Kongens nei, Norwegens meistgesehener Film des Jahres 2016, ist ein Symptom.
Der Film führt die Zuschauer*innen in das traumatischste Kapitel der jüngeren Nationalgeschichte – den Angriff Norwegens durch die deutsche Wehrmacht im April 1940. Gleichzeitig ist er eine Auseinandersetzung mit dem brutalsten Angriff, den Norwegen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erfahren hat: den Attentaten des rechtsradikalen Fanatikers Anders Behring Breivik, der im Juli 2011 insgesamt 77 Menschen kaltblütig ermordete. Die Taten Breiviks haben das Land in eine Schockstarre versetzt, die bis in die Szenen von Kongens nei nachhallt.
Mit seiner dramatischen Schilderung des deutschen Angriffs auf Norwegen im April 1940 aktualisiert der norwegische Regisseur und ehemalige Pressefotograf Erik Poppe (*1960) nicht nur ein zentrales Narrativ des heroischen Erinnerungsdiskurses. In seinem Bemühen um die Bewältigung der älteren wie der jüngeren traumatischen Erfahrungen ist er zugleich eine glühende Liebeserklärung an das norwegische Königshaus.
72 Stunden im April 1940: Die Handlungsstränge von Kongens nei
Kongens nei beginnt mit Szenen aus dokumentarischem Filmmaterial, mit dem die jüngere Geschichte Norwegens vermittelt wird. Während Textblöcke ausführen, dass der dänische Prinz Carl 1905 (1872-1957) nach dem Austritt aus der Union mit Schweden und der Begründung einer eigenen Monarchie auf demokratischem Wege zum König gewählt wurde und sich auf eine rein repräsentative Rolle als Staatsoberhaupt verpflichtete, rekapitulieren die Bilder die historische Entwicklung bis zum April 1940 und fokussieren dabei auf wegweisende Momente in der Begründung einer Dynastie.
In mehreren Kapiteln begleitet der Film den norwegischen König Haakon II. und seine Familie während der ersten 72 Stunden des deutschen Angriffs und zeigt, wie der König dazu gezwungen wird, sein Schloss zu verlassen, um mit der Regierung nach Hamar zu fliehen, und sich in der Folge der Ereignisse immer weiter ins Landesinnere zurückziehen muss; wie die Familie schweren Herzens beschließt, sich zu trennen, um wenigstens den jüngsten Thronerben Harald in Sicherheit zu bringen und damit den Bestand der königlichen Linie zu gewährleisten. Der König selbst und sein Sohn Olav weigern sich jedoch, das Land zu verlassen.
Ergänzt wird Kongens nei um drei weitere in die Ereignisse dieser 72 dramatischen Stunden eingewobene Erzählstränge. Da ist zunächst die Geschichte des deutschen Botschafters Curt Bräuer (1889-1969), der von dem Angriff selbst nicht informiert war, ihn für falsch hält, und in der Folge versucht, zu einer friedlichen Einigung zwischen der Wehrmacht und dem norwegischen Königshaus zu gelangen.
Bräuer, gespielt von dem österreichischen Schauspieler Karl Markovics, verkörpert den zivilen Deutschen, der um die Einhegung von Gewalt und die Wahrung von Recht und Anstand bemüht ist und dabei als eine zutiefst hilflose Figur gezeigt wird. Welche Folgen es haben kann, einem terroristischen Regime zu dienen, wird am Beispiel dieser Person vermittelt: Der deutsche Gesandte setzt mit seinen naiven Bemühungen um Ausgleich und Verständigung nicht nur sein eigenes, junges Familienglück aufs Spiel, er bringt sich am Ende auch um seine Diplomaten-Karriere. Der zivile Deutsche, so vermittelt es der Film, hatte damals keine Chance gegenüber dem soldatischen Deutschen. Der wiederum wird im Film durchgängig als barbarischer Tölpel vorgestellt, brutal und ohne Sinn für Anstand und Kultur.
Die Ästhetik des Realen
Die Dreharbeiten als Re-enactment
Ein zweiter Erzählstrang führt den Zuschauer auf die im Oslo-Fjord gelegene Festung Oscarsborg. Der dortigen Garnison gelang der erste und einzige Abwehrerfolg der norwegischen Armee, als sie in den frühen Morgenstunden des 9. April den deutschen Kreuzer Blücher versenkte.
Diese Tat bewahrte den König zweifellos davor, in die Hände der Deutschen zu fallen, erklärte Regisseur Erik Poppe gegenüber der norwegischen Aftenposten.[1]
Die Zeitung Aftenposten, die dem faschistischen Kollaborations-Regime in den späten dreißiger/frühen vierziger Jahren durchaus nahe stand, war dabei, als im April 2014 die Dreharbeiten am Originalschauplatz begannen. Aus diesem Anlass wurden nicht nur zum ersten Mal seit jenem denkwürdigen 9. April 1940 die Kanonen der Festung wieder abgefeuert. Der Regisseur hatte zudem veranlasst, dass die Szenen, die die Versenkung der Blücher zeigen, exakt am Jahrestag des damals 74 Jahre zurückliegenden Ereignisses gedreht wurden.
Authentischer könne es gar nicht sein, begeisterte sich der Regisseur und bekräftigte, dass dieses Re-enactment für seinen Film von außerordentlicher Bedeutung sei.[2] Die Action-Szenen des Films sind mit großem Aufwand gedreht worden und stehen denjenigen klassischer amerikanischer Produktionen wie Saving Private Ryan (1998) oder Band of Brothers (2001) in nichts nach. Hier wie da ist die Absicht, im Rekurs auf die Ästhetik der Kriegsberichterstattung Effekte des Authentischen herzustellen. „Ich habe es gesehen!“ lautet die filmische Beglaubigungs- und Verpflichtungsformel, die durch die Simulation von News-Reel-Einstellungen erzeugt wird und den Zuschauer zum Akteur werden lässt.[3]
„Alles für Norwegen“: Jeder kann ein Held sein
Kongens nei zeigt jedoch einen aussichtslosen Kampf, in dem die Norweger den deutschen Aggressoren in jeder Konfrontation hoffnungslos unterlegen sind.
Entfaltet wird dieser dritte Erzählstrang am Beispiel des 17-jährigen Gardisten Frederik Seeberg der eigentlich noch viel zu klein für sein Gewehr und seinen Helm sei, wie Kronprinz Olav an einer Stelle im Film bemerkt. Seeberg hält mit einem zusammengewürfelte Haufen bestehend aus Jägern und Milizionären eine improvisierte Stellung in Midtskogen.
Der „höchst wirkliche“ Seeberg, wie das Dagbladet betonte, wurde im „Kampf um Midtskogen“ schwer verwundet, überlebte jedoch und stand dem Team während der Dreharbeiten beratend zur Seite.[4] „Ich habe mich selbst als 17-jährigen Soldaten wiedergetroffen“, bekannte er am Ende der Produktion.[5]
Zunehmend wächst der junge Gardist, verkörpert von Arthur Hakalahti, im Laufe der Ereignisse über sich selbst hinaus. Zunächst erheitert er die älteren Kameraden, die unsicher und ängstlich den deutschen Angriff erwarten. Schließlich hält er, nach dem Gefecht mit deutschen Fallschirmjägern in Gefangenschaft geraten, diese noch zum Narren. Des Deutschen kundig, hat der junge Seeberg mitbekommen, dass er einer stark angeschlagenen Vorhut in die Hände gefallen ist, woraufhin er dem ihn verhörenden Offizier weismacht, im Gebiet, das von seinen Kameraden gerade geräumt wurde, befänden sich noch zwei weitere schwerbewaffnete Bataillone norwegischer Kämpfer.
„Alles für den König!“ hatte der junge Gardist vor seiner Gefangenschaft gerufen, während der König die von ihm und seinen Kameraden gehaltene Stellung inspizierte. „Alles für Norwegen!“ korrigiert ihn daraufhin der ebenso gerührte wie irritierte Haakon II. mit seinem persönlichen Wahlspruch. Der junge Seeberg, aber auch die zahllosen Flüchtlinge, auf die der König während seines Rückzugs ins Landesinnere immer wieder trifft, bringen Haakon II. in ein Dilemma. Ist es seine Pflicht, den deutschen Aggressoren so lange wie möglich in einem aussichtslosen Kampf zu trotzen oder besteht seine Pflicht vielmehr als Staatsoberhaupt, das Leid seines Volkes zu beenden und sich auf Verhandlungen mit den Nationalsozialisten einzulassen, so wie es Haakons Bruder, König Christian X. von Dänemark, bereits getan hatte?[6]
Die Begegnung Haakons II. mit dem deutschen Botschafter Bräuer in Elverum läutet dann den Schluss und dramatischen Höhepunkt des Films ein. Dass der deutsche Botschafter an der norwegischen Regierung vorbei direkt und ausschließlich mit dem norwegischen König verhandeln will, irritiert diesen sichtbar. Im Gespräch unter vier Augen, in dem eigentlich nur der deutsche Botschafter spricht, während der König weitgehend schweigt und Bräuer buchstäblich die kalte Schulter zeigt, wird schließlich offenkundig, dass das Verhandlungsangebot im Grunde ein Ultimatum ist. Denn nur wenn Haakon II. per Rundfunkansprache den neuen faschistischen Regierungschef Vidkun Quisling anerkennt, wäre die Wehrmacht bereit, die Kampfhandlungen einzustellen. Haakon II entschließt sich zu seinem historischen „Nein“.
