. Denn ich würde behaupten, dass der Begriff Wahrheit in unserem Forschungsalltag in der Regel eher entfernt liegt (und wenn er uns einmal begegnet, man ihm auch gern aus dem Weg geht). Wenn wir jedoch explizit geschichtstheoretisch darüber diskutieren, betreten wir meist eine andere Ebene und begeben uns in die mal mehr mal weniger passgenau gefüllte Rolle von Selfmade-Philosoph*innen. Zunächst zu meinen persönlichen Einflüssen dieser theoretischen Bastelarbeit: Sie setzen sich zusammen aus der Konsenstheorie der Wahrheit (Habermas 1973), empirischen Arbeiten der neueren Wissenschaftsgeschichte (Shapin 1994) und Ansätzen einer narratologischen Geschichtstheorie (Ricoeur 2003).
Blicken wir dann auf Herausforderungen, Infragestellungen und Verteidigungen der historischen Wahrheit, denn nur um die soll es an dieser Stelle gehen, so lassen sich in der jüngeren Vergangenheit des Fachs zwei heiße Phasen unterscheiden. Es handelt sich
- a) um die Debatten im Kontext der Neuen Kulturgeschichte bzw. Geschichte und Postmodernismus/Poststrukturalismus (ca. 1995-2015). Exemplarisch für die damit einhergehenden (Abwehr)-Schlachten kann etwa Werner Paravicinis Intervention zur Wahrheit der Historiker (2010) gelten. Es liegt m. E. allerdings ein großes Missverständnis im pauschalen ‚Bashing‘ von Konstruktivismus und Postmoderne, deren Vertreter*innen keineswegs die Wahrheit ‚töten‘ oder ‚abschaffen‘ wollten.
- b) um die politisch-medialen, von außerhalb der Wissenschaft induzierten Wahrheitskriege der letzten 15 Jahre, die mit Schlagworten wie alternative Fakten, fake News, Verschwörungstheorien, Künstlicher Intelligenz oder postfaktisches Zeitalter verbunden sind. Gerade die historische Forschung gerät dabei unter Druck von populistischen Ideologien und totalitär-restriktiven Geschichtspolitiken, die meist selbst mit einem eigenen Wahrheitsanspruch auftreten, aber nicht die Wahrheitsfähigkeit historischer Aussagen grundsätzlich in Frage stellen.
Während in Debatte a) sich eine epistemologische Debatte politisierte, scheint es in Debatte b) eher so, als ob politische Herausforderungen zu epistemologischen Grundsatzstellungnahmen nötigen. Beide Debatten haben sich jenseits des geschichtstheoretischen Höhenkamm-Diskurs in breitere öffentliche Diskursformationen geöffnet und damit gleichzeitig politisiert. In beiden Fällen ist eine massive Verunsicherung zu beobachten.
In beiden Debatten zeichnen sich Antwortszenarien ab, die ich als Wege in eine Trivialisierungsfalle bezeichnen möchte. Diese Falle öffnet sich, wenn wir epistemologischen Herausforderungen allein mit Verweis auf quellengesicherte Ereignisdaten zu begegnen suchen, etwa des Typs: „Der Sturm auf die Bastille ereignete sich am 14. Juli 1789“. So würde nicht nur der Wahrheitsgehalt von Aussagen verteidigt werden, die ohnehin kaum je jemand in Frage stellt, sondern auch der Kern historischen Arbeitens verkannt, der ja nicht primär im Sammeln und verifizieren bzw. falsifizieren solcher ‚Daten‘ besteht. Historische Wahrheit ist mehr als ein Faktum, eine Evidenz oder eine Tatsache, wenngleich der Blick auf deren kulturelle Konstitution höchst aufschlussreich ist, um einer an den Naturwissenschaften ausgerichteten Positivismus-Zumutung der Wahrheitsfähigkeit empirischer historischer Sätze zu entgehen. So lässt sich aus der Wissenschaftsgeschichte und den sogenannten Laborstudien lernen, dass Wahrheit stets etwas historisch Hergestelltes ist und zwar auch in den sciences und nicht nur in den scheinbar fragileren humanities (Shapin 1994).
