von Volker Zimmermann

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1. März 2014

Veröffenlicht: März 2014

 

„Wenn ich schon den Staat nicht retten konnte, so habe ich wenigstens das Volk gerettet.“ Mit diesen Worten rechtfertigte der tschechoslowakische Präsident Emil Hácha nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seinen Schritt in der Nacht vom 14. auf den 15. März 1939, Böhmen und Mähren unter den „Schutz des Deutschen Reiches“ zu stellen. Ein kriegerischer Konflikt, mit dem ihm zuvor Reichskanzler Adolf Hitler und Reichsminister Hermann Göring im Falle eines Widerstandes gegen die deutschen Expansionsabsichten gedroht hatten, hätte seiner Meinung nach zu viele Opfer gekostet. Wenige Stunden darauf rückte die Wehrmacht in Böhmen und Mähren ein, am 16. März proklamierte Hitler in Prag das „Protektorat Böhmen und Mähren“. Es folgten sechs Jahre Besatzungsherrschaft – und damit die längste NS-Okkupation eines Gebietes mit mehrheitlich nichtdeutscher Bevölkerung in Europa.
Diese Besatzung unterschied sich in mancher Hinsicht von der Situation in anderen von Deutschland besetzten Gebieten: In Prag residierten formal weiterhin ein tschechischer Präsident sowie eine tschechische Regierung, tatsächlich lenkten aber ein deutscher Verwaltungs- und Polizeiapparat unter Führung eines „Reichsprotektors“ die Geschicke des Landes. Zunächst übte der ehemalige deutsche Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath dieses Amt aus, von September 1941 bis zu seiner Tötung durch ein tschechisches Attentatskommando im Mai 1942 mit offenem Terror der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich als dessen „Stellvertreter“. Zwar folgten ihm weitere Repräsentanten des Reiches, tatsächlich dominierte die Besatzungspolitik aber spätestens von da an der Staatssekretär bzw. seit 1943 Deutsche Staatsminister für Böhmen und Mähren und Höhere SS- und Polizeiführer im Protektorat Karl Hermann Frank.

Die deutsche Besatzungsmacht verfolgte gegenüber den etwas mehr als sieben Millionen Tschechinnen und Tschechen im Protektorat eine Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“: Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren besser als in anderen besetzten Gebieten insbesondere des östlichen Europa, jedoch wurde jeder Widerstand schnell und unnachgiebig niedergeschlagen. So ist die Zerstörung des Dorfes Lidice und die Ermordung der meisten seiner Bewohner im Juni 1942 als Vergeltung für das Attentat auf Heydrich weltweit zu einem Symbol für den Besatzungsterror geworden. Dasselbe Schicksal ereilte kurze Zeit später auch den heute weitgehend vergessenen Weiler Ležáky, wo alle erwachsenen Bewohner getötet wurden. Ein zentraler Erinnerungsort in den böhmischen Ländern für die Deportation und Ermordung der europäischen Juden ist zudem das Ghetto Theresienstadt. So war zwar, wie Hácha es gesagt hatte, die tschechische Nation 1939 vor einem Krieg mit Deutschland gerettet worden, doch war der Preis in Gestalt der NS-Besatzung extrem hoch. Im Frühjahr 1945 befreiten sowjetische Truppen von Osten und amerikanische Truppen von Westen her die böhmischen Länder von der nationalsozialistischen Herrschaft.

Die Zerschlagung der Tschechoslowakei, die Zeit der Okkupation sowie die anschließende Vertreibung und Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung aus dem wiederhergestellten Staat belasteten das deutsch-tschechische Verhältnis viele Jahrzehnte lang schwer.
Doch der Einmarsch der Wehrmacht in Böhmen und Mähren am 15. März 1939 ist weit mehr als ein zentrales Ereignis der deutsch-tschechischen Beziehungen: Mit ihm scheiterