Der Begriff „Zeitenwende“, den Olaf Scholz mit seiner Rede am 27. Februar 2022 so prominent auf die Agenda der Ampel-Regierung setzte, trifft den Zeitgeist unserer Gegenwart. Unzählige Presseartikel und wissenschaftliche Abhandlungen der letzten zwei Jahre tragen ihn im Titel. Sie zeugen von dem Potenzial dieser Wortkombination zum Assoziieren oder zur Deutung − unabhängig davon, ob die Autor*innen feststellen, dass eine Zeitenwende stattfand, ihr Fehlen bedauern oder ihre Notwendigkeit unterstreichen. Doch: Was bedeutet ‚Zeitenwende‘ überhaupt? Welches Zeitverständnis verbirgt sich hinter dem aktuellen Zeitenwende-Boom und wie prägt es unsere Wahrnehmung der geopolitischen Gegenwart?[1]
Gerade ein Vergleich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglicht es, genauer zu rekonstruieren, was Zeitenwende überhaupt bedeutet, denn: Auf der Suche nach Ansatzpunkten, um den Zeitenwende-Begriff zu erschließen, stößt man unweigerlich auf Theorien über die moderne Zeit. Die Vorstellung, dass es zu einem grundlegenden Richtungsumschwung in der (Welt-)Geschichte kommen kann – wobei die davorliegende Zeit plötzlich als abgeschlossen gilt, während die Zeit danach als grundsätzlich neu erscheint – gilt prominenten Stimmen wie Reinhart Koselleck, Peter Osborne oder Aleida Assmann als ein genuin modernes Phänomen.[2] Ein Blick in die Warschauer Presse am Anfang des 20. Jahrhunderts kann helfen zu verstehen, wie dieses Phänomen des „Brechens der Zeit“, wie es Aleida Assmann nennt, bzw. der Grenzziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Moderne funktioniert(e).
Zeitenwenden in der Moderne: die Jahre 1900/01 und 1905
Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erlebte die Bevölkerung der Stadt Warschau innerhalb von fünf Jahren zwei Zäsuren: die Jahrhundertwende und die Revolution von 1905. Eine zentrale Rolle bei der Definition dieser beiden Momente als historische Wendepunkte spielte die lokale Presse. In ihren Artikeln zum Jahreswechsel schrieben die meisten Publizist*innen über Erfahrungen der rasanten Urbanisierung, Industrialisierung und Elektrifizierung. Sie nutzten die Jahrhundertwende, um den Beginn einer neuen Epoche zu verkünden: die Epoche des Fortschritts, der unaufhaltsamen Kraft der Menschheitsgeschichte, die sich auch in Warschau manifestiere. Die Berichterstattung im Jahr 1905 vermittelte dagegen das Gefühl einer völlig unerwartet eintretenden neuen Zeit, die – durch die Revolution bedingt – Umwälzungen im politischen und gesellschaftlichen Leben Warschaus anstieß.
Beide Zäsuren gründeten auf einer scharfen Abgrenzung der Gegenwart von der Vergangenheit, die die Warschauer Printmedien durch teilweise drastische Metaphern transportierten. Beispielweise erklärte eine führende Warschauer Zeitschrift am 1. Januar 1901 das 19. Jahrhundert als „von uns genau so weit weg wie Troja oder Karthago“, während eine andere den Beginn des 19. Jahrhunderts sogar als „vorsintflutlich“ bezeichnete.
In deutlichem Kontrast zur Vergangenheit als ferne und abgeschlossene Zeit beschrieb die Presse die Gegenwart nach der Jahrhundertwende und während des Jahres 1905 mit Attributen wie „neu“, „drängend“ „bahnbrechend“, „epochal“, „mit einem Schlüsselcharakter“. In diesen Bewertungen klang auch eine Aufwertung gegenüber der Vergangenheit an: Neu oder epochal bedeutete meist auch besser als früher. Darüber hinaus wurde die Gegenwart durch ihre besondere Ereignisdichte von der Vergangenheit abgegrenzt. Diese Erfahrung der Verdichtung des Geschehens fand in den Pressekommentaren zur Revolution von 1905 Niederschlag in Bemerkungen wie: „In Zeiten wie diesen durchlebt eine Gesellschaft ganze Jahrzehnte in wenigen Monaten“ oder „Der gegenwärtige Augenblick bedeutet tausend Jahre“.