Um zu präzisieren, wo Wahrheit in der historischen Arbeit zur Belegaufgabe bzw. zum Problem werden kann, ist eine Unterscheidung Paul Ricoeurs hilfreich, der die drei Ebenen des Dokumentarischen, des Erklärenden und des Literarischen analytisch trennt (Ricoeur 2003). Auf allen drei Ebenen stellen sich Wahrheitsfragen, allerdings in sehr unterschiedlicher Weise. Auf der dokumentarischen Ebene begegnet man Fragen nach der Wahrheit von historischen Aussagen meist handwerklich, etwa wenn tatsächlich mal in der Literatur ein Geburtsdatum unterschiedlich angegeben wird, wie es mir ausgerechnet beim Vater der Historik, Johann Gustav Droysen mal vorgekommen ist. Handwerklich heißt, wir gehen zurück an die Quellen bis hin zum Kirchenbucheintrag und sondieren die Pfadabhängigkeiten des Abschreibens falscher Daten in der Überlieferung. Auf Ebene des Erklärens und Verstehens bedienen wir uns dann meist Referenzen auf Theorien und Konzeptbegriffe, um unsere Wahrheit plausibel zu machen, so nutzen wir etwa verschiedene Theorien, um den Beginn und die Eskalationsdynamik der Französischen Revolution zu erklären. Am wenigsten explizit wird die Begründungsarbeit an der Geltung wahrer historischer Aussagen dann bei der Erzählung. Hier bedienen wir uns gern rhetorischen und narrativen Techniken um zu überzeugen, um beim Beispiel der Revolution zu bleiben etwa der narrativen Modellierung (emplotment) im Sinne von Hayden White z.B. als Tragödie. Rhetorik und Beweis müssen sich, wie Ginzburg betont hat, dabei keineswegs ausschließen (Ginzburg 2001).
Ist das fertige Stück Geschichtsschreibung dann in der Welt, wird Wahrheit zu einer Frage der Geltung einer ganzen Aussagenformation, und da kommt für mich Jürgen Habermas Variante der Konsenstheorie der Wahrheit ins Spiel (Habermas 1973). Der Geltungsanspruch meiner ‚wahren‘ Sätze bedarf der Zustimmung meiner historischen Fachcommunity (und zum Glück nicht der von anonymen Amazon-Rezensent*innen). Über Rezensionen und kritische Debatte wird dem Anspruch nach auch der Wahrheitsgehalt geprüft und gegebenenfalls falsifiziert oder zurückgewiesen. In diesem Zusammenhang kann auch die Suche nach Gegenbegriffen zur Wahrheit aufschlussreich sein. Wären das notwendig Irrtum, Unwahrheit, Fälschung oder Lüge oder sind es evt. auch Wahrheiten im Plural? Anders ausgedrückt gibt es einen Unterschied zwischen der Wahrheit des Historischen und wahren Geschichten über die Vergangenheit? Es gibt wohl weder die eine historische Wahrheit noch die definitive historische Wahrheit und schon gar keine im Abgleich mit einer abwesenden Vergangenheit überprüfbare. Denn bereits Ricoeur hat treffend im Vergleich von Geschichtsschreibung und persönlicher Erinnerung darauf hingewiesen, dass wir historiographisch nie mit einem Wiedererkennen rechnen können. Man kann nicht in vergangene Wirklichkeiten zurückkehren und sie in einer Weise abgleichen, wie es mit der eigenen Erinnerung an einen verlassenen Ort wie das Elternhaus oder die eigene Heimatstadt geschehen kann.
Mein Plädoyer wäre, dass wir angesichts von gesellschaftlichen Infragestellungen historischer Wahrheiten nicht das Kind mit dem (de-)konstruktivistischen Bade ausschütten, sondern Geltungsansprüche diskursiv begründen und verteidigen sollten, ohne in überwundene Vorstellungen einer Korrespondenztheorie der Wahrheit zurückzufallen, die wir dann mit einem falsch verstandenen Positivismus zu belegen suchen. Stattdessen sollten wir als Historiker*innen analog zu allgemeinen Maximen der Wissenschaftskommunikation, den Unterschied zwischen ‚understanding of science‘ und ‚understanding of research‘ beherzigen und neben Inhalten und Fakten auch die Wege dorthin offenlegen und kommunizieren. Erst dann wird evident, warum man ganz gut mit einer Pluralität von Wahrheiten leben kann, ohne das „Vetorecht der Quellen“ zu ignorieren oder bewusster Manipulation Tür und Tor zu öffnen. Die gestellte Frage kann also – stellt man sie im Plural nach historischen Wahrheiten – durchaus positiv beantwortet werden.
Zitierte Literatur
Ginzburg, Carlo, Die Wahrheit der Geschichte: Rhetorik und Beweis, Berlin 2001.
Habermas, Jürgen, Wahrheitstheorien, in: Helmut Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen 1973, S. 211–265.
Kiesow, Rainer Maria / Simon, Dieter (Hg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit: zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/Main 2000.
Paravicini, Werner, Die Wahrheit der Historiker, München 2010.
Ricoeur, Paul, Wahrheit, historische, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2003, S. 316–320.
Shapin, Steven, A social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago [u.a.] 1994.
Zitation
Marian Füssel, Marian Füssel Teil 11): Gibt es historische Wahrheit?, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/marian-fuessel-teil-11-gibt-es-historische-wahrheit