Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Martin Lücke bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil VIII: Kann man aus der Geschichte lernen?
Diskussion am 7. Juli 2023 (online)
Eingangsstatement von Martin Lücke (FU Berlin)
Ich hoffe nicht, dass ich Sie alle zu sehr enttäusche oder die Erwartungen nicht erfüllen kann, die an mich und mein Fach in dieser Runde und in aller Regel herangetragen werden.
Im Ankündigungstext heißt es nämlich:
„Darüber hinaus besteht der Anspruch der Geschichtsdidaktik nicht nur darin zu erklären, wie man am besten etwas über die Geschichte, sondern auch ob und wie man etwas aus ihr lernen kann.“
Denn ich bin mir gerade als Geschichtsdidaktiker gar nicht sicher, ob man etwas aus der Geschichte lernen kann – und habe auch keine Patentrezepte mitgebracht, mit denen man das tun könnte.
Also erwarten Sie bitte nicht, dass ich während meines kurzen Inputs z.B. ein kopierfertiges A4-Arbeitsblatt aus dem Hut zaubere, mit einer Überschrift wie: „Die Industrialisierung – Fluch oder Segen?“ – mit dem auf perfekte Weise Lernen gelingt. Von Didaktiker*innen wird nämlich genau so etwas oft erwartet.
Aber immerhin ist ja die Vorstellung, dass die Vergangenheit ein Erfahrungsreservoir ist, aus dem für die Gegenwart und eventuell auf eine Zukunft hin gerichtet gelernt werden kann, fast schon ein Allgemeinplatz.
Während der Corona-Pandemie stieg zum Beispiel die Zugriffsrate auf den Wikipediaeintrag zur Spanischen Grippe, und das vermutlich nicht, weil man dort konkretes, auch heute noch anwendbares medizinisches Wissen zur Bekämpfung der gegenwärtigen Pandemie erwartet hat. Vielleicht aber, weil man hier irgendeine Art von historischer Orientierung in einer Krisensituation finden wollte. Eine Studentin hat auf die Frage, warum sich denn so viele diese Seite angeschaut haben, gesagt: „Na ja: Hoffentlich war es früher schlimmer.“
Die Veranstalter*innen dieser Reihe scheinen aber anzunehmen, dass man irgendwie aus der Geschichte lernen kann – und verwickeln sich dabei in scheinbare Widersprüche: Sie zitieren Ranke, also ein Zitat aus der Geschichte, und aus diesem Zitat aus der Geschichte, wonach die Aufgabe von Geschichte als Wissenschaft nicht darin bestehe, „die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren“, schlussfolgern sie, dass man zumindest aus der wissenschaftlichen Geschichtswissenschaft nicht für Gegenwart und Zukunft lernen kann.
Einig sind wir uns aber vermutlich darüber, dass Geschichte als Wissenschaft nicht den primären Zweck verfolgt, aus ihr lernen zu können.
Immerhin aber bezahlt der Staat den Geschichtsunterricht, weil er fest davon ausgeht, dass man aus der Geschichte lernen kann. Der Staat glaubt also offenbar an die gute alte „historia magistra vitae“ (Die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens/Cicero) – übrigens drei weibliche Substantive in unserem sehr männlichen Fach.
Geschichte wird dabei (im staatlichen Geschichtsunterricht, und hier spitze ich zu) wie eine Pappelallee entworfen, die auf ein strahlendes Gutshaus zuläuft. Die Pappeln sind ausgewählte, chronologisch gereihte historische Ereignisse, die den festen und sicheren Weg hin auf das Gutshaus weisen – und dieses Gutshaus ist unsere Gegenwart. In diesem Gutshaus der Gegenwart wohnt z.B. die moderne Demokratie, die soziale Marktwirtschaft, der Nationalstaat – und die Pappelallee weist uns einen optimalen historischen Weg hin zu dem, was in unserer Gegenwart gut und verteidigungswürdig ist. Im Geschichtsunterricht geht man einmal diese Allee vom Anfang bis zum Ende ab.