Galten Gegenwart und Vergangenheit als nahezu gegensätzliche Pole, so wurden Gegenwart und Zukunft hier eher in einem Zusammenhang gesehen. Da die Gegenwart sich im Vergleich zur Vergangenheit so stark verändert hatte, erschien einigen Publizist*innen die Zukunft plötzlich ergebnisoffen und unberechenbar. Für andere war die Zukunft der Erwartungshorizont, in dem sich die positiven Neuheiten der Gegenwart entfalten sollten. Die Zukunft wurde aber vor allem als aus der Gegenwart heraus „planbar“ oder als Denkraum für „Projekte“ beschrieben.[3]
Zeitenwenden heute: die Jahre 2022 und 2023
Etwa 120 Jahre später, am 26. Februar 2022, eröffnete DER SPIEGEL seine erste Printausgabe nach Russlands Angriff gegen die Ukraine wie folgt: „Es gibt Dekaden, in denen passiert nichts, soll Lenin gesagt haben. Und dann gibt es Wochen, in denen werden Dekaden gemacht. Wie in dieser. […] Mit dem Überfall auf die Ukraine endet eine Epoche. […] Eine neue, gefährliche Zeit beginnt.“[4]
Auf den ersten Blick weist dieses Zitat frappierende Ähnlichkeiten mit der Warschauer Presse zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Außer der Erkenntnis, dass eine neue Zeit beginnt, die die Epoche davor schlagartig beschließt, ist auch die Vorstellung der Gegenwart als ein Augenblick vorhanden, in dem sich die Entwicklung mehrerer Jahrzehnte Geschichte konzentriert abspielt. Nicht zufällig ordnet die Erwähnung von Lenin die Zäsur des russischen Angriffs gegen die Ukraine in die moderne Zeiterfahrung der Revolution ein.
Die Zeitenwende, die der Bundeskanzler wenig später verkündete, liefert weitere Analogien.[5] Zum einen hob seine Rede das Eintreten einer völlig neuen geopolitischen Realität hervor, die Scholz als Resultat einer längeren Entwicklungslinie deutete: der jahrhundertalten Politik des Expansionismus der Großmächte und insbesondere des imperialen Drangs Russlands als Großmacht. Andererseits war Scholz’ Verkündung einer Zeitenwende auch ein Moment der menschlichen Ermächtigung über den Lauf der Geschichte: Sie schrieb der damaligen deutschen Regierung die Fähigkeit zu, eine neue Zeit mit einer neuen Richtung aktiv herbeizuführen. In dieser doppelten Vorstellung der Wende schwingt daher ein Zeitempfinden mit, das für Koselleck kennzeichnend für die modernen Kategorien von Fortschritt und Revolution sind: Es geht um die Wahrnehmung der Geschichte als eine „übermächtige“ und nicht aufzuhaltende Entwicklungskraft, zugleich aber um die „Machbarkeit“ bzw. die Gestaltbarkeit der neuen Zeit durch menschliche Akteure.[6] Diese beiden Wahrnehmungen durchdrangen ebenfalls die Artikel der Warschauer Presse der Jahre 1900/01 und 1905.
