von Simona Slanicka, Katrin Stoll

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2. März 2021

Am 5. Dezember 2020 lief auf 3sat ein halbstündiger Dokumentarfilm von Andrzej Klamt unter dem Titel „Kniefall von Warschau – Die Macht der Erinnerung”. Im bunten Strauß der Jahrestage wurde dieser 50ste herausgepflückt, und weil der Kontext von 1970 ein ganz anderer war, beleuchtet der Film unfreiwillig, in welche Schieflagen uns die angejahrte Erinnerungskultur gebracht hat. Der Film löste bei den Autorinnen dieses Textes Befremden aus, weil er ständig Bruchstellen im deutschen und polnischen Umgang mit der gemeinsamen schwierigen Geschichte anspricht.

Das beginnt mit der Sequenz zu Willy Brandts Kniefall am Anfang des Films, dessen Plot im Wesentlichen darin besteht, verschiedene Gedenkvarianten zu präsentieren, zu denen Erinnerungsarbeiter*innen hier und dort Zuflucht nehmen, um Unvorstellbares auszudrücken. Die Dokumentation kontextualisiert kaum, weshalb der Kniefall des Bundeskanzlers mitten im Kalten Krieg, also erst 25 Jahre nach Kriegsende, im Herzen der polnischen Hauptstadt, um sich für das von Deutschen verursachte Leid zu entschuldigen, so atemberaubend war. Alles an Brandts Kniefall verdiente untersucht zu werden, denn seine Handlung war im Gegensatz zu den nachfolgenden, ausgehöhlten Ritualen sinnerfüllt. Die Reaktion der polnischen Gastgeber*innen, die Reaktion der Welt, und die Wut danach in Deutschland – all das hätte untersucht werden müssen.

Der Kniefall war emotional performativ, nämlich:
1. ungeplant und spontan 2. ohne Worte, und vor allem keine salbungsvollen, die sonst nur deutsches Selbstmitleid ausdrücken 3. in Polen, das heißt er fand 4. am richtigen Ort statt 5. keine Versöhnung, sondern Respekt vor den Toten und der Unglaublichkeit des Geschehens, und diesmal wurden Täter und Opfer richtig dargestellt (völlig unüblich für deutsche Politiker*innen), 6. richtig auch in der Einseitigkeit: der deutsche Kanzler muss knien, die anderen müssen nichts, sie sind ja einfach nicht mehr da, in Rauch aufgelöst, unter Trümmern begraben. Der Kniefall zeigt die Leerstelle des Gegenübers an und zollt ihr Respekt.
7. vor dem Denkmal, das hier durch den Kniefall belebt wird, eben als Grabmal, das tote Menschen repräsentiert. Brandt sagte hinterher, er habe um Verzeihung gebeten, aber eben auch gebetet – schön ausgedrückt! Womöglich hat Brandt selbst gar nicht realisiert, was er da tat, wie er es hinterher interpretiert hat, ist eine andere Geschichte. 8. er drückt Trauer aus und bittet um Entschuldigung, die ja sonst meist fehlt!

Der Kniefall war ein Akt der Demut und damit ein wohltuender Bruch mit dem Herrenmenschengehabe, mit dem sich Deutsche in Warschau ins Menschheitsgedächtnis eingeschrieben haben. Problematisch also, wenn der Untertitel der Dokumentation im gleichen Satz nach der Macht der Erinnerung fragt. Wessen Macht?
Tatsächlich wird im Film alles unter der Assmann’sche Erinnerungskultur subsumiert, die polnischen Gedächtnisaktionen ebenso wie der Kniefall, den Assmann flugs als Beginn der Erinnerungskultur in Deutschland vereinnahmt. Brandt habe damit leider unabsichtlich die nichtjüdischen polnischen zivilen Opfer ausgeblendet. Da knirscht es schon wieder: Das Verhältnis der angemessenen Erinnerung an die nichtjüdischen und die jüdischen polnischen Opfer ist eine der vielen offenen Fragen. Die heftig umkämpfte Opferkonkurrenz zeigt, dass Aufarbeitung der Vergangenheit via „Opfergruppen” nicht funktioniert, denn es geht um etwas anderes. Es geht um den ökonomistischen Umgang mit symbolischem Kapital, um gebetsmühlenhaft erkaufte Ablässe, die den Glauben an Erlösungsrituale und an ein paradiesisches Jenseits deutscher Geschichte untergraben.

