Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Wolfgang Knöbl bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. Die Reihe wurde im Jahr 2024 (online) weitergeführt.
zeitgeschichte|online veröffentlicht alle Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil X: Was können Historiker*innen, was andere nicht können?
Diskussion am 18. November 2024 (online)
Eingangsstatement von Wolfgang Knöbl (Hamburger Institut für Sozialforschung)
Mein Impuls ist notwendigerweise ein ganz spezieller, da ich kein Historiker bin und deshalb von außen, konkret: aus der Soziologie, auf die Geschichtswissenschaft blicke, wobei zudem die Frage relevant wird, wo genau dieses Außen zu verorten ist, im deutschen Sprachraum oder etwa im anglo-amerikanischen. Vielleicht hierzu vorweg: Aus verschiedenen Gründen, die man anschließend vielleicht noch diskutieren kann, war die Abgrenzung zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie bzw. den Sozialwissenschaften eine ganz eigentümliche: Während die deutschen (aber nicht nur die deutschen) Historiker:innen – Stichwort: Historische Sozialwissenschaft und Sozialgeschichte – seit den 1960er Jahren sehr offensiv auf soziologisches Handwerkszeug zurückgriffen, war dies umgekehrt gerade nicht der Fall. Die deutsche Soziologie interessierte sich herzlich wenig für historische Argumente, was sich auch daran zeigt, dass eine Subdisziplin wie die Historische Soziologie trotz des Weberschen, Sombartschen etc. Erbes hierzulande nicht wirklich existiert. Ihren Aufschwung nahm die Historische Soziologie seit den 1970er Jahren in den USA und – zeitweise – in Großbritannien, wo sie auch heute noch gut etabliert ist und wo intensiv auch das Verhältnis der beiden Fächer diskutiert worden ist. In diesem Feld gibt es vielleicht keinen Konsens, aber doch eine große Übereinstimmung hinsichtlich der These, dass zwischen den beiden Fächern weder methodisch noch inhaltlich irgendein nennenswerter Unterschied besteht, wie dies etwa Anthony Giddens schon in den 1980er Jahren so vertreten hat. Denn ganz selbstverständlich haben nicht wenige der dort arbeitenden Kolleg:innen eine historische Ausbildung, arbeiten sie in Archiven, wissen sie, was Quellenkritik ist etc.
Aber selbstverständlich lassen sich unterschiedliche Fächerkulturen ausfindig machen, ist das Arbeiten in den zwei Disziplinen von unterschiedlichen Chancen, Restriktionen und Gewohnheiten geprägt, die sich vielleicht nicht an einzelnen Forscher:innen festmachen lassen, aber doch an Tendenzen, die die Fächer als solche charakterisieren. Dies im Gedächtnis haltend, will ich auf mehrere Punkte aufmerksam machen, die meiner Ansicht nach das Besondere der Geschichtswissenschaft (im Unterschied zur Soziologie) kennzeichnen.
- Alltagssprachlich und etwas flapsig formuliert, könnte man sagen, dass Historiker:innen nichts fremd ist, so dass sie wesentlich weniger normativ auf ihre Gegenstände zugreifen, als dies in den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Soziologie, der Fall ist. Soziologische Forschung ist – nicht zuletzt auch durch die Form der Drittmittelvergabe – eine stark normative Wissenschaft geworden, die sich allzu leicht politischen Anforderungen gebeugt hat und noch immer beugt, was sowohl in ihren Gegenständen als auch in ihren Konzepten zum Ausdruck kommt. Fragen der gesellschaftlichen Integration oder des gesellschaftlichen Zusammenhalts, wie sie in der Politik formuliert wurden, prägen unmittelbar das Arbeiten in der Soziologie, wobei – auch das wurde selbst in der Presse kritisch kommentiert – ziemlich unklar ist, was genau darunter gemeint ist außer, dass allzu viel Konflikt und Streit irgendwie schlecht sei. Die sozialwissenschaftliche Europaforschung – ein weiteres Beispiel – wurde lange Zeit ausschließlich unter dem normativen Vorzeichen einer EU-Integrationsperspektive betrieben, ohne hier überhaupt noch zu fragen, ob es diesbezüglich auch erhebliche Friktionen gibt und ob man nicht auch einen anderen normativen Standpunkt einnehmen könnte. Und nicht zuletzt die Transformationsforschung zum Umbruch in Osteuropa nach 1989/90 hat ebenfalls unter dem Zeichen einer notwendigen „nachholenden Revolution“ gestanden, ohne dass die dahintersteckenden modernisierungstheoretischen Perspektiven groß hinterfragt worden wären. – Insofern sind dann Anstöße aus der Geschichtswissenschaft, die etwa eine dezidiert nicht-normative Perspektive einnehmen immer enorm hilfreich, wobei ich hier nur auf Kiran Patels Arbeiten zu Europa verweisen möchte (etwa auf sein „Projekt Europa. Eine kritische Geschichte“ aus dem Jahre 2018), die zum Teil ganz andere und vor allem fruchtbarere Perspektiven eröffnen als die vielen soziologischen Arbeiten zu diesem Thema.