Eine „Nation im Widerstand“
Der nationalheroische Erinnerungsdiskurs Norwegens und seine Aktualisierung
Tatsächlich stellt Haakons II. Reaktion im Anschluss an das Treffen mit Bräuer einen Bruch mit seiner Funktion als rein repräsentatives Staatsoberhaupt dar. In einer daraufhin einberufenen Sitzung mit dem Staatsrat brachte er erstmalig seine eigene Meinung zum Ausdruck, bevor er die der Regierung hörte. Sein Standpunkt war zudem mit einem Ultimatum verknüpft: Sollte sich die legale Regierung entscheiden, aufgrund der schwierigen Situation vor den Deutschen zu kapitulieren und auf deren Forderungen einzugehen, würde er dies zwar verstehen, für sich und sein Haus aber keine andere Wahl sehen als abzudanken.
Im Film stellt ein Textblock klar, dass es sich hier um „eine einmalige Einmischung des Königshauses in die moderne norwegische Politik“ handelte.
So ist Kongens nei einerseits ein flammendes Plädoyer für Unabhängigkeit, für Humanismus und Demokratie. Gleichzeitig zeigt es jedoch die sozialdemokratischen Politiker Norwegens als zaudernde und schwache Volksvertreter, die einen starken Anführer brauchen, um den rechten Weg zu finden.
„Das Staatsoberhaupt schützt das Recht“, könnte man in Anlehnung an Carl Schmitts berüchtigtes Diktum, mit dem er Hitlers Position während des sogenannten Röhm-Putsches im Juni 1934 verteidigte, kommentieren.[7] Schließlich führt das königliche Nein den Zuschauer mitten in die juristischen und philosophischen Untiefen der Ausnahme. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt“, hatte der „Kronjurist des Dritten Reiches“ Carl Schmitt bereits 1922 definiert[8], und auch wenn Haakons II. Entscheidung im Film als „Zeichen im Kampf für ein freies, demokratisches und unabhängiges Norwegen“ gepriesen wird, wirft sie doch die Frage auf, was demokratische Souveränität wert ist, wenn sie in letzter Instanz der autoritären Intervention bedarf.
Der Regisseur löst diesen Widerspruch, nicht zuletzt dank einer beeindruckenden Darbietung seines Hauptdarstellers Jesper Christensen, charismatisch auf. Dass ein dänischer Schauspieler den norwegischen König verkörpern sollte, stieß im Vorfeld durchaus auf Vorbehalte, war aber offenkundig eine Bedingung des Regisseurs. Schließlich war Haakon II. selbst gebürtiger Däne und sollte seinen für norwegische Ohren eigentümlichen Dialekt Zeit seines Lebens nicht ablegen.[9] Christensen „vermenschliche eine autoritäre Gestalt“ und gebe den „verletzlichen“ und „äußerst humanen“ König so eindringlich, dass man sich einen besseren König kaum vorstellen könne, lobten die staatlichen Medien einhellig zur Filmpremiere und die liberalkonservative Zeitung Minerva titelte gar euphorisch: „Es lebe der König!“[10]
Der auf dem gleichnamigen Buch von Alf R. Jacobsen (*1950) basierende Film wurde von Zuschauern und Kritikern in Norwegen gleichermaßen begeistert aufgenommen. Er lockte mehr als eine Million Besucher in die Kinos und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter acht Auszeichnungen des nationalen Filmpreises Amanda. Kongens nei wurde zudem als norwegischer Kandidat für den besten ausländischen Film der Oscar-Verleihung von 2017 nominiert, schaffte es dort allerdings nur in den erweiterten Kandidatenkreis.
Seine offizielle Premiere feierte Kongens nei am 23. September 2016. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr in diesem Zusammenhang die Freilichtaufführung auf der im Oslo-Fjord gelegenen Festung Oscarsborg.[11]
Die denkwürdige Aufführung am historischen Erinnerungsort – „nur wenige Meter neben den Kanonen, umgeben von historischen Gebäuden, Erinnerungstafeln und authentischen Kulissen“, wie das Kinomagasinet pries [12] – wurde jedoch durch ein anderes Ereignis in den Schatten gestellt. Rechtzeitig zum 25-jährigen Thronjubiläum von König Harald V. erschienen, hatte das Königshaus beschlossen, Kongens nei als Abschluss der Feierlichkeiten zum Thronjubiläum zu zeigen und gemeinsam mit der Bevölkerung anzuschauen. Die (kostenlose) nationale Vorab-Premiere wurde auf den 21. September gelegt, jenen Tag, an dem König Haakon II. 59 Jahre zuvor verstorben war.
Insgesamt 10.000 NorwegerInnen waren der Einladung des Königshauses gefolgt und hatten sich am Abend des 21. September im Schlosspark zusammengefunden, trotz anhaltenden Regens. „Das ist eine historische Begebenheit“, „ein Festtag“ und „wir feiern die Freiheit“, zitierte Aftenposten Stimmen aus der Bevölkerung.[13] Die Königsfamilie wohnte der Aufführung im Kreis verdienter Kriegsveteranen bei, und Kronprinz Haakon (*1973) eröffnete die Veranstaltung mit einer Rede: „Man vergisst leicht, dass auch wir über eine dramatische Geschichte verfügen, die wichtig ist erinnert zu werden und von der künftige Generationen lernen sollen,“ [14] betonte er und führte weiter aus: „Der Film handelt nicht nur von einem dramatischen Kapitel in der Geschichte unseres Landes, sondern auch davon, was es heißt, eine schwere Wahl treffen zu müssen. Und ich glaube, darin können wir uns alle wiedererkennen.“ [15]
Kongens nei beschwört, revitalisiert gar – wenn man der norwegischen Tagespresse folgen mag – jenen nationalen Mythos, der, bis in die 1980er Jahre hinein, politische Identität und gesellschaftliche Stabilität gewährleistete. Das Narrativ einer „Nation im Widerstand“ fokussierte auf den militärischen Widerstand, schloss aber durch die auf das Beispiel König Haakons II. gründende Parole des sogenannten holdningskamp („Haltungskampf“) auch die Zivilbevölkerung mit ein.[16] Der Mythos einer ideologisch widerständigen Bevölkerung, die der nationalsozialistischen Okkupation durch das Insistieren auf demokratische und humanistische Werte getrotzt habe, unterschlägt jedoch, dass die Grenzen zwischen notwendigen Arrangements mit den Deutschen und offener Kollaboration im Alltag während der Besatzungszeit zwischen 1940 und 1945 oft verschwammen.[17]
Dieser Mythos rechtfertigte zudem die Ausgrenzung und Diskriminierung verschiedener Bevölkerungsgruppen nach 1945, zunächst all jenen Angehörigen der im Mai 1933 gegründeten Nasjonal Sammling, die unter ihrem Führer Vidkun Quisling (1887-1945) offen mit den Nationalsozialisten kollaborierte.[18] Keinen Platz fanden in diesem Narrativ aber auch die Frauen, die in der Besatzungszeit Liebesbeziehungen mit deutschen Soldaten eingingen, und die sogenannten krigsbarn, Kinder, die aus diesen Beziehungen hervorgegangen waren.[19] Ausgeschlossen aus dem nationalen Gedächtnis blieben auch alle NorwegerInnen jüdischen Glaubens sowie Angehörige der Sinti und Roma, wodurch der Mythos einer „Nation im Widerstand“ die illiberale Tradition nationaler demokratischer Kultur fortschrieb, die eine stark ethnisch gefärbte norwegische Identität postulierte und Minderheiten konsequent ausgrenzte.[20]
Und: Nicht zuletzt besitzt Norwegen seit den 1970er Jahren mit der Fremskrittspartiet („Fortschrittspartei“) eine etablierte rechtspopulistische Partei, die nach der Parlamentswahl 2013 eine Koalitionsregierung mit den Konservativen einging und in der auch Breivik Mitglied war, bevor er sich zu radikalisieren begann.[21]
Erst im Jahr 2001 wurde das Zentrum für Holocaust- und Minderheitsstudien in Oslo, im Norwegischen kurz HL-senteret genannt, gegründet, nachdem sich die nationale Erinnerungskultur im Jahrzehnt zuvor stärker universalistischen Narrativen des Widerstandes gegenüber zu öffnen begonnen hatte.[22]
Kongens nei ist ein Symptom insofern, als dass der Film im zeitgenössischen Norwegen keineswegs der einzige ist, der das Thema des norwegischen Widerstandes aufgreift, um es dabei heroisch zu verklären.