Statt auf ausgetretenen Pfaden balanciert der Film, durchaus in Pionierleistung, also auf zahlreichen Eisschollen des deutsch-polnischen Geschichtsverhältnisses. Das ist für uns als Autorinnen der Anlass, einige Re-Sets für künftige Debatten vorzuschlagen. Zugleich nutzen wir den Moment, unsere lang angestaute Wut über die Selbstzufriedenheit loszuwerden, mit der abenteuerliche Asymmetrien in der historischen Deutungsmacht über die überfallenen Länder und die Abgestumpftheit darüber hingenommen werden.

  

Erinnerungskultur? Nein Danke!

Im Film kommen mit Aleida Assmann, Götz Aly und Völker Schlöndorff profilierte Vertreter*innen einer Generation zu Wort, deren Engagement im Vergleich zur schweigenden Mehrheit beeindruckend war. Sie fühlen sich angesichts der unübersehbaren Wunden des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa, die, wie Aly anmerkt, nun nach dem Kalten Krieg auftauen, überfordert, obwohl sie sich ihr Leben lang am Nationalsozialismus abgearbeitet haben. Mit ihrer Ehrlichkeit entblößen sie die Selbstzufriedenheit ihrer Altersgenossen, die alles aufgearbeitet glauben. Dennoch geht es nicht an, wenn Assmann den Generationenwechsel mit der Black Lives Matter-Bewegung vergleicht, als handle es sich um eine etwas modische Jugendbewegung, die sich fünfzig Jahre nach 1968 erneut über schreckliche Zustände empört, von der die tapferen Täterkinder schon das Gröbste beiseite geschafft hätten. Es ist verkehrt, wenn Assmann den Kniefall mit dem massenhaften Knien der BLM-Demonstrant*innen im Gedenken an George Floyd vergleicht und Schlöndorff mit dem Kniefall von Canossa – wo immerhin ein deutscher Kaiser vor dem Papst zu Kreuze kriecht, als handle es sich um eine Motivstudie in historischer Anthropologie.

Tatsächlich ist der Film ein unfreiwilliges Zeitdokument. Anstatt die altgediente Nachkriegsgeneration auf ihren Lorbeeren ausruhen zu lassen, muss diese mit erstarrtem Grinsen die Geburtsstunde noch viel unabsehbarerer Debatten ankündigen, wenn alle nichtjüdischen zivilen Opfer Polens, Weißrusslands, Russlands, Tschechiens, der Slowakei, Jugoslawiens usw. von ihren einschneidenden Lebenserfahrungen mit den deutschen Besatzern berichten – also alles Menschen, die man irgendwie bis jetzt nicht in den bisherigen Opfergruppenkanon aufgenommen hatte, obwohl sie das Gros der KZ-Gefangenen und der Zwangsarbeiter*innen ausmachten und die jene unverständlichen Sprachen sprachen, die es bisher kaum in die deutsche Geschichtsforschung geschafft haben.

Alles nur, um die immer lauter werdende Frage zu überhören, inwiefern Kinder von Mördern überhaupt über die Ermordeten forschen und reden können? Das Jauchzen über die gelungene Erinnerungskultur hat ja inzwischen im Täterland zur einer Überidentifikation mit jüdischen Opfern geführt, über deren Emotionen unbeschwert Diskursmacht ausgeübt wird. Bevor man jedoch in Stellvertretung der Opfer spricht oder sie gar ständig zu Klezmermusik reinkarniert, wäre es doch pietätvoll, nicht so leichtfertig die Verbrechen zu überspringen, aufgrund derer die Opfer ausgelöscht wurden.

