von David Kuchenbuch

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19. Dezember 2022

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von David Kuchenbuch bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen
Teil V

Wie findet und formuliert man eine gute historische Frage?
Diskussion am 28. November 2022 (online)

Eingangsstatement von David Kuchenbuch (Justus-Liebig-Universität Gießen)

Liebe Zuhörerer:innen, ich habe meine Aufgabe heute so verstanden: Darüber nachzudenken, was sich vermittelt durch die Frage nach „der guten historischen Frage“ zum Anliegen dieser Diskussionsreihe insgesamt sagen lässt. Dieses Anliegen würde ich grob zusammenfassen als den Versuch, die Einheit und das Proprium der Disziplin „Geschichte“ zu bestimmen angesichts der Diversifizierung innerhalb des Fachs, aber auch der Gesellschaft, in dem es wirken will. Wobei diese Bestimmungen sich vor allem auf Verfahren und methodische Standards stützen sollen, und damit verbundene Grenzziehungen gegenüber der Geschichtskultur im erweiterten Sinne und gegenüber anderen Fächern.

Mir wird es entsprechend im Folgenden darum gehen, entlang des Themas der historischen Frage Chancen und Schwierigkeiten der geschichtswissenschaftlichen Praxis zu beleuchten in Zeiten einer verstärkten politischen Profilierung vieler Forschender und einer verschärften Vermarktlichung oder zumindest Verwettbewerblichung der Wissenschaft – aber auch des Publikationswesens.

Meiner Vorredner:innen, aber auch schon der Teaser der Veranstalter:innen haben die Frage „Wie findet und formuliert man eine gute historische Frage?“ bereits in ihre Bestandteile zerlegt. Sie haben die Betonung verschoben, sozusagen mehrere Fragen daraus gemacht: Was ist eine gute Frage? Wer ist „man“ und wie viele? Gab und gibt es eine spezifisch historische Art zu fragen?

Bei mir wird die Betonung eher auf dem Wort eine liegen und auf der Frage, wo eine Fragestellung eigentlich entsteht und an welcher Stelle in der wissenschaftlichen Kommunikation sie überhaupt „gut“ wird. Ich werde ein Stückweit den Advocatus Diaboli spielen und behaupten, dass Historiker:innen in den seltensten Fällen eine eingegrenzte, gar auf wenige Sätze reduzierbare Frage definieren, um diese dann stringent zu beantworten. Unsere Fragen verändern sich im Forschungsprozess, was wir am Ende des Schreibprozesses jedoch gern wieder verbergen. Und mir scheint diese Tendenz zuletzt zugenommen zu haben. Das liegt an der Veränderung der Formate, in denen wir uns äußern, aber auch an Veränderungen des gatekeeping dahingehend, dass Suchbewegungen mit vergleichsweise offenem Ausgang tendenziell verhindert werden: Ich rede natürlich von einer gestreamlineden Publikationskultur und der Drittmittelwelt. Dabei liegen, so will ich argumentieren, im bewussten Umgang mit dem Prozesscharakter des eigenen Fragens und Formulierens große Chancen. Und zwar Chancen auf Anschlusskommunikation, um die es Wissenschaft immer gehen muss – gerade in einer pluralen, sich diversifizierenden Gesellschaft.

Die Sache scheint zunächst einfach: Eine gute Frage definiert sich erstens dadurch, dass sie ein Erkenntnisinteresse operationalisiert; eine gute Antwort meint entsprechend die gelungene Überprüfung einer Hypothese an den Quellen; sie steht am Ende eines Prozesses, mit dem Methoden und Material in Passung gebracht wurden. Die Formulierung einer Frage wäre dann ein Verfahren, dass die intersubjektive Verständlichkeit der Ergebnisfindung gewährleistet – um Schlagworte aus den Propädeutik-Readern deutscher Geschichtsinstitute zu nennen.

Zweitens gehört zum Finden dieser guten Fragen natürlich, dass die Hypothese sich in systematischer Weise auf das bisherige Wissen beziehen soll. Man findet zur Frage, indem man evaluiert, was andere vor einem gesagt haben, in dem man Forschungsstände analysiert und ihre Defizite ausmacht.

Ich würde behaupten, dass sich, dergestalt abstrakt ausgedrückt, am Finden und Formulieren historischer Fragen wenig geändert hat – trotz der Aufweichung von disziplinären Grenzen, trotz neuer Methoden, die ich mit dem Begriff „Digitalisierung“ nur andeuten will, und vor allem: trotz der Pluralisierung der politischen Antriebe, sich mit Geschichte zu befassen – von ganz seltenen Extremen der „Standpunkt-Epistemologie“ abgesehen, die nicht mehr auf intersubjektive Verständlichkeit setzen.

