Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Rüdiger Graf bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand erstmalig im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. Die Reihe wurde in den Jahren 2024 und 2025 (online) weitergeführt.
zeitgeschichte|online veröffentlicht alle Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert daraufgelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil XI: Gibt es historische Wahrheit?
Diskussion am 10. November 2025 (online)
Eingangsstatement von Rüdiger Graf (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung)
Die Frage nach der Wahrheit in der Geschichtswissenschaft beschäftigt mich seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, als ich neben Geschichtswissenschaften auch Philosophie studiert habe. Im Philosophiestudium habe ich mich vor allem mit analytischer Philosophie, Erkenntnistheorie, Wahrheitstheorien und wahrheitskonditionaler Semantik beschäftigt. Zeitgleich wurde im Zeichen der neuen Kulturgeschichte in den Geschichtswissenschaften über die sogenannte „postmoderne Herausforderung“ diskutiert und die Relevanz des Wahrheitsbegriffs ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Beide Diskussionen standen unvermittelt nebeneinander, und ihre Protagonist*innen nahmen einander kaum oder gar nicht wahr. In zwei der ersten Aufsätze, die ich veröffentlicht habe, habe ich daher versucht, sie miteinander ins Gespräch zu bringen, wie ich heute formulieren würde. Damals habe ich in jugendlicher Selbstüberschätzung gedacht, dass ich mit Donald Davidsons Sprachphilosophie die gesamte postmoderne Wahrheitsskepsis mit einem Schlag als unbegründet bzw. unsinnig erledigen könnte.[1] Das ist natürlich nicht gelungen, aber ein paar Punkte von damals halte ich heute noch immer für richtig und denke, dass sie vor allem Lichte der jüngeren Diskussionen um „Postfaktizität“ und „post-truth“ noch an Gewicht gewonnen haben.
In der geschichtswissenschaftlichen Wahrheits-, Objektivitäts- und Faktizitätsdiskussion gab es zwar Anfang der 2000er Jahre eine Art Ermattungsstillstand, aber die öffentliche Diskussion intensivierte sich zeitgleich. Im Jahr 2004 veröffentlichte der US-amerikanische Bestsellerautor Ralph Keyes das Buch „The Post-Truth Era. Dishonesty and Deception in Contemporary Life“.[2] Keyes meinte, dass Lügen in der Gegenwart zunähmen, gesellschaftlich für unproblematischer gehalten und weniger strikt geahndet würden. Neben vielen anderen Ursachen machte er dafür auch eine postmoderne Leugnung universeller Wahrheit verantwortlich, die sich an den Universitäten verbreitet habe. Interessanterweise führte Keyes als einen der ersten anekdotischen Belege dafür, dass eine „post-truth era“ angebrochen sei, an, wie schamlos Donald Trump den Erfolg seiner Fernsehshow „The Apprentice“ öffentlich übertrieben und das als „truth hyperbole“ gerechtfertigt habe.[3] Als Trump 2016 zum US-Präsidenten gewählt wurde, kürte das Oxford English Dictionary „post-truth“ zum Wort des Jahres, und die Gesellschaft für Deutsche Sprache entschied sich im gleichen Jahr für das analoge „postfaktisch“. Kurze Zeit später rieb man sich verwirrt die Augen, als weltweit Wissenschaftler*innen im March for Science auf die Straße gingen, um für die Wahrheit und Faktizität ihrer Erkenntnisse zu demonstrieren; ganz so, als habe es Postmoderne, Dekonstruktion, Sociology of Scientific Knowledge und Science and Technology Studies nie gegeben.
Damals wie heute geht in den Diskussionen über Wahrheit und Wissenschaft einiges durcheinander. Im Folgenden schlage ich deshalb drei Differenzierungen vor, die meiner Ansicht nach zur Klärung beitragen können, und versuche dann, daraus die Funktion und Bedeutung des Wahrheitsbezugs in der Geschichtswissenschaft abzuleiten.