Betrachtet man das SPIEGEL-Zitat und die Rede von Scholz näher, so treten allerdings große Unterschiede zu dem Empfinden der Zeitenwenden am Anfang des 20. Jahrhunderts hervor. Der SPIEGEL definiert die Gegenwart nach dem 24. Februar 2022 zwar als neu und dicht an Ereignissen. Sie ist jedoch sicherlich weder besser als die Vergangenheit noch ein Ausgangspunkt für die Planbarkeit der Zukunft oder den Entwurf von Projekten. Im Gegenteil: Gegenwart und Zukunft gelten auf einmal als „gefährlich“. Auch die Übermacht der Geschichte und die Machbarkeit der neuen Zeit sind in der Zeitenwende-Rede nur blasse und finstere Varianten von Fortschritt und Revolution. Die Erkenntnis, dass der Imperialismus die treibende Geschichtskraft ist, die die neue Gegenwart des Kriegs schafft, hat deutlich andere Züge als die Bewunderung des Fortschritts zur Jahrhundertwende. Und der Aufruf zu einer aktiven Zeitenwende u. a. in dem deutschen Blick auf Ostmitteleuropa und Russland lässt kaum das Verständnis der Gegenwart als revolutionärer Möglichkeitsraum verspüren, welches das Jahr 1905 kennzeichnete.
Was sich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis 2022 substanziell verändert hat, ist die Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Eine Überlagerung bzw. Überschreibung der Gegenwart durch die Vergangenheit insbesondere der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkriegs anstelle von Abgrenzung zwischen diesen beiden Zeitdimensionen – darauf lässt sich die deutlich andere Wahrnehmung der Zeit nach dem 24. Februar 2022 im Vergleich zu jener von 1901 oder 1905 zurückführen.[7]
Die Vorstellung, dass in der neuen Ära nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts wiederkehrt, trifft ebenso – wenn nicht noch mehr – auf die Beschreibung der neuen Gegenwart nach dem 7. Oktober 2023 zu. Die Bezeichnung des grausamen Hamas-Massakers als „schlimmster Pogrom nach dem Holocaust“ und der so wichtige Appell des „Nie wieder ist jetzt“ lassen die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart erodieren und die Gegenwart als ein Kontinuum der Vergangenheit erscheinen. Zugleich zeigen die verstörenden Vergleiche der Situation in Gaza mit dem Holocaust, aber auch mit dem nationalsozialistischen Deutschland (etwa mit der Bombardierung deutscher Städte 1945), dass das Neue an der Zeit nach dem 7. Oktober ist, die Ereignisse als Ansatzpunkte für eine Re-Aktualisierung der vermeintlich abgeschlossenen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu nutzen.
„Ist die Zeit aus den Fugen?“
Unter dem Titel „Ist die Zeit aus den Fugen?“[8] veröffentlichte Aleida Assmann 2013 ihre Thesen über die Krise der Moderne. Ihre Diagnose sowie die von vielen anderen Autor*innen lautet, dass die Mechanismen der Abgrenzung zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie die moderne Idee einer offenen Zukunft durch die Postmoderne grundlegend ins Stocken geraten seien. Solche Theorien der Postmoderne bieten einen Erklärungsansatz für die Auflösung der Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart in der Wahrnehmung des russischen Angriffskriegs (aber auch des Überfalls der Hamas auf Israel) als Zeitenwende.
Dennoch lässt sich nicht ignorieren, dass wir auch heute – in der sogenannten Postmoderne –, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als sehr unterschiedlich erfahren. Wir haben diese Erfahrung der Verschiedenheit aber auf die Technologie- und Ökologieebene verschoben, wie Zoltán Boldizsár Simon treffend argumentiert.[9] Anders als in der Moderne sieht er das Zeitgefühl unserer Gesellschaft in der Erwartung eines „Game-Changer“-Ereignisses im Bereich der Biotechnologien oder des Klimawandels. Erst wenn dieser Kipppunkt erreicht sei, werde dies eine radikal neue Zeit einleiten, die die menschliche Erfahrung überschreite: die neue Epoche der KIs, der transhumanen Wesen oder der Unbewohnbarkeit des Planeten. So gesehen stellen die Zeitenwenden 2022 und 2023 einen Bruch zwischen zwei Zeitvorstellungen dar: Auf der einen Seite steht die Erwartung einer Zeit übermenschlichen Daseins oder aber jenseits der Existenz des Menschen und auf der anderen Seite die neue, historisch aufgeladene Wirklichkeit des Kriegs in der Ukraine oder im Nahen Osten, eine nur von Menschen gemachten Zeit.