Aber damit ist uns wenig geholfen: Viel mehr als den Common Sense, die Regeln der Quellenkritik einzuhalten, oder den Gemeinplatz, dass Lektüre vor Wiederentdeckungen schützt, lässt sich daraus auch als Handlungsempfehlung nicht ableiten. Zudem liegt dem Konzept der „Forschungslücke“, die es zu identifizieren und dann verfahrensgestützt zu füllen gilt, zumindest implizit ein recht naives Wissenschaftsverständnis zugrunde, wie Annette Vowinckel argumentiert hat: Das Bild vom endlichen Universum nämlich, dessen Kenntnis es gewissermaßen Puzzlestück für Puzzlestück zu ergänzen gilt. Dabei lassen die sich wandelnden Zeitläufte Historiker:innen bekanntlich mit immer neuen Erkenntnisinteressen auf womöglich dieselben Quellen blicken. Es ist trivial, aber: Der Erkenntnisfortschritt unseres Fachs ist nicht linear.

Wenn wir uns ganz ehrlich machen, gilt das aber genauso für die Erkenntnisfortschritte individueller Forschungsprojekte: Das, was wir den Leser:innen unserer Arbeiten als „Fragestellung“ präsentieren, hat oft nur noch wenig mit den viel diffuseren Antrieben zu tun, mit denen wir ursprünglich an Material und Forschungsliteratur herangetreten sind. Die publizierte Frage ist gerade nicht der Droysen’sche Ausgangspunkt des Forschens, sie ist ihr Ergebnis. Das liegt in der Natur des historischen Forschens, das ein iterativer Prozess ist. Schon allein deswegen, weil wir – und hier unterscheiden wir uns zumindest in der Tendenz von Fächern, die ihr Material durch Umfragen oder Experimente selbst erzeugen, oder es, wie Teile der Philosophie, in sich selbst finden – in der Regel erst spät wissen, welcher Ausschnitt Welt zur „Überprüfung der Hypothese“ zur Verfügung steht.

Umso auffälliger scheint mir, dass Historiker:innen nicht gern darüber sprechen, wie sie konkret arbeiten. Ich finde immer wieder erstaunlich, wie wenig Willens viele Kolleg:innen sind, die Erkenntnisse der Wissenschaftsgeschichte auf sich selbst anzuwenden. Wenn diese in den vergangenen zwei Jahrzehnten nämlich eines gezeigt hat, dann, dass auch der vermeintlich regelgeleitetere, naturwissenschaftliche Forschungsprozess ein chaotischer und sozialer ist – dass „epistemische Dinge“ in Auseinandersetzung mit Geräten und bildgebenden Verfahren entstehen; dass sie aus Denkkollektiven heraus – und innerhalb dieser vermittelt durch Metaphern – Form annehmen; dass also die im Labor isolierte materielle Welt sich zur experimentellen Anordnung ähnlich verhält wie das in dieser Reihe schon diskutierte Vetorecht der Quellen zur geschichtswissenschaftlichen Hypothese. Und dass das dem Erkenntnisprozess gar nicht per se im Wege steht.

Ich will ganz offen sein: Ich erlebe meinen eigenen Forschungs- und Schreibprozess als muddling through, wobei das suchende Schreiben nicht erst mit dem Ausformulieren des zu publizierenden Textes, sondern auch schon beim Schreiben von Exzerpten beginnt. Und auch bei anderen erscheint mir die ausformulierte Fragestellung oft als etwas, was ex post geistige Ordnung signalisiert, was einer viel schmuddeligeren Erkenntnis- und Darstellungsarbeit nachträglich den Anstrich von Systematik gibt. Zumal das, was in Kapitelüberschriften als einzelne „Fragestellung“, „Forschungsfrage“ oder „Leitfrage“ firmiert, faktisch oft eher aus einer Liste von Anliegen ganz unterschiedlicher Art besteht. Insofern bin ich geneigt, die entsprechenden Passagen eher als Genrekonvention zu betrachten und als Element der Leser:innenführung in Erzählungen, die undisziplinierter sind, die faktisch Neben- und Umwege beschreiten, die mehr oder weniger explizit ihre eigene Entstehungsgeschichte erzählen, wenn sie z.B. von der Unfähigkeit zeugen, sich von für das Argument wenig relevanten, aber faszinierenden Details zu trennen.

Und das – das will ich betonen – ist völlig in Ordnung so! Denn jedes Einzelne dieser Elemente regt Leser:innen potentiell zur Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen an. Das wiederum steigert die Wahrscheinlichkeit der Anschlusskommunikation zwischen unterschiedlichen Menschen, und führt so potentiell zu einer Vermehrung der Fragen – oder zumindest zu deren Verfeinerung im Gespräch unter Abwesenden, wenn man diese denn als Aufgabe geisteswissenschaftlichen Tuns sieht.

