Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Christoph Kalter bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil VI
Wie bestimmt die Distanz zum Untersuchungsgegenstand den Forschungsprozess?
Diskussion am 6. Februar 2023 (online)
Eingangsstatement von Christoph Kalter (Universität Agder, Norwegen)
Die Geschichte der Anderen
Eine ausgefeilte erkenntnistheoretische oder methodologische Reflexion habe ich leider nicht mitgebracht, und was ich sagen werde, stützt sich nicht auf gezielte und ausgedehnte Lektüre.
Stattdessen möchte ich gerne durch die Tür gehen, die die Organisator:innen der Reihe „Geschichtliche Grundfragen“ uns allen so galant aufhalten, und eher niedrigschwellig ein paar lose Überlegungen teilen, die sich aus meiner Forschungspraxis der letzten Jahre ergeben.
Kurz zum Hintergrund: Für etwa zehn Jahre, vom Beginn meines Habil-Projektes im Jahre 2011 an der FU Berlin bis zur Veröffentlichung des daraus resultierenden Buches im vergangenen Jahr, habe ich mich mit portugiesischer Geschichte beschäftigt.
Es geht in meinem Buch um das Ende der europäischen Imperien und um Portugal als post-imperiale Gesellschaft. Der Gegenstand meiner Analyse sind die sogenannten retornados oder „Rückkehrer“ in Portugal. Der Begriff „Rückkehrer“ meint hier über eine halbe Million portugiesische Kolonialsiedler, die nach der Nelkenrevolution in Portugal 1974 widerwillig aus Angola, aus Mosambik und aus anderen Teilen des zerfallenden portugiesischen Imperiums nach Portugal „zurückkehrten“ – in das Land also, dessen Staatsbürgerschaft sie besaßen, und aus dem sie selbst oder ihre Vorfahren zuvor nach Afrika ausgewandert waren.
In Forschungsansätzen wie den postcolonial studies und der Globalgeschichte, die mich beeinflusst haben, wird eingefordert, dass Forschende über ihre eigene Situiertheit in der Gesellschaft und im Forschungsprozess nachdenken sollen. Der Begriff der „Positionalität“ regt dazu an, sich zu fragen: Wie komme ich zu meinem Forschungsthema, was motiviert mich? Welche oft nur halbewussten Vorannahmen leiten mich – Vorannahmen über die soziale Welt und ihre Spielregeln, über die Handlungskompetenz historischer Akteure, oder über die Natur und den Nutzen historischen Wissens? Aber auch: Wie beeinflusst zum Beispiel meine Gender-Identität oder meine Klassenposition den Forschungsprozess?
Zu dieser Art reflexiver Positionalität gehört sicher auch, darüber nachzudenken, welche Art von Beziehung ich zur Geschichte der Menschen und Gesellschaften unterhalte, die ich erforschen möchte.
Was aber, wenn es keine klare Beziehung gibt, zumindest am Anfang eines Forschungsprozesses? Was, wenn ich als deutscher Historiker über Portugal schreibe, ein Land, über das ich nichts weiß? Über eine abrupte Migration und das damit verbundene Gefühl des Verlustes – Dinge, die ich nie selbst erlebt habe? Wenn ich also, um es sehr grob zu formulieren, nicht die eigene Geschichte erforsche, sondern die Geschichte der Anderen?
Genau das war meine Situation am Beginn meiner Forschungen: Als ich beschloss, ein Buch über die portugiesischen "Rückkehrer" zu schreiben, wusste ich nichts über die Portugiesen und ihre Geschichte, weder in Afrika noch in Europa. Ich war noch nie nach Portugal gereist und hätte Mühe gehabt, Lissabon auf einer Karte zu lokalisieren; ich war noch nie bewusst einer Portugiesin oder einem Portugiesen begegnet. Als „Subjekt" meiner Forschung hatte ich keine vorherige Verbindung zu deren „Objekt“.
Ist diese relative Distanz zur Geschichte der Anderen – eine geografische, sprachliche, und kulturelle Distanz – hilfreich, oder ist sie hinderlich? In meinem Fall, glaube ich, dass die Distanz im Großen und Ganzen ein Vorteil war – vor allem deshalb, weil mir als Außenstehendem nichts selbstverständlich erschien. Stattdessen war mir alles im eigentlichen Wortsinn „fragwürdig“.