Es wird immer deutlicher, dass der Überdruss an den abgedroschenen Erinnerungsritualen nichts anderes als Schuldabwehr war. Der Wunsch, das Thema möge mit dem Aussterben der Zeitzeug*innen erledigt sein, das seit 1989 unverhohlen herbeigesehnt wird, ist infantil: Als ob die Taten mit dem Aussterben der – in erschlagender Mehrheit ungeschoren davongekommenen – Mörder*innen erledigt wären. Es ist Hybris, nach nur einer Generation von „Vergangenheitsbewältigung” zu sprechen. Das ist die Lebenslüge der deutschen Nachkriegsgeneration, die den osteuropäischen Nachbarn zunehmend saurer aufstößt, weil ihre Alltagsrealität damit komplett geleugnet wird. Es ist nicht an Deutschland, den wirklichen Opfern zu diktieren, was sie wann, worüber und in welcher Form erzählen dürfen, und was davon sich das Täterland bequemt anzuhören, und schon gar nicht, die Arithmetik der Aufrechnung vorzugeben, als ob eine solche überhaupt möglich wäre.

 

Polen oder das Verdrängte der deutschen Geschichte

Es ist bemerkenswert, wie ausgewogen der Film polnische und deutsche Stimmen vorzustellen versucht, und traurig, dass dies nach wie vor eine Rarität in der deutschen Fernsehlandschaft ist. Zwischen der allgegenwärtigen Prägung des polnischen Alltags, Stadtbildes, Familiengeschichten und Geschichtsschreibung durch den Zweiten Weltkrieg und dem deutschen Umgang mit dieser eigenen Geschichte in Polen tun sich dabei Abgründe auf, die schon lange bekannt sind, und ebenso lange in deutschsprachigen Gesellschaften ausgeblendet werden. Das zeigt sich in der Unlust auch jener Historiker*innen, die sich professionell mit der Geschichte des Nationalsozialismus befassen, überhaupt oder mehr als einmal nach Polen zu reisen und sich die Crime Scenes vor Ort anzuschauen (noch abgründiger dann, wenn die eigenen Eltern Vertriebene sind). Es setzt sich fort in der Unfähigkeit, die avantgardistische Forschung zur Shoah in Polen[1] auch nur ansatzweise zu rezipieren, denn diesem Land, dessen Bild in den Medien konstant verzerrt wird, traut man dies offenbar gar nicht zu. Der Film erzählt deutlich von diesem Nichtzuhörenwollen, vom Ausblenden dessen, was die polnischen Nachbar*innen zu erzählen haben.

Es ist zum Haare ausraufen, das ist wohl der einzig treffende Kommentar, wenn in der Denkmalsmeile zum Zweiten Weltkrieg, zu der sich die neue deutsche Hauptstadt herausputzt, nach dreißig Jahren das Land, das zuerst überfallen wurde, als letztes ein Gedenkzentrum erhalten soll, und dass daneben ein Exilmuseum geplant ist, das all die berühmten Emigrierten repatriieren soll, die es dank ihrer Vertreibung im Ausland zu etwas gebracht haben.[2] Ob nun in dieser Form realisiert oder nicht, so wirkt die geplante Museumspaarung wie ein Lehrstück für Verdrängung: Auf der einen Seite ein Museum für bisher weitgehend „vergessene” Orte totaler Verwüstung wie Warschau (das stets auf die Aschelandschaft von Treblinka verweist), auf der anderen Seite ein herausgeputztes Schaufenster erfolgreicher Emigration, womöglich aus demselben Polen. 

Seht endlich hin, seht Euch endlich diese polnischen Nachbar*innen und Nächsten an und nehmt ihre Sichtweise der deutschen Geschichte zur Kenntnis! Es ist buchstäblich unmöglich, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ohne die wichtigere, polnische Hälfte zu schreiben, gewissermaßen der vergessenen Gesamtlandschaft Deutschlands.