Darüber hinaus markieren die Zeitenwende-Diskurse der letzten zwei Jahre eine klare Trennung von der jüngeren Vergangenheit, und zwar von den 1990er- und 2000er-Jahren samt der bizarren Annahme, dass die Geschichte mit dem Fall der Berliner Mauer zu einem Ende gekommen sei. Gleichzeitig verknüpfen sie unsere Gegenwart aber mit einzelnen Punkten einer älteren Vergangenheit, die – je nach Diskurs stark variierend – in der Mitte oder am Anfang des 20. Jahrhunderts liegen. Besser als das postmoderne Bild einer entfesselten Gegenwart, die sich Vergangenheit und Zukunft einverleibt, kann daher die Metapher von gespenstischen, unruhigen, traumatischen Vergangenheitssplittern, die die Gegenwart heimsuchen, diese spezifische Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit veranschaulichen.[10] Aus der Mobilisierung dieser Gespenster entstehen changierende Gefühle von Nähe oder Distanz zu bestimmten Abschnitten vergangener Zeit.
Die Zeitenwenden 2022 und 2023 zeugen daher nicht primär von einer verlorenen Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sondern eher vom Verlust der Wahrnehmung der Zeit als linear.[11] In einer nichtlinearen Zeit kann die Vergangenheit nämlich als so fern wie Troja und Karthago wahrgenommen werden und zugleich als identisch mit der Gegenwart. Die Gegenwart ihrerseits wird als neu empfunden, aber ein Aspekt ihrer Neuheit sind gerade ihre Verbindungen mit bestimmten Abschnitten der Vergangenheit. Die Zukunft schwankt zwischen Unberechenbarkeit, Bedrohung und einer ewig Loop-artigen Rückkehr von vergangenen Zukünften der Moderne.[12] Wenn wir in eine neue Zeit eingetreten sind, dann in jene der Nicht-Linearität und Pluralität von Zeiten.
[1] Im März 2022 habe ich auf zeitgeschichte|online bereits einen Beitrag mit ersten Eindrücken zum besonderen Zeitgefühl nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine publiziert.
[2] Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989 (Originalausgabe: 1979), S. 349−375; Peter Osborne, Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London 1995; Aleida Assmann, Transformations of the Modern Time Regime, in: Breaking up Time. Negotiating the Borders between Present, Past and Future, hg. v. Chris Lorenz u. Berber Bevernage, Göttingen 2013, S. 39–56.
[3] Für eine detaillierte Analyse und die Nachweise der Zitate siehe: Clara M. Frysztacka, Zeit-Schriften der Moderne. Zeitkonstruktion und temporale Selbstverortung in der polnischen Presse (1880-1914), Berlin 2019, S. 274−355.
[4] Maximilian Popp, Putins Angriff gilt nicht nur der Ukraine – er gilt Europa, in: DER SPIEGEL, 26.02.2022.
[5] Hier der vollständige Text der Zeitenwende-Rede.
[6] Vgl. Reinhart Koselleck, Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 2: E-G, hg. v. ders., Otto Brunner u. Werner Conze. Stuttgart 1975, S. 351–423.
[7] Einen detaillierten Einblick in diese Mechanismen der Überlagerung der Gegenwart durch die Vergangenheit in der deutschen Berichterstattung bietet mein bereits zitierter Beitrag.
[8] Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013.
[9] Zoltán Boldizsár Simon, The Transformation of Historical Time. Processual and Evental Temporalities, in: Rethinking Historical Time. New Approaches to Presentism, hg. v. Marek Tamm u. Laurent Olivier, London 2019, S. 71–84.
[10] Zur Metapher des Gespenstischen siehe zum Beispiel: Zuzanna Dziuban (Hg.), The „Spectral Turn“. Jewish Ghosts in the Polish Post-Holocaust Imaginaire, Bielefeld 2019.
[11] Dazu siehe: Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016.
[12] Zu dieser Idee jüngst: Ethan Kleinberg, True North, in: History and Theory 63.2 (2024), S. 151–165.