Zum Beispiel: Waren die Rückkehrer wirklich die Opfer einer Zwangsmigration oder Vertreibung, wie in Portugal gebetsmühlenartig wiederholt wird? Nein, es ist eigentlich viel komplizierter. Oder: War die Integration der Rückkehrer in die portugiesische Gesellschaft wirklich die Erfolgsgeschichte, die von Politikern, Journalisten, und Soziolog:innen immer erzählt wurde? Nein, auch das kann man so nicht sagen. Oder: Warum gerieten Gespräche, die ich mit Portugies:innen hatte so oft ins Stocken, wenn ich mein Forschungsthema erwähnte? Ich habe Jahre gebraucht, um das zu verstehen, beziehungsweise: um mir dieses Verständnis durch meine Forschung zu erarbeiten. Für alle, die in Portugal aufgewachsen sind, ist dagegen das soziale und narrative Tabu der Rückkehrer intuitiv und selbstverständlich – aber gerade deshalb ist es für sie eben auch nicht Gegenstand kritischer Reflexion.
Mit anderen Worten: Wer von außen kommt, kann Fragen stellen, die auf der Innenseite nicht gestellt werden. Und weil neue Fragen neue Antworten produzieren, lässt, so denke ich, meine kulturelle Distanz den Gegenstand in neuem Licht erscheinen. Distanz ist somit ein heuristischer Vorteil, ein guter Ausgangspunkt, vor allem für zeithistorische Studien, die sich der Geschichte der Mitlebenden, und damit dem vermeintlich Nahen und Bekannten widmen.
Das ist die eine Seite, aber es gibt auch die andere, und natürlich hat Distanz auch ernsthafte Nachteile. So hatte ich als Außenseiter anfangs kein akademisches Netzwerk in Portugal. Oder denken wir an Sprachkenntnisse: Nach relativ kurzer Zeit war mein Portugiesisch gut genug, um mich mit Kollegen zu unterhalten und Interviews mit Zeitzeugen zu führen – aber es wurde nie so gut, wie ich mir das in einem professionellen Kontext gewünscht hätte. Dieser Mangel oder dieses Gefühl, ungenügend gerüstet zu sein, beeinträchtigte nicht nur mein Kommunikationsvermögen, sondern erstreckte sich auf das gesamte Netz intellektueller Referenzpunkte, sozialer Konventionen und politischer Bezüge, die eine nationale Kultur ausmachen. Nur ein Beispiel: Noch nie vom Nationaldichter Luís Vaz de Camões und seinem Werk Lusíadas gehört zu haben, ist ungefähr so, als ob ein promovierter Germanist noch nie von Faust oder Goethe gehört hätte. Undenkbar, und doch: Genau das war peinlicherweise meine Situation.
Nicht all diese Wissenslücken kann man in ein paar Jahren schließen, vor allem nicht mit kurzen Forschungsaufenthalten im Land, also nie länger als zwei Monate. Dieses „Defizienz-Bewusstsein“ gebietet eine besondere Bescheidenheit des Forschers. Ich selbst musste mich immer wieder daran erinnern, dass ich vielleicht sogar die grundlegendsten Dinge nicht wissen oder falsch verstehen würde, zumindest am Anfang.
Aber forschendes Außenseitertum erschöpft sich nicht in dieser Kombination von produktiver Neugier auf der einen und unvermeidlicher Kurzsichtigkeit auf der anderen Seite. Das vielleicht zentrale Problem ist die historische Repräsentation. Roger Chartier schreibt, dass der Text nicht einfach die vergangene Realität widerspiegelt, sondern sich an ihre Stelle setzt. Und selbst wenn Historiker:innen die Stimmen historischer Akteure durch die Primärquellen einbeziehen, sprechen sie im Grunde doch immer über und letztlich auch anstelle von, oder für die Menschen, die sie untersuchen – mit einer Autorität, die ihnen durch Bildungsabschlüsse, Genrekonventionen und Publikationskanäle verliehen wird. Historische Repräsentation kann damit nicht von Macht getrennt werden. Und diese Repräsentationsmacht, so meine ich, bekommt eine besondere Färbung, wenn die Historikerin nicht die eigene Geschichte, sondern die der Anderen schreibt.