Sämtliche Schattierungen und Perversionen des Opfer-Täter-Zuschauer-Mitmacher-Verhältnisses erschließen sich erst in Polen. Dies war den jüdischen Gelehrten und Aktivisten klar, die noch während des Geschehens alle Beweise zu archivieren versuchten, mit historiographisch avantgardistischen Methoden, im YIVO (yidisher visnshaftlekher institut)[3], gewissermaßen der Frankfurter Schule des osteuropäischen Judentums, erlernt und sofort am eigenen Leib erlitten. Kurzum: Die jüdischen Historiker und Historikerinnen fingen bereits während des Völkermordes an, die Verbrechen zu dokumentieren, allen voran Emanuel Ringelblum um die Gruppe Oneg Shabbat. Deutsche Historiker*innen begannen bekanntlich erst in den 1980er Jahren damit, sich mit der „Endlösung“ zu beschäftigen. Sie hatten sich jahrelang konsequent geweigert Joseph Wulfs Quelleneditionen, auch die zum Warschauer Ghetto, zur Kenntnis zu nehmen. Es waren die jüdischen survivor scholars Nachman Blumental und Filip Friedman, welche die Dokumentation und Erforschung des ungeheuerlichen deutschen Projekts bereits in den 1940er Jahren treffend mit dem Wort „Vernichtungswissenschaft“ beschrieben.

Es ist bezeichnend, dass das von der PiS-Regierung ins Leben gerufene Pilecki-Institut in Berlin, deren Direktorin in dem Film zu Wort kommt, nicht als das bezeichnet wird, was es ist: ein Institut zur Relativierung der Präzedenzlosigkeit der Shoah und der Übermalung der Beteiligung von Teilen der polnischen Gesellschaft am deutschen Projekt der Ermordung der Jüdinnen und Juden. Und so ist der Weg nicht weit von einer allgemeinen Reflexion über Denkmale und Denkmalsstürze, und die Holocaustforscherin fragt sich ungläubig: Was haben Marx und Engels in einem Film zu suchen, der von Brandts Kniefall und präzedenzlosen Verbrechen im deutsch besetzten Polen handelt? Nichts, aber offenbar ging es dem Regisseur darum, ein Produkt des polnischen Mainstream-Diskurses – die Totalitarismustheorie und den Antikommunismus[4] – in Deutschland zu popularisieren, das mittlerweile auch auf höchster europäischer Ebene angekommen ist und deutsche Interessen der Schuldabwehr bedient: Deutschlands Alleinschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kann nivelliert werden, wenn Hitlers und Stalins Verbrechen auf eine Stufe gestellt, und die ideologischen Ursachen des Stalinismus kurzerhand auf Marx und Engels zurückgeführt werden.

 

Assmanns Erinnerungskulturkonzept als deutsches Exportprodukt

Assmanns Konzept der Erinnerungskultur muss im Dokumentarfilm als Rahmen für die Erinnerung an die polnische und jüdische Bevölkerung in Polen herhalten. So wird in dem Film der polnische Künstler Rafał Betlejewski interviewt, der sein 2010 entstandenes Projekt „Tęsknię za Tobą, Żydzie“ („Ich sehne mich nach Dir, Jude“) kommentiert. Betlejewski erklärt, er habe das in Polen negativ besetzte Wort Żyd (Jude) positiv konnotieren wollen und berichtet davon, welche gesellschaftlichen Reaktionen die in Großbuchstaben verfasste Aufschrift „Tęsknię za Tobą, Żydzie“, die er in roter Farbe im öffentlichen Raum in Polen an Mauern malte, auslöste. Das Wort „Jude“ sei noch immer für die polnische Gesellschaft unannehmbar, nicht akzeptabel. Warum, bleibt unklar. Die nichts über Polen und die polnischen Debatten über den Holocaust wissendenden Fernsehzuschauer*innen in Deutschland können sich folglich beruhigt zurücklehnen und sich bestätigt fühlen in dem Vorurteil, Polen und Polinnen seien noch immer Antisemit*innen und hätten nichts von den selbsternannten Vergangenheitsbewältigungsweltmeister*innen aus Deutschland gelernt.