Man könnte an dieser Stelle freilich ketzerisch fragen, warum der Staat überhaupt Geschichtsunterricht braucht: traut er seinen Bürger*innen nicht zu, dass sie allein aus ihrer Gegenwartserfahrung heraus das Gutshaus, in dem sie leben, für gut und deshalb zukunftsweisend befinden?
Als ich am Wochenende im Rahmen eines Familienbesuchs mal wieder am U-Bahnhof Brandenburger Tor war, an dem in einer Bilderabfolge die Geschichte des Brandenburger Tors erzählt wird, kam mir in den Sinn, dass am Ende der Pappelallee des bundesdeutschen Geschichtsunterrichts an sich kein Gutshaus steht, sondern das Brandenburger Tor in einer Fotoaufnahme vom 10. November 1989.
An sich geht es im Geschichtsunterricht bestenfalls darum, sich in der Geschichte (und zwar in einer bereits erzählten, also fertigen und vorgefertigten Geschichte) orientieren zu können, und nicht darum (was überhaupt erst Lernen wäre), sich in der Gegenwart mit Geschichte zu orientieren.
Die Geschichtsdidaktik dreht deshalb den Spieß um – sie glaubt nicht an die „historia magistra vitae“, sondern fordert: „vita magistra historiae“ (Das Leben lehrt/formt die Geschichte) – wir untersuchen, wie die Gegenwart unseren Blick auf die Geschichte bestimmt, und welche Geschichten wir uns in unserer Gegenwart erzählen, um uns in Gegenwart und Zukunft zu orientieren. Das bedeutet nicht, dass beliebige Geschichten fake news sein können, sondern natürlich Geschichten, die empirisch folgerichtig sind, also faktenbasiert und quellenkritisch.
Dabei geht es uns nicht darum – hier erneut Ranke aus der Ankündigung zitiert – „die Vergangenheit zu richten“, sondern aus unserer Gegenwart heraus aus Vergangenheit Geschichte zu machen, damit sich Menschen in der Gegenwart durch Geschichte orientieren können.
Auf das Gutshaus bezogen heißt das: wir sitzen in einem ziemlich baufälligen maroden Gutshaus mitten im dichten Wald, und wir schauen vom Gutshaus in den Wald hinein uns suchen nach dem Weg, der uns in dieses Gutshaus geführt haben mag.
Wichtig also: wir starten mit einem Blick auf gegenwärtige Lebenswelten. Und zumindest scheint es momentan einen anderen Umgang gerade junger Menschen mit Gegenwartserfahrungen zu geben. Der Soziologe Benno Hafeneger hat jüngst geschrieben:
„Für die junge Generation droht eine Krisenpermanenz, ein Aufwachsen und ein Leben im Krisenmodus. Sie muss sich geradezu auf ein ungewisses Leben ohne beruhigendes Stabilitätsgefühl einstellen. Das ist der neue Sozialisationsmodus der heutigen jungen Generation.“[1]
Warum dann aber Geschichte?
Mir scheint zentral, dass wir nicht deshalb aus Vergangenheit Geschichte machen, weil wir hoffen, in der Vergangenheit das Gleiche oder Ähnliche unserer Gegenwart zu finden (und auf diese Weise unsere Gegenwart einfach linear in die Zukunft verlängerbar zu machen), sondern weil wir in der Vergangenheit grundsätzlich Anderes, also historische Alterität finden: Dinge waren anders und können heute auch anders gedacht werden.
Es ist ein Muss, in einem geschichtsdidaktischen Statement an dieser Stelle Jörn Rüsen zu zitieren – wer das nicht macht, gilt bei uns als theoretische Niete. Ich mache das aber nur mit einem einzigen Zitat, was bei uns im Fach aber gleichzeitig als ein Faux pas gilt.