Was hieß das für mich konkret? Manchmal habe ich einen push-back erlebt. In einigen Fällen wurde meine Repräsentationsmacht von Portugies:innen als arrogante Einmischung betrachtet – zum Beispiel als der portugiesische Botschafter mir auf einer Podiumsdiskussion in Berlin sagte, dass ich als Nicht-Zeitzeuge, als Lehnstuhlhistoriker, und, Achtung, als Ausländer unmöglich verstehen könne, was in den 1970er-Jahren wirklich auf dem Spiel stand. Häufiger geschah jedoch das Gegenteil: Portugiesen sagten mir, dass gerade die Tatsache, dass ich keine persönliche Verbindung zu dieser, wie sie meinten, „komplizierten Geschichte“ der Rückkehrer hatte, mir die nötige Unparteilichkeit verlieh, sie zu untersuchen – eine Unparteilichkeit, so fanden sie, die den Portugiesen fehlte. Wieder andere versuchten, die bestehende Machtdynamik zu unterlaufen, oder jedenfalls für ihre eigenen Ziele zu nutzen: Mehr als einmal wurde mir von Gesprächspartner:innen nahegelegt, in meinen Publikationen doch ein bestimmtes Bild von den Rückkehrern zu zeichnen.
Für das Repräsentationsproblem spielt schließlich auch der politische Kontext eine Rolle: Der Großteil meiner Forschung erfolgte zwischen 2011 und 2016, also in genau den Jahren, in denen die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise Portugal in eine dramatische Rezession und einen brutalen Rückbau des Sozialstaats stürzte. Die von der verhassten „Troika“ auferlegte Sparpolitik, bei der ausgerechnet Deutschland eine führende Rolle spielte, brachte Unternehmenskonkurse, Rentenkürzungen, Arbeitslosigkeit, Auswanderung und Kürzungen im bereits unterfinanzierten Hochschulsektor.
Mit anderen Worten: Meine Privilegien waren überdeutlich sichtbar, nicht zuletzt für mich selbst. Als Angestellter einer Berliner Universität, die auch meine Reisekosten übernahm, kam ich in ein Land, in dem Forscher:innen, die am selben Thema wie ich arbeiten wollten, keine Finanzierung mehr finden konnten, und in dem eine erfahrene Architektin mir ein Zimmer vermieten musste, weil ihr Chef monatelang kein Gehalt zahlen konnte.
Dazu kommt, dass Deutschland aus verschiedenen Gründen im Zentrum der europäischen Geschichte und Geschichtsschreibung steht, während Portugal oft in die Semiperipherie verbannt wird. Die Globalgeschichte hat solche Geographien der Macht zwar kritisiert, aber noch lange nicht überwunden. Es ist ärgerlich, aber bezeichnend, dass mir Kollegen aus der Globalgeschichte häufig geraten haben, den „portugiesischen“ Kern meiner Forschung nicht in den Vordergrund zu stellen und stattdessen die „globale“ Dimension zu betonen, wenn ich meine Arbeit einem „internationalen“ – soll heißen: Englisch-lesenden – Publikum vorstelle. Und tatsächlich spiele ich das Spiel ja mit und publiziere auf Englisch, während viele Expert:innen auf meinem Gebiet überwiegend oder ausschließlich auf Portugiesisch schreiben.
Lassen sie mich zusammenfassen: Die Position des privilegierten Außenseiters kann ein echter forschungspraktischer Vorteil sein. Ein klassisches Beispiel in der europäischen Geschichte ist das Buch des amerikanischen Historikers Robert Paxton über Vichy-Frankreich – es hat der Forschung über die Besatzungszeit wichtige neue Impulse gegeben. Gleichzeitig aber heißt die Geschichte der Anderen zu schreiben auch, dass wir in einen Deutungszusammenhang eintreten, dessen sprachliche, soziale und kulturelle Voraussetzungen uns zunächst fehlen, und die wir uns nur unvollkommen erarbeiten können.
Nicht zuletzt begeben wir uns als Historiker:innen der Anderen auch in ein Beziehungsgeflecht, das in besonderer Weise „vermachtet“ ist – in eine Konstellation also, an der wir in der Regel nur wenig ändern können, mit der wir aber achtsam, ehrlich, und selbstreflexiv umgehen sollten.