Der Regisseur problematisiert weder den philosemitischen Charakter des nostalgischen Projekts, das in Elżbieta Janickas und Tomasz Żukowskis Buch „Przemoc antysemicka?“ („Philosemitische Gewalt?“) einer detaillierten Analyse unterzogen wird,[5] noch ordnet er es in die Diskussionen bezüglich des polnischen Kontextes der Shoah ein, über den nicht nur deutschsprachige Fernsehzuschauer*innen kaum etwas wissen, sondern auch Akademiker*innen in Deutschland, denn: um die neueste innovative polnische Forschung über die Shoah rezipieren zu können, sind polnische Sprachkenntnisse essentiell. Angestoßen wurde diese neue Forschungsrichtung durch das im Jahr 2000 erschienene Buch „Nachbarn“ von Jan Tomasz Gross und die darauffolgende Jedwabne-Debatte, in der es nicht allein um die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Jedwabne am 10. Juli 1941 durch polnische Nachbarn, sondern auch um die Rolle der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung während der Shoah insgesamt ging. Die Forschungsergebnisse der sogenannten polnischen Schule der Holocaustforschung[6] werden von der PiS-Regierung bekämpft – auch mit juristischen Mitteln, wie das mittlerweile eingestellte Strafverfahren gegen Jan Tomasz Gross und der Zivilprozess gegen Engelking und Grabowski belegen – und negiert. 

Juden sind bei Betlejewski genau wie auf dem Denkmal, das an den Brandt’schen Kniefall erinnert und das in dem Film gezeigt wird, lediglich Objekte. Das aus rotem Klinker bestehende Pomnik pomnika[7] („Denkmal des Denkmals“) an der „Willy-Brandt-Grünanlage“ („Skwer Willy Brandta“), das im Jahr 2000 von Kanzler Schröder und dem Präsidenten des Ministerrates Jerzy Burzek eingeweiht wurde, ist gleichsam ein Exportartikel der Assmannschen Erinnerungskultur. Auf einem jüdischen Friedhof, dem ehemaligen Ghettogelände, entstand – unweit des Ghettodenkmals und des Museums für die Polnischen Juden (POLIN) – „auf gemeinschaftliche Initiative des Polnischen Rates der Europäischen Bewegung, angenommen von der Stadt Warschau und unterstützt durch die Firma Röben und anderer Elemente des guten Willens“[8] ein Denkmal für einen guten Deutschen. Der Brandt’sche Kniefall, der auf einer auf der Vorderseite des Denkmals angebrachten Tafel abgebildet ist, wird in der seitlich angebrachten Inschrift als „symbol pamięci w stosunkach polsko-niemieckich”, als „Symbol der Erinnerung in den deutsch-polnischen Beziehungen“ bezeichnet und damit für politische Zwecke vereinnahmt.[9] Deutsch-polnische Erinnerungskultur auf einem jüdischen Friedhof.

Anstatt an dem Ort zu bleiben, an dem Brandt auf die Knie fiel und den 1988 gestalteten Trakt Pamięci Meczeństwa i Walki Żydów vorzustellen, der rund um das Ghettodenkmal von 1948 beginnt und zu dem Denkmal für die aus dem Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager nach Treblinka[10] Deportierten führt, wird in der Doku ein weiteres Erfolgsprojekt der deutschen Erinnerungskultur erwähnt: Gunter Demnings „Stolpersteine“, die seit einiger Zeit auch im Ausland verlegt werden. Demning erfüllt im Film die Rolle „des guten Deutschen“, Betlejewski die „des guten Polen“. 