Bereits 2008 lockte Max Manus, ein actiongeladenes Epos über die Heldentaten des gleichnamigen norwegischen Widerstandskämpfers, das auf dessen autobiographischen Aufzeichnungen basiert, mehr als eine Million Zuschauer in die Kinos und avancierte zum bis dahin erfolgreichsten norwegischen Film.[23] Zu nennen sind in diesem Zusammenhang weiterhin die Mini-Serie Kampen om tungtvannet über die Sabotage-Aktivitäten norwegischer Widerstandskämpfer gegen die im Auftrag des NS-Regimes Schweres Wasser produzierende Norsk Hydro in Rjukan, die 2015 im norwegischen Fernsehen 2015 ebenfalls Rekordquoten verbuchen konnte[24] und im Januar 2018 auch in der ARD unter dem Titel „Saboteure im Eis“ ausgestrahlt wurde[25] sowie der im Dezember 2017 in Norwegen angelaufene Kinofilm Den 12. mann („Der zwölfte Mann“).[26]
Von Elverum nach Utøya
Der Mythos vom Holdningskamp und die terroristische Bedrohung
Was Kongens nei jedoch von diesen Produktionen unterscheidet, ist, dass sich der Film einem älteren nationalen Trauma annimmt und daran den Mythos des holdningskamp entfaltet, um diesen als Antwort auf die Herausforderung des jüngsten nationalen Traumas zu aktualisieren. Das wird insbesondere in der letzten Szene des Films deutlich, in der Haakon II., der nach Jahren im britischen Exil am 7. Juni 1945 – also genau an jenem Tag, an dem das norwegische Parlament 40 Jahre zuvor die Loslösung von Schweden proklamiert hatte und genau fünf Jahre nach seiner Flucht vor den nationalsozialistischen Aggressoren – nach Norwegen zurückgekehrt war, auf seinen Enkel Harald trifft, der die Kriegsjahre zunächst in Schweden und später dann in den Vereinigten Staaten verbracht hatte. Schon in der ersten Szene des Films wird eine besondere Beziehung zwischen dem König und dessen Enkel, dem ersten in Norwegen geborenen König seit Olav IV. (1370), angedeutet. Haakons II. Wahlspruch – „Alles für Norwegen“ – sollte auch zu Haralds Wahlspruch werden. Die Wiedergeburt der norwegischen Demokratie wird hier zugleich als die Auferstehung der Dynastie inszeniert. Während der inzwischen 8-jährige Harald unsicher und zunächst ein wenig distanziert wirkt, immerhin war er gerade drei Jahre alt gewesen, als er seinen Großvater zum letzten Mal gesehen hatte, strahlt Haakon II. über das ganze Gesicht. Wirklich froh und erleichtert sieht man den König erstmals in dem Moment, in dem er den künftigen Thronerben und gegenwärtigen König (wieder)trifft.
Poppes Film und insbesondere dessen feierliche Vorab-Premiere im Rahmen des 25-jährigen Thronjubiläums sind Symptome eines nationalen Selbstverständnisses, das sich infolge der Breivik-Attentate vom Juli 2011 tief getroffen zeigt. In einer der vorletzten Szenen des Films gerät der König in einen Fliegerangriff, den die Wehrmacht als Reaktion auf sein „Nein“ angeordnet hat.