- „Post-truth“ beschreibt die intellektuelle Konstellation der Gegenwart in unzureichender und irreführender Weise. Die universelle Wahrheitsskepsis, also der Zweifel daran, ob es Wahrheit überhaupt gibt und ob wir sie erkennen können, ist vielmehr nur die eine Seite eines wahrheitspolitischen Paradoxes, das der Philosoph Bernard Williams schon um die Jahrtausendwende beschrieben hat.[4] Auf der anderen Seite steht die ebenso weit verbreitete Überzeugung, durch die Oberfläche hindurch die Wahrheit, die tatsächlich wirkenden Strukturen und Ursachen, erkennen zu können. In diesem Sinne hat auch der Politikwissenschaftler Michael Zürn argumentiert, ein entscheidendes Merkmal des autoritären Populismus sei dessen Wahrheitsverständnis, das zwischen Relativismus und Absolutismus changiere.[5] Die radikale Rechte leugnet demnach nicht die Möglichkeit, die Wahrheit zu erkennen, sondern nimmt sie vielmehr emphatisch für sich in Anspruch. In Frage stellt sie hingegen die epistemische Autorität der wissenschaftlichen Institutionen, die Wahrheit bisher verbürgt haben, genauso wie die Integrität der Medien, die vorgeben, Erkenntnisse der Wissenschaften zu kommunizieren. Sicherlich findet man auf der autoritären Rechten auch Beispiele dafür, dass jeglicher Wahrheitsbezug aufgegeben wird, aber deutlich stärker ausgeprägt sind dort das Beharren auf der eigenen Wahrheit und der Anspruch, die Lügen und Heuchelei des politischen Gegners, der Eliten oder des Establishments zu entlarven.
- Im Unterschied zu diesen wahrheitsemphatischen Diskussionen operieren wir in der Geschichtswissenschaft relativ selten mit dem Begriff der Wahrheit. Sieht man von den geschichts- und erinnerungspolitisch wichtigen Debatten etwa im Umgang mit historischen Verbrechen einmal ab, geht es uns selten um die Feststellung der „historischen Wahrheit“. Wenn in historiographischen Texten einmal die Formulierung fällt, etwas sei „in Wahrheit“ so oder so gewesen, folgen danach zumeist eher kontroverse Aussagen. Wer sein eigenes Forschungsprojekt als Wahrheitssuche beschriebe, würde im Fach wohl eher belächelt werden. Die einen würden entgegnen, dass man die Wahrheit doch nie sicher feststellen könne, und andere darauf hinweisen, dass das allenfalls eine sehr unzureichende Bestimmung des Unterfangens sei. Schließlich gehe es zumindest ebenso sehr darum, etwas Neues herauszufinden, eine interessante Geschichte zu erzählen, bestimmten Perspektiven Gehör zu verschaffen oder ähnliche Dinge.
Grundsätzlich denke ich, dass viel danebengeht und die eigentlichen Probleme unnötig verunklart werden, wenn wir uns in der Geschichtswissenschaft oder in anderen Fächern über die „Wahrheit“ Gedanken machen, also über das Substantiv, und sie so behandeln, als wäre sie ein Ding, das wir erkennen können oder nicht. Auch führen Beschreibungen in die Irre, die Wahrheit sei etwas, dem wir uns annähern oder das wir verfehlen könnten.[6] In Büchern, die sich auf diese Weise mit der Wahrheit beschäftigen, wie zum Beispiel Rob Wijnbergs „Ruinen der Wahrheit. Eine kurze Geschichte unserer Zeit“, liest man Sätze wie „Was Liebe für den Menschen ist, ist Wahrheit für die Menschheit“, die Wahrheit sei „ein gesellschaftlicher Gemütszustand“ oder „die Brille, durch die eine Gesellschaft die Welt betrachtet“.[7] Solche Formulierungen mag man poetisch finden und darüber tiefsinnig werden, aber es bleibt letztlich völlig unklar, was sie bedeuten sollen.