Ein zentrales Denkmal am historischen Tatort kommt im Film dagegen nicht vor: das Denkmal an dem Ort, den die deutschen Besatzer „Umschlagplatz“ nannten und von dem aus sie die Warschauer Jüdinnen und Juden in Viehwaggons zum Abtransport in das NS-Vernichtungslager Treblinka pferchten, nachdem diese dort oft stundenlang auf dem Boden in der Sommerhitze ohne Essen und Trinken hatten ausharren müssen. In das 1988 von Hanna Szmalenberg entworfene Denkmal[11], das an die 350 000 jüdischen Männer, Frauen und Kinder, die von den Deutschen zwischen dem 22. Juli und dem 21. September 1942 nach Treblinka deportiert und unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden, erinnert, sind männliche und weibliche Vornamen eingraviert.

Polski: Pomnik Umschlagplatz w Warszawie, English: Umschlagplatz Monument in Warsaw, 7. Juni 2012, Foto: Adrian Grycuk via Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0 PL.

Anstatt die Gelegenheit zu nutzen, die Zuschauer*innen auf dem Gelände des ehemaligen Warschauer Ghettos herumzuführen und auf die Überschreibung des Jüdischen am Originaltatort[12] einzugehen, präsentiert das Hin- und Herhüpfen zwischen Deutschland und Polen Warschau als einen Ort, der sich nicht entschlüsseln lässt – weder von den Einheimischen noch von den Zuschauenden fernab. Dies soll die junge Frau bezeugen, die vor dem neuen POLIN-Museum auf dem ehemaligen Ghettogelände erzählt, sie habe über dessen jüdischen Bewohner*innen nichts gewusst, obwohl sie im Viertel Muranów aufgewachsen sei. Die Denkmäler in Warschau werden im letzten Drittel des Films gleichsam gegen das Berliner Modell gehalten, mit dessen Monumentalität sie es nicht aufnehmen können. Es wäre wirklich schön gewesen, für einmal den Spieß umzudrehen, und den Zuschauer*innen in Deutschland die ihnen zumeist unbekannten Originalschauplätze des Zweiten Weltkriegs im Nachbarland und den Umgang damit in Warschau als das zu präsentieren, was sie sind: terra incognita. 

Warschau und die polnischen Stimmen bleiben blass und konturlos – gerade im Vergleich zur aufgefahrenen deutschen Prominenz, die im Film das Wort führt. Dabei hätte gerade der polnische Journalist Adam Krzemiński, der am 7. Dezember 1970 am Ghettodenkmal stand, im Film aber nur kurz zu Wort kommt, viel über die polnischen Reaktionen auf Brandts Kniefall zu erzählen.[13] Auch wäre es interessant gewesen zu erfahren, wie der Kniefall heute in Polen gesehen und warum er umgedeutet wird. Zum Beispiel von dem Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław Krzysztof Ruchniewicz. Er meint, Brandts Geste habe sich nicht ausschließlich an die Juden gerichtet. Er habe vor allem vor „polnischen Staatsbürgern“ gekniet. Er deutet die Geste damit schlicht um. Als Begründung verweist er darauf, dass es damals noch kein Denkmal für die Warschauer Aufständischen gegeben und sich in der Bundesrepublik gerade erst ein Holocaust-Bewusstsein herausgebildet habe.[14] In einem Interview vom 5. Dezember 2020 betreibt er die Dejudaisierung der jüdischen Erinnerung noch offener, indem er behauptet, Brandt habe mit seinem Kniefall „die zivilen Opfer der deutschen Besatzung geehrt“ und indem er das Ghettodenkmal als „Denkmal der polnischen Staatsbürger“ bezeichnet.[15] Die Überlebenden der Shoah stifteten das Ghettodenkmal für die polnischen Juden und Jüdinnen, zu denen sie gehörten. Nicht für die polnische Staatsbürger*innen, die sie auch waren.