Zusammen mit einer Gruppe Zivilisten flieht er in einen nahegelegenen Wald, und wenn man davon absieht, dass in diesem Wald bei Elverum Schnee liegt, braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, die auf der Leinwand gezeigten Szenen haben sich so auch im Juli 2011 auf Utøya zugetragen: Da kauern Männer und Frauen, Alte und Junge, hinter Bäumen und in Erdspalten, während Salven aus automatischen Waffen um sie herum einschlagen, hin und wieder ist auch eine Explosion zu hören.[27] Der König schützt in dieser Szene mit seinem Leib einen Jungen bis dieser, von einer MG-Salve knapp verfehlt, in die Arme seiner Mutter zurückläuft, die in einiger Entfernung Deckung gesucht hat. Nachdem der Junge wohlbehalten in die Arme seiner Mutter sinkt, bricht Haakon II. zusammen.
Einen Einzelnen kann der König schützen, sein ganzes Volk jedoch nicht; das muss das Volk schon selber tun, scheint hier die Botschaft Poppes zu sein. Damit nimmt der Regisseur auf, was der damalige norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg (*1959) im Rahmen des Trauergottesdienstes für die Opfer der Anschläge vom Juli 2011 postulierte: „Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.“ [28]
„Nimm nur die Welle des Terrorismus, die gerade über uns hereinbricht“, zitierte die Zeitung Østlendingen den ,echten‘ Frederik Seeberg in einem Interview zur Filmpremiere von Kongens nei. „Das ist so feige! Welcher Mensch ist dazu fähig, bewusst die Zivilbevölkerung anzugreifen und dabei Frauen und Kinder zu töten?“ bekundete Seeberg in diesem Interview seine Abscheu gegenüber dem zeitgenössischen Terrorismus und verlangte zum Start des Films: „Wir müssen aus der Vergangenheit lernen.“[29]
Da scheint es nur folgerichtig, dass das nächste Projekt des Regisseurs ein Film über die dramatischen Ereignisse auf Utøya ist: Während Kongens nei seine Deutschland-Premiere im Rahmen der Berlinale 2017 feierte, nicht jedoch am Wettbewerb teilnahm, startet Utøya 22. Juli als offizieller Beitrag der Berlinale 2018.[30] Man darf gespannt sein, wie der Regisseur sein zeithistorisches Panorama nationaler norwegischer Befindlichkeit weiterführt, das er mit Kongens nei begonnen hat.
Utøya 22. Juli auf der Berlinale 2018
The Kings Choice (Official Trailer/Youtube): Der Film ist inzwischen als DVD und Blue ray im Handel.
[1] „Her er mannen som reddet kongen fra nazistene“, in: Aftenposten 08.04.2014, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[2] „Her er mannen som reddet kongen fra nazistene“, in: Aftenposten 08.04.2014, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[3] Manuel Köppen, Das Wissen des Films. Gewaltinszenierungen in Kriegsfilmen („Saving Private Ryan“, „Black Hawk Down“, „Inglorious Basterds“), in: Sören R. Fauth/Kasper Green Krejberg/Jan Süselbeck (Hg.), Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstragien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Göttingen, 2012, S.58-72, hier: S.60f.
[4] „Frau ‚Skam‘ til ‚Kongens Nei‘“, in: Dagbladet vom 16.09.2016, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018]; zu dem Gefecht aus norwegischer Sicht vgl. Andreas Hauge, Kampen på Midtskogen, Oslo 1995.
[5] „Kongens Nei“, in: VG (undat.), vgl. dazu auch „Lungene hang utenpå kroppen“, in: Østlendingen vom 19.09.2016, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[6] Einen Überblick über die Ereignisse und Entwicklungen zwischen 1940 und 1945 in Dänemark gibt Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012, S.79-82.
[7] „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft“, hatte Schmitt in der Deutschen Juristen-Zeitung, Heft 15 vom 01.08.1934, Spalte 945-950, hier: Spalte 946, geschrieben; zu Schmitt vgl. Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995.
[8] Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 3. Aufl., Berlin 1979 (erstmalig: 1922), S.11; vgl. dazu Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart/Weimar 2004.