Statt uns über die Wahrheit den Kopf zu zerbrechen, würde ich vorschlagen, dass wir lieber über die Prädikate „wahr/falsch“ sowie über ihre Funktion und Bedeutung in unserer (Fach-)sprache nachdenken sollten. Auch die können wir auf verschiedene Weisen verwenden und etwa von „wahren Freunden“ oder „falschen Interessen“ sprechen. Im wissenschaftlich relevanten Sinn werden sie aber zunächst einmal auf Sätze angewandt: Wahr oder falsch sind Sätze bzw. die mit ihnen zum Ausdruck gebrachten Meinungen. Und zwar nur Sätze und keine ganzen Erzählungen.[8] Mit Niklas Luhmann gesprochen, ist wahr/falsch die Leitdifferenz des Wissenschaftssystems. Ob die enthaltenen Sätze wahr sind, ist nicht das einzige, aber doch ein wesentliches Kriterium, anhand dessen die Qualität wissenschaftlicher Texte beurteilt wird.
- Wenn wir über „wahr“ und „falsch“ in der Geschichtswissenschaft oder anderswo nachdenken, sollten wir klar unterscheiden zwischen der Bedeutung der Ausdrücke auf der einen Seite und den Techniken und Verfahren, mit denen wir feststellen, ob etwas wahr oder falsch ist, auf der anderen Seite. Wie unzählige Arbeiten zur Wissenschafts- und Wissensgeschichte herausgearbeitet haben, haben sich die Verfahren der Wahrheitsfeststellung dramatisch verändert.[9] Von vielen Sätzen, die einst als wahr galten, wissen wir heute, dass sie falsch sind. Dementsprechend ist auch alles, was heute als Wissen gilt, grundsätzlich fallibel. Von vielen Überzeugungen können wir es uns vielleicht nicht vorstellen, aber wir wissen nicht, welche sich zukünftig als falsch erweisen werden. Unser wissenschaftliches Wissen entsteht in sozialen Prozessen unter Nutzung sich wandelnder technischer Verfahren zu bestimmten Zeiten und an konkreten Orten: Es ist wandelbar und relativ.
Das heißt aber nicht, dass wir auch etwas Relatives meinen, wenn wir sagen, dass ein Satz wahr ist. Wir sagen damit nicht, dass er nur für uns hier und jetzt gerechtfertigt ist, nicht aber für andere Menschen zu anderen Zeiten. Die Prädikate „ist wahr“ und „ist gerechtfertigt“ sind nicht synonym, sondern sie haben verschiedene Bedeutungen.[10]Schließlich können wir problemlos denken, dass ein Satz gerechtfertigt ist, aber nicht wahr. Manche Vertreter*innen einer Konsenstheorie der Wahrheit wollen diese Differenz dadurch auflösen, dass sie Wahrheit als Rechtfertigung einer idealen Forscher*innengemeinschaft unter optimalen Bedingungen begreifen. Aber diese Idealisierung ändert nichts daran, dass, solange Menschen einen Satz rechtfertigen, der Satz auch falsch sein kann. Schließlich hängt es nur von zwei Dingen ab, ob ein Satz wahr oder falsch ist, nämlich zum einen davon, was die in ihm genutzten Wörter bedeuten und zum andern davon, wie die Welt eingerichtet ist. Dieses Verständnis von Wahrheit als Korrespondenz zwischen Meinung und Welt sagt nichts darüber, wie wir die Wahrheit letztlich feststellen können. Schließlich ist die Welt nicht in Sachverhalte parzelliert, und wir könnten keinen externen Standpunkt einnehmen, von dem aus wir deren Korrespondenz mit unseren Meinungen feststellen.[11] Deshalb ist es aber nicht überflüssig, sondern es erfüllt dennoch wichtige Funktionen.[12]
Worin bestehen diese Funktionen, und warum sollten wir nicht auf die Unterscheidung „wahr/falsch“ verzichten? Sprachphilosophisch liefert die wahrheitskonditionale Semantik ein starkes Argument für einen solchen Wahrheitsbegriff: Um eine Sprache zu erlernen, muss man zunächst einmal unterstellen, dass in ihr im Wesentlichen wahre Sätze über eine geteilte Welt produziert werden. Andernfalls wird man sie nicht verstehen.[13] Als Historiker*innen interessieren uns sprachphilosophische Argumente vielleicht nicht so sehr, aber es gibt auch zwei konkretere, praktische Funktionen, die für ein in diesem Sinne realistisches Wahrheitsverständnis sprechen. Die erste würde ich als Dissidenzfunktion bezeichnen: Der Gedanke, dass auch die mit den besten Methoden festgestellten und von den meisten für wahr gehaltenen Annahmen des Fachs falsch sein könnten, weil sie der Welt nicht entsprechen, ist ein starker, wenn nicht der stärkste Antrieb für heterodoxes Fragen. Dieses ist wiederum entscheidend dafür, dass etabliertes Wissen immer wieder herausgefordert, überprüft, verworfen, verbessert und erweitert wird und damit das historische Gespräch weitergeht.