 


[1]  Vgl. Elżbieta Janicka, A Triumphant Gate of the Polish Narrative. The Symbolic Reconstruction of the Bridge over Chłodna Street in Warsaw vis-à-vis the Crisis of the Dominant Polish Narrative of the Holocaust, in: Studia Litteraria et Historica 9 (2019), S. 1–119.

Janicka unternimmt darin u.a. eine Kritik dominanter Holocausterzählungen und analysiert die Überblendung des historischen Geschehens und der Tatorte durch Filmbilder.

[2] Siehe dazu Rolf Surmann, Die Zäsur. Mit Hilfe der Debatte über die Errichtung eines Denkmals für die polnischen Opfer der NS-Besatzung wird die deutsche Erinnerungspolitik neu ausgerichtet, in: Konkret 10/20, S. 30–33.

[3] Zum YIVO vgl. Samuel D. Kassow: YIVO. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 6: Ta–Z. Metzler, Stuttgart/Weimar 2015, S. 479–485; Cecile Esther Kuznitz, YIVO and the Making of Modern Jewish Culture: Scholarship for the Yiddish Nation, Cambridge 2014.  

[4] Der Antikommunismus und Antisemitismus der im Film erwähnten sog. Verstoßenen Soldaten (żolnierze wyklęci) wird indes nicht problematisiert. Zur Bedeutung der Erinnerung an die Verstoßenen Soldaten für die nationalistische Geschichtspolitik in Polen vgl. Katrin Stoll und Sabine Stach und Magdalena Saryusz-Wolska, Verordnete Geschichte? Zur Dominanz nationalistischer Narrative in Polen. Eine Einführung, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2016.

[5] Vgl. Przedmiot i podmiot nostalgii: „Tęsknie za Tobą, Żydzie” i „Płonie stodoła” Rafała Betlejewskiego (2010), in: Elżbieta Janicka / Tomasz Żukowski, Przemoc filosemicka? Nowe polskie narracje o Żydach po roku 2000, Warszawa 2016, S. 123–159.

[6] Audrey Kichelewski, Judith Lyon-Caen, Jean-Charles Szurek, Annette Wieviorka, eds., Les Polonais et la Shoah. Une nouvelle école historique, Paris 2019.

[7] Elżbieta Janicka, Pomnik pomnika. Miniatura o upiorach, in: Krytyka Polityczna 26 (2011), ohne Paginierung.

[8] So lautet die deutsche Übersetzung der ausschließlich in polnischer Sprache an der Seite des Denkmals angebrachten Information zu den Stiftern des Denkmals. Siehe auch Janicka, Pomnnik pomnika.

[9] Vgl. dazu auch: Katrin Stoll, Ein „Polen-Denkmal“ in Berlins Mitte?. Über ein Projekt mit dem „Ziel einer deutsch-polnischen Aussöhnung“, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2017.

[10] Auch dieser Film frönt der Beliebigkeit der Bebilderung, indem er statt Treblinka – wo die Warschauer Ghettobevölkerung ermordet wurde – Bilder von Auschwitz zeigt.  

[11] Ausführlich dazu: Elżbieta Janicka, Zamiast negacjonizmu. Topografia symboliczna terenu dawnego getta warszawskiego a narracje o Zagładzie, in: Zagłada Żydów 10 (2014), S. 209–256, inbesondere S. 218 f.

[12] Vgl. Elżbieta Janicka, Festung Warschau, Warszawa 2011.

[13] Adam Krzemiński, Mehr Demut wagen, in: DIE ZEIT Nr. 50, 3. Dezember 2020, S. 21.

[14] Vgl. Przed otłanią niemieckiej historii zabrakło slów. Rozmowa z Prof. Krzysztofem Ruchniewiczem, in: Gazeta Wyborcza, 2.12.2015, S. 4.

[15] Vgl. Wszystko inne byłoby za małe. Rozmowa z Krzysztofem Ruchniewiczem, in: Gazeta Wyborcza, 5.12.2020, S. 2–3.