- Es ist in der Tat so, dass die Wissenschaftsgeschichte und die Begriffsgeschichte (in ihren unterschiedlichen Ausprägungen) für die Soziologie und die anderen Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft enorm viele Anregungen bereithält, eine Aussage, die überraschen mag angesichts der Klassikerfixiertheit gerade der deutschen Soziologie, in der noch die letzten Seufzer von Max Weber ausführlich interpretiert wurden und noch werden: Die Marxologie der 1970er Jahre hat der Weberei der 80er und 90er Jahre Platz gemacht und ist zum Teil noch immer höchst lebendig. Aber die in der Soziologie betriebene Aufarbeitung der Fachgeschichte erfolgt zumeist unter der Fragestellung „Wie es eigentlich gewesen ist“, methodische Innovationen sind hier eher selten, Rückgriffe auf Ideen aus der Begriffsgeschichte sind hier alle eher zögerlich erfolgt. Gerade wenn man, wie in Politikwissenschaft und Soziologie, mit großen Prozessbegriffen arbeitet, die an sich so umkämpfte und umstrittene Begriffe wie Demokratie, Individuum, Religion etc. verwenden (also Demokratisierung, Individualisierung, Säkularisierung), wären ja kontextualisierende Analysen zu Konzepten extrem wichtig. In der Soziologie findet man das eher wenig, hier hat die Geschichtswissenschaft eindeutig ihre Stärke, selbst wenn dies in der Soziologie oft verkannt wird. Wenn man hier ein Beispiel nennen will, so trifft es nun einen hier virtuell Anwesenden, etwa Rüdiger Grafs jüngst erschienenes Buch „Vorhersagen und Kontrollieren: Verhaltenswissen und Verhaltenspolitik in der Zeitgeschichte“ (2024), das nochmals einen ganz anderen Blick auf theoretische Veränderungen in der sozialwissenschaftlichen Diskurslandschaft wirft. Oder – ein weiteres Beispiel – auf Martin Deuerleins „Das Zeitalter der Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren" von 2020.