[9] „‘Kongens nei‘ fikk endelig kongens ja“, in: VG vom 20.01.2015, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[10] Vgl. „En medrivende Historietime“, in: Dagsavisen vom 14.09.2016, ; „‘Kongens nei‘ er en historie om en sårbar konge“, in: Aftenposten vom 14.09.2016, „Kongens nei. En god historieleksjon som aldri føles som en“, in: NRK P3 vom 14.09.2016, ; „Leve kongen!“, in: Minerva vom 17.09.2016, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[11] „Premierevisning av Kongens Nei på Oscarsborg festning“, in: Kinomagasinet vom 24.08.2016, „Helt utsolgt til Oscarsborg-premieren på Kongens Nei“, in: Akershus Amtstidene vom 21.09.2016, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[12] „Premierevisning av Kongens Nei på Oscarsborg festning“, in: Kinomagasinet vom 24.08.2016, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[13] „10.000 så ‚Kongens nei‘ i Slottsparken“, in: Aftenposten vom 21.09.2016, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[14] „10.000 så ‚Kongens nei‘ i Slottsparken“, in: Aftenposten vom 21.09.2016, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[15] „Kronprins Haakon til folkehavet i parken: Dette har vi gledet oss til!”, in: VG vom 21.09.2016, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[16] Einen Überblick gibt Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, S.371-79 sowie S.232-243.
[17] Zur Besatzungszeit vgl. Robert Bohn, Reichskommisariat Norwegen. „Nationalsozialistische Neuordnung“ und Kriegswirtschaft, München 2000 sowie zum zivilen holdningskamp Arne Hassing, Church Resistance to Nazism in Norway 1940-1945, Seattle 2014.
[18] Vgl. dazu beispielhaft etwa Oddvar Høldal, Quisling: En studie i landssvik, Oslo 1988 sowie Synne Corell, The Solidity of a National Narrative. The German Occupation in Norwegian Historical Culture, in: Henrik Stenius/Mirja Österberg/Johan Östling (Hg.), Nordic Narratives of the Second World War. National Historiographies Revisited, Lund 2011, S.101-125.
[19] Susanne März, Die langen Schatten der Besatzungsmacht. „Vergangenheitsbewältigung“ in Norwegen als Identitätsdiskurs, Berlin 2008.
[20] Odd-Bj ørn Fure, Developmental Societal Processes. Changing Configurations of Memories. The Case of Norway in a Comparative Perspective, in: ders./Arnd Bauerkämper/øystein Hetland/Robert Zimmermann (Hg.), From Patriotic Memory to a Universalistic Narrative? Shifts in Norwegian Memory Culture After 1945 in Comparative Perspective, Essen 2014, S.43-62.
[21] Vgl. dazu Tor Bjørklund: Die radikale Rechte in Norwegen: Die Entwicklung der Fortschrittspartei, in: Nora Langenbacher/Britta Schellenberg (Hg.), Europa auf dem „rechten“ Weg? Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Europa, Berlin 2011, S.299-321.
[22] Vgl. dazu Arnd Bauerkämper, Beyond Resistance versus Collaboration. The Twisted Road to a Universalistic Memory of the Second World War in Norway, in: ders./Odd-Bjørn Fure/øystein Hetland/Robert Zimmermann (Hg.), Shifts in Norwegian Memory Culture After 1945 S.63-84.
[23] “Historiendrama ‚Max Manus‘: Bloß groß”, in: Spiegel-Online vom 11.02.2010, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[24] Vgl. „Ny rekord for ‚Kampen om tungtvannet‘“, in: Dagbladet vom 19.02.2015, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[25] „Kriegsserie ‚Sabouteure im Eis‘: Als die Nazis die Bombe bauen wollten“, in: Spiegel-online vom 02.01.2018, vgl. auch „Eine Bombe in Größe dieser Ananas dort“, in: FAZ vom 02.01.2018, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[26] „Den 12. mann: En nyansering av Baalsrud-legenden“, in: Aftenposten vom 13.12.2017,„Filmanmeldelse ‚Den 12. mann‘: Kald krig“, in: VG vom 13.12.2017, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[27] Zu den Anschlägen vom Juli 2011 vgl. Aage Storm Borchgrevink, En norsk tragedie – Anders Behring Breivik og veiene til Utøya, Oslo 2012; Rainer Just/Gabriel Ramin Schor (Hg.), Vorboten der Barbarei. Zum Massaker von Utøya, Hamburg 2011.
[28] „Norwegens Art, die Freiheit zu verteidigen“, in: Zeit Online vom 25.07.2011, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[29] „Lungene hang utenpå kroppen“, in: Østlendingen vom 19.09.2016, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].
[30] „Han har vist Utøya respekt“, in: Dagsavisen vom 08.02.2018, [zuletzt abgerufen am 19.02.2018].