Jörn Rüsen hat zu solcher historischen Alterität einmal geschrieben:
„Alterität ist die Melodie der Vergangenheit, die das historische Bewußtsein den Lebensverhältnissen der Gegenwart vorspielt, um sie zum Tanzen zu bringen.“[2]
Auf heutige Lebenswelten bezogen heißt das: in der gegenwärtigen Krisenpermanenz zur Musik des historisch Anderen die Gegenwart zum Tanzen zu bringen, also bewegbar, veränderbar zu machen – also Alternativen in der Gegenwart denkbar werden zu lassen.
Postkoloniale Theorie, mit der Jörn Rüsen freilich nichts am Hut hat, spitzt diesen Gedanken zu. Nikita Dhawan z.B. fordert, „Geschichte als eine strategische Infragestellung der Gegenwart zu lesen, um so postimperialistische Zukünfte imaginieren zu können.“[3]
Wir können ja gleich noch diskutieren, ob wir erstens postimperialistische Zukünfte imaginieren wollen und ob wir zweitens so etwas tun wollen, indem wir Melodien der Vergangenheit vorspielen, um die Gegenwart entsprechend zum Tanzen zu bringen – ob wir diese Infragestellung der Gegenwart also wirklich mit Geschichte machen möchten.
Aber sie sehen – ich bin unschlüssig, ob selbst das geht – ob man also auf eine solche Weise aus der Geschichte, oder über Geschichte lernen kann. Bezogen auf die vielleicht massivste Krise unserer Gegenwart, den Umgang und die Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels kann man ketzerisch oder vielleicht zynisch, oder wie ich selbst, resigniert fragen: Wenn es gegenwärtiges naturwissenschaftlich-empirisches Wissen nicht vermag, unsere Gegenwart so zum Tanzen zu bringen, dass wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel ergriffen werden, kann so etwas dann überhaupt historischem Wissens gelingen? Immerhin aber könnte historisches Wissen zeigen, dass unsere Gegenwart generell veränderbar ist.
Am Bild des Tanzens und der strategischen Infragestellung der Gegenwart gefällt mir, dass wir uns beim historischen Lernen erstens auch immer darüber Rechenschaft ablegen müssen, ob und wie wir unsere Gegenwart strategisch in Frage stellen wollen, zweitens aber, dass das Tanzen dann nicht mit einer Musik passiert, die irgendjemand anderes für uns aussucht, sondern die uns unser eigenes historisches Bewusstsein vorspielt. Wir (oder eben die Lernenden selbst) sind es dann, die die Musik machen, mit der wir die Gegenwart zum Tanzen bringen.
Vielleicht kann man* auf diese Weise aus der Geschichte lernen – besser müsste es aber heißen, dass man auf diese Weise mit einer selbst gespielten Musik, mit einer selbst erzählten Geschichte lernen kann.
Langer Rede kurzer Sinn: Ob man aus der Geschichte lernen kann? Ich weiß es nicht.
Aber wenn, wie könnte das gehen: Imaginieren, Tanzen, Erzählen, Verändern.
[1] Benno Hafeneger: Aufwachsen in Krisenzeiten. Jugendliche zwischen Klimakrise, Pandemie und Krieg, in: Journal für politische Bildung 1/2023: Die Welt im Konflikt, Online-Ausgabe: https://www.journal-pb.de/blog/aufwachsen-in-krisenzeiten, zuletzt aufgerufen am 03.05.2023.
[2] Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Zweite, überarbeitete Auflage, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2008, S. 71. Indem an dieser recht frühen Stelle des Buches der Altmeister unseres Faches zitiert wird, ist zugleich der ritualisierten Übung in unserem Fach genüge getan, immer recht früh genau ein solches Rüsen-Zitat zu finden, das den eigenen Argumentationszwecken am besten dient.
[3] S. Ebd., S. 8.