- Das führt unmittelbar zu einem irgendwie verwandten, aber doch auch ganz anderen Punkt. Gerade weil man die Quellenkritik, auch die historische Semantik als eine der Stärken des historischen Arbeitens bezeichnen sollte, kann es doch irritieren, wie umstandslos gerade auch die Zeitgeschichte nach wie vor neugeschöpfte Konzepte aus der Soziologie verwendet und adoptiert, bevor dann – dies sei zugestanden – langsam die Kritik daran beginnt. Ich jedenfalls bin immer wieder erstaunt, wie schnell zeitdiagnostische Überlegungen aus der Soziologie in die Geschichtswissenschaft einfließen, weil man offensichtlich auf der Suche nach strukturierenden Konzepten ist: Die Rede von Individualisierung und Singularitäten, von Differenzierung, von Globalisierung etc. scheint oftmals so attraktiv zu sein, dass man sich zunächst wenig fragt, wie es um die analytische Schärfe der hierbei verwendeten Begriffe bestellt ist. Das mag vielleicht kein grundsätzliches Problem sein, weil – wie angedeutet – die Historiker:innen klug genug sind, um selbst dann bestimmte Korrekturen vorzunehmen. Aber als die Geschichtswissenschaft betrachtender soziologischer Leser macht man doch dann auch erstaunliche Erfahrungen, wenn man sich im Fach Geschichte umtut, um dort wirklich Neues, Widerständiges zu erfahren. Um ein Beispiel zu geben: Liest man etwa die von C.H. Beck und Harvard UP herausgegebene 6 Bände zur Weltgeschichte oder die ebenfalls mehrere (sieben bzw. neun) Bände umfassende Cambridge World History, so kann man als Soziologe die merkwürdige Erfahrung machen, dass die Bände theoretisch umso interessanter sind, je weiter sie von der Gegenwart entfernte Phänomene in den Blick nehmen. Natürlich geben mir die Bände zum 19. und 20. Jahrhundert unendlich viele Informationen über Geschehnisse in der Welt, über die ich keine Ahnung habe. Aber der theoretische Mehrwert der Lektüre hält sich einfach deshalb in Grenzen, weil die Strukturierung des Materials oftmals in einer Weise erfolgt, wie sie mir aus der Soziologie nur allzu vertraut ist. Die Texte zur Frühen Neuzeit hingegen sind oft ganz anders aufgearbeitet, eröffnen mir aufgrund der Verwendung ganz anderer Konzepte dann auch Perspektiven, die ich so weder kenne noch so erwartet hätte. Insofern würde ich behaupten, dass – und das bezieht sich auf die in unserem Seminarkontext gestellte Frage nach dem, was die Historiker:innen besonders auszeichnet – das Besondere der Geschichtswissenschaft in der selbstbewussten Abgrenzung von bestimmten theoriepolitischen Programmen in der Soziologie bestehen könnte.
- Zum Schluss noch ein Punkt zur Frage der Rolle der Geschichtswissenschaft in der und für die Gesellschaft, die ich bislang nicht angeschnitten habe und zu der ich auch wenig beizutragen habe. Ich kann hier auch nur quasi ex negativo eine Antwort geben: Die Soziologie ist derzeit gut im Geschäft mit ihren Zeitdiagnosen. Die diesbezüglichen Bücher, die sich de facto nur auf Deutschland beziehen, verkaufen sich gut bis sehr gut, über die Qualität kann man vielleicht streiten, was ich hier nicht tun will. Aber die Geschichtswissenschaft ist keineswegs abgehängt, ganz im Gegenteil: Ich sehe es als eine der großen Stärken dieser Disziplin, dass sie sich noch für andere Weltregionen interessiert und dass sie deswegen von ihren Student:innen immer noch Sprachkompetenzen einfordert, die dann auch zu bestimmten Länder- oder Regionalkompetenzen führen. Die auf die englische Sprache fokussierte Stromlinienförmigkeit der sozialwissenschaftlichen Argumentation scheint in der Geschichtswissenschaft (noch) nicht gegeben zu sein, was ich als ein großes „Asset“ der Disziplin bezeichnen würde und was natürlich auch mit bestimmten Infrastrukturen zusammenhängt, die sich die Disziplin geschaffen hat – von den DHIs in der ganzen Welt bis hin zu regionalhistorisch je unterschiedlich aufgestellten Geschichtsinstituten. Einen Soziologen oder eine Soziologin zu finden mit breiten Kompetenzen in den Nachbarländern Frankreich oder gar Polen, könnte sich als ausgesprochen schwierig erweisen. In der Geschichtswissenschaft scheint mir dies – aber die Historiker:innen können mich hier korrigieren – nicht der Fall zu sein, weswegen mir als Außenseiter diese Kompetenz wichtiger zu sein scheint als all dies, was mit KI etc. als Herausforderungen auf uns zukommen wird, zumal diese Herausforderungen ja auch in allen Nachbarfächern angenommen und in ähnlicher Form bewältigt werden müssen.