von Christoph Classen

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18. Juli 2022

And I ran, I ran so far away
I just ran, I ran all night and day
I couldn't get away

(A Flock of Seagulls, 1982)

 

Anfang Juni 2022 hat der Journalist Alexander Osang im Berliner Ensemble ein viel beachtetes Gespräch mit Angela Merkel geführt. Anlass war eigentlich die Vorstellung einer Anthologie von Reden der Ex-Kanzlerin im Aufbau-Verlag,[1] aber angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine geriet die erste öffentliche Äußerung der langjährigen Regierungschefin und CDU-Vorsitzenden nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt über weite Strecken zu einer Rechtfertigung ihrer Außenpolitik gegenüber der Ukraine und Russland.[2] Erst ganz am Ende kam das Gespräch kurz auf ihre Rede zum Tag der Einheit am 3. Oktober 2021 in Halle. Die Rede habe ihm, so Osang, „das Herz gebrochen“, weil sich hier die Ostdeutsche plötzlich gezeigt hat, nach all den Jahren“.[3]

In der Tat hat Merkel in dieser Rede, die zugleich eine ihrer letzten als Kanzlerin war, die bis heute andauernde Abwertung ostdeutscher Biographien ungewohnt offen und aus eigenem Erleben angesprochen. Bisweilen geschehe das beiläufig, nicht einmal bewusst, etwa, wenn in einer Publikation vom „Ballast ihrer DDR-Biographie“ die Rede sei, oder sie als lediglich „angelernte“, nicht „geborene“ Bundesbürgerin und Europäerin wahrgenommen werde – ganz so, als gebe es zwei Klassen von Bürgern.[4] Diese Beobachtung deckt sich mit dem, was Osang bereits 2019 in einem Essay mit dem Titel „„Die Erziehung des Ostens“ für ein SPIEGEL-Sonderheft zum 30. Jahrestag des Mauerfalls geschrieben hat. Dort geht es um die immer selben Belehrungen, um Klischees und Erwartungen, die sich westliche Gesprächspartner von ihm, der in der DDR aufgewachsen ist, in einer Art Dauerschleife bestätigen lassen möchten. Egal, was er sagt, die Stereotype scheinen wie in Stein gemeißelt. Er fühle sich „wie in einem 30 Jahre währenden Resozialisierungsprogramm“. Der Osten, so Osang, solle offenbar „aus der Gesellschaft rauswachsen wie eine Dauerwelle.“[5]

Bereits 2021 ist Osangs neuester Roman erschienen, FAST HELL. Auch hier geht es um die Herkunft aus dem Osten, zugleich um den Aufbruch in die Welt, die jungen Ostdeutschen wie ihm nach dem Ende des Kalten Krieges plötzlich offenstand. Die Erzählung dreht sich um die Biographie des schwulen, polyglotten Uwe aus Mahlsdorf, der nach zahllosen Stationen und Jobs in China, Russland und sonstwo als Dozent an der New York University arbeitet. Uwes Geschichte wird dabei mit Osangs eigener Biographie verflochten. Er sei, „nach dem Mauerfall […] wie eine Feuerwerksrakete in die Welt geschossen. Die ganze Enge entlud sich in einer Art Urknall. Ich glaube, ich hatte das Gefühl, viel nachholen zu müssen.“ (S. 64) Ist Uwe also ein Alter Ego Osangs? Jedenfalls erscheinen Heimat- und Rastlosigkeit bei beiden als Folge der ostdeutschen Herkunft. Einholen und Überholen.

Der Autor reist mit seinem Protagonisten im Juni 2019 nach St. Petersburg. Natürlich ist auch diese Reise über die Ostsee mit der alten Fähre „Princess Anastasia“ ein Symbol für das Leben zwischen Ost und West, für das permanente Unterwegssein, und für die Zeitreise, die das Eintauchen in Biographien immer bedeutet. Das Buch ist ein „Wenderoman“, eine Reflexion über die Bedeutung des Bruchs von 1989/90 für das eigene und für das Leben zahlreicher anderer Menschen im Umfeld des Autors und seines Protagonisten. Es geht um Identität, um die Bedeutung, die Herkunft selbst und gerade dann behält, wenn man ihr mit aller Macht zu entkommen sucht. Und es zeigt, wie wenig diese Leben in ihrer Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit in die schlichten Klischees und Kategorien passen, die allzu oft aufgerufen werden, wenn es um die DDR-Vergangenheit und die Transformationszeit geht.

Denn FAST HELL ist auch ein Tatsachenroman. Die Reise nach St. Petersburg hat es ebenso gegeben wie die handelnden Personen real sind. Im Laufe der Geschichte erfahren wir, dass Osang Uwes abenteuerliche Biographie 2019 zunächst für das SPIEGEL-Sonderheft „Ziemlich beste Deutsche“ aufgeschrieben hat – nicht zuletzt wollte er damit die Erwartungen unterlaufen, die auf westdeutscher Seite im Spiel sind, wenn es um „den Ostdeutschen“ geht: „Ein nicht zu fassendes Leben, ein Leben jenseits der Akten und Erwartungen, der Denunzianten und der Verwalter ostdeutscher Geschichte“. (S. 233). Doch die Redaktion lehnte den Text ab. Zu unwahrscheinlich erschienen Uwes Geschichten. Zu sehr ist er darin inmitten großer Ereignisse, eine Art Forrest Gump, der anonym durch die hot spots der Weltgeschichte driftet. Die Relotius-Affäre liegt noch nicht lange zurück, und dementsprechend ablehnend reagiert man in Hamburg auf alles, für das die akribische Dokumentarabteilung des SPIEGEL keine Belege findet.

Doch wie weit kann man biographische Erzählungen überhaupt verifizieren? Er habe Erleichterung empfunden, als der Redakteur ihm die Ablehnung mitgeteilt habe, sagt Osang. Je länger die Reise dauert, desto unsicherer wirkt der Chronist auf der Suche nach historischer Wahrheit. Ist es das schwankende Schiff? Sind es die mit harten Drinks durchwachten nordischen Sommernächte, in deren permanentem Dämmerlicht sich die zeitliche Orientierung auflöst? Oder eine rätselhafte Krankheit, die den Autor zu befallen scheint? Uwe bleibt eine schillernde Figur, manchmal wirkt er wie ein Chamäleon, manchmal fühlt sich Osang wie der Hase im Märchen vom Igel und Hasen. Warum findet sich seine Stasi-Akte nicht, obwohl es eine geben müsste? Was ist real, was fiktiv? Aber auch seine eigene Biographie kommt Osang bisweilen absurd, widersprüchlich und unwahrscheinlich vor. In seinen Kolumnen habe er aus sich selbst die Kunstfigur eines heimatlose[n] Weltreisenden“ gemacht, „der über seine Möglichkeiten staunt.“ (S.177). Im Rückblick ist er sich seiner Erinnerungen oft nicht mehr sicher. So ist aus der geplanten Reportage mit ihren journalistischen Wahrheitsansprüchen am Ende ein Roman geworden: „Eine Erzählung dann eben, dachte ich, eine absurde, aber wahre Novelle.“ (S. 237)

Osangs Buch ist mehr als eine Erzählung über ostdeutsche Biographien, die nicht in die Schubladen der DDR-Aufarbeiter*innen passen. Vielmehr geht es dem Reporter auch um eine tiefergehende Frage: Sind Biographien in ihrer diachronen Dynamik, in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit überhaupt greif- und darstellbar? Und wenn ja, wie? Mit den Tatsachen- und Wahrheitsansprüchen von Journalismus und Historiographie scheinen sie jedenfalls schwerlich vereinbar; oder wenn, dann nur um den Preis, dass sie ihren eigentlichen Kern, ihre Dynamik verlieren. Erinnerungen entziehen sich tendenziell Kriterien wie Überprüfbarkeit und kategorialer Einordnung und haben wahrscheinlich immer eine fiktionale Komponente. Autobiographien sind stets auch Wunschbiographien. „Alles ist genauso geschehen, soweit ich mich erinnere…“, heißt es zu Anfang des Buchs, quasi als salvatorische Klausel, und „es gab kein Zurück mehr, es gab nur unsere Erinnerungen“ ganz am Ende.

Wovon man nicht berichten kann, darüber muss man erzählen, so könnte man frei nach Wittgenstein und Umberto Eco formulieren. Wer Geschichte nicht rückblickend in Beton gießen will, sondern tatsächlich eine Ahnung vom Leben in der Vergangenheit in seiner Breite und prospektiven Offenheit, von den sich wandelnden Vorstellungen, Träumen und Perspektiven haben möchte, von den Zufällen, die die Zeitläufte mit sich bringen, der wird sich auf unzuverlässige Erzähler einlassen müssen. „Niemand kann schnell genug schreiben, um eine wirklich wahre Geschichte zu erzählen“ lautet das dem Buch vorangestellte, bei Rian Malan entlehnte Motto (S. 6). Es gibt keinen authentischen Zugang zur Vergangenheit, nicht einmal zur eigenen. Gelebte Vergangenheit kann, wie die „weißen Nächte“ in St. Petersburg, immer nur „fast hell“ werden – oder, wie es Thomas Nipperdey formuliert hat: „Das wirkliche Leben ist immer naturtrüb“.[6]

 

[1] Angela Merkel: Was also ist mein Land? Drei Reden. Berlin 2022.
[2] Vgl. den Mitschnitt der Live-Übertragung (22.06.2022).
[3] Ebd. 1‘34‘‘.
[4] Vgl. Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Festakts zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2021 in Halle/Saale (22.06.2022).
[5] Alexander Osang: Die Erziehung des Ostens, in: 30 Jahre Mauerfall. Ziemlich beste Deutsche - Warum es uns so schwerfällt, ein Volk zu werden. Hamburg, Oktober/November 2019, S. 18-23, Zitat S. 22.
[6] Vgl. Tagungsbericht: Naturtrüb: Die 60er Jahre zwischen Planung und Protest, 24.02.2000 – 26.02.2000 Münster, in: H-Soz-Kult, 06.07.2000, (22.06.2022).