Die zweite wesentliche Funktion besteht in der Sinnkritik. An historiographische Texte immer wieder die Frage zu stellen, ob die in ihnen enthaltenen Sätze denn wahr sind, ist nicht nur geschichtspolitisch nötig, um historische Lügen als solche benennen zu können. Vielmehr und vielleicht noch wichtiger richtet sich die Wahrheitsfrage auch gegen die Verbreitung von historischem Bullshit. Bullshit liegt nach Harry Frankfurt dann vor, wenn Autor*innen ihre Aussagen weder für wahr noch für falsch halten, sondern sich überhaupt nicht ernsthaft um deren Wahrheitsbedingungen kümmern.[14] Von solchen Sätzen gibt es zu viele in historischen Texten, und wir sollten uns bemühen, sie zu reduzieren. Das heißt also, wir sollten nicht nach der historischen Wahrheit suchen, wohl aber und immer wieder danach, ob die Sätze, die wir über Vergangenes formulieren, wahr sind oder falsch.
[1] Rüdiger Graf, Interpretation, Truth, and Past Reality. Donald Davidson Meets History, in: Rethinking History 7 (2003), H. 3, S. 387–402; ders., Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit, in: Andreas Frings/Johannes Marx (Hrsg.), Erzählen, Erklären, Verstehen. Beiträge zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der Historischen Kulturwissenschaften, Berlin/Boston 2008, S. 71–98; Davidsons wichtigste Aufsätze sind gesammelt in: Donald Davidson, Inquiries Into Truth and Interpretation, Oxford 1984; ders., Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford 2001.
[2] Ralph Keyes, The Post-Truth Era. Dishonesty and Deception in Contemporary Life, New York 2004, S. 130–148.
[3] Ebd., S. 14.
[4] Bernard Williams, Truth and Truthfulness. An Essay in Genealogy, Princeton, N.J. 2002, S. 1.
[5] Michael Zürn, Die regulative Idee der Wahrheit und demokratische Regression, in: Peter Niesen (Hrsg.), Zur Diagnose demokratischer Regression, Baden-Baden 2023, S. 54–82.
[6] Donald Davidson, Is Truth a Goal of Inquiry? Discussion with Rorty. In: Urszula Zeglen (Hrsg.): Donald Davidson. Truth, Meaning and Knowledge, London 1999, S. 1–19.
[7] Rob Wijnberg, Ruinen der Wahrheit. Eine kurze Geschichte unserer Zeit, München 2025, S. 11f.
[8] Franklin R. Ankersmit, Narrative Logic. A Semantic Analysis of the Historian’s Language, Den Haag 1983, S. 58-78.
[9] Siehe zum Beispiel Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago 1994.
[10] Donald Davidson, Truth Rehabilitated, in: Alan Malachowski (Hrsg.), Richard Rorty, Chesham 2002, S. 205–216.
[11] Richard Rorty, Is Truth a Goal of Inquiry? Donald Davidson versus Crispin Wright, in: Richard Rorty (Hrsg.), Truth and progress, Cambridge 1998, S. 19–42.
[12] Davidson, Truth Rehabilitated.
[13] Donald Davidson, Radical Interpretation (1973), in: Inquiries Into Truth and Interpretation, S. 125–140.
[14] Harry G. Frankfurt, On bullshit, in: The Importance of What We Care About. Philosophical Essays, Cambridge 1988, S. 117–133.
Zitation
Rüdiger Graf, Rüdiger Graf Teil 11): Gibt es historische Wahrheit?, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/ruediger-graf-teil-11-gibt-es-historische-wahrheit