Lassen Sie mich an dieser Stelle aber an die Beobachtung der Veranstalter:innen anknüpfen, die Formulierung der Fragestellung bereite erfahrungsgemäß „[…] gerade Studierenden größte Schwierigkeiten“. Auch ich rate den Teilnehmer:innen meiner Seminare immer wieder dazu, vor dem Schreiben intensiv über Eingrenzungen und Argumentationsstruktur nachzudenken. Aber, wenn wir wiederum ehrlich sind, ist die Antwort auf die Frage, was denn eine gute – das heißt, eine gute Note versprechende – Fragestellung sei, viel stärker durch Prüfungsordnungen als durch Wissenschaftstheorie vorgegeben. Wir würden schlecht beraten, wenn wir bei der Themenabsprache nicht auch Abgabetermine und einen Zeichenumfang mit im Blick behielten, der weitergehend arbiträr, der durch die Bausteine vorgegeben ist, die Universitäten für die Konstruktion von Modulplänen entlang von ECTS-Vorgaben bereitstellen usw.

Aber gilt das nicht in gewissem Maße auch für Doktorarbeiten im Rahmen von Sonderforschungsbereichen, ja eigentlich jegliche Forschung mit durch Drittmittelgeber vorbestimmten Projektlaufzeiten? Hat sich in der Geschichtswissenschaft nicht womöglich vor allem verschoben, wann und in wessen Augen sich die „Güte“ einer Frage erweist? Sind es die Augen der Rezensenten oder gar der diffusen, aber so gerne zitierten interessierten Leser:innenschaft? Oder sind es nicht vielmehr die von Gutachter:innen, die selbst unter starkem Zeitdruck arbeiten und Anträge womöglich umso ungeduldiger nach Indizien von „Machbarkeit“ durchscannen – und daher geneigt sind, größere Risiken hinsichtlich der Passung von Hypothese, Methoden und Material kritischer zu bewerten? Abstrakt gesprochen, hätte sich damit der Ort vorverlagert, an dem ein ungewöhnliches Erkenntnisinteresse zum kommunikativen Ausschluss führt.

Mir scheint der Druck, eine „klar eingegrenzte“ Frage schon bei der Beantragung von Fördermitteln zu stellen, wenn nicht die Antwort und damit verbunden das Format, in dem sie erfolgen soll, gleich mitzuliefern, zuletzt zugenommen zu haben. Und damit ist der Raum für Unwägbarkeiten und abweichende Darstellungsformen geschrumpft.

Das koinzidiert mit dem Bedeutungsverlust des meiner Ansicht nach „undiszipliniertesten“ Publikationsformats: der historischen Monografie als demjenigen Medium, das schon aufgrund seines Umfangs am wenigsten „Fragestellung“ haben muss, in dem Raum für Exkurse und Metakommentare ist. Dieser Bedeutungsverlust, der sich meiner Beobachtung nach in der Bestenauslese in Berufungsverfahren klar erkennen lässt, ist weniger der berechtigten Forderung nach einer Diversifizierung der Wissenschaftskommunikation geschuldet als der Tatsache, dass die Artikel in highly ranking peer-reviewed journals immer mehr den Goldstandard darstellen. Aber gerade diese lesen sich, polemisch zugespitzt, oft so, als habe jemand einfach alle Konjunktive aus einem Drittmittelantrag in Indikative umgewandelt. Zu den Konsequenzen gehören der Verzicht auf die Arbeit am Stil oder der Trend zu einer überdidaktischen Leserführung voller Wiederholungen, der noch gefördert wird durch ein Verlagswesen, das dazu übergeht, häppchenweise Auszüge aus längeren Texten zu veräußern, deren Kapitel immer mehr den Charakter von Stand-alone-Aufsätzen annehmen.

Diese Standardisierung erfolgt nun ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem die Forderung nach einer Integration der Marginalisierten und ihrer Geschichte bzw. ihrer Perspektive auf die sogenannte „allgemeine Geschichte“ zum guten Ton gehört. Der Reputationsverlust von Publikationsformaten, die „wilder“ sein können, die statt einer geglätteten Fragestellung Stand- und Gesichtspunkte, individuelle Suchbewegungen der Autor:innen offensiv zum Thema machen können, ist vor diesem Hintergrund geradezu tragisch. Die Verarmung der Formen – verstanden als eine Funktion der Art und Weise, in der sich wissenschaftliche Macht gegenwärtig reproduziert – passt nicht zur Forderung nach größerer Vielstimmigkeit der Forschenden. Und darüber sollten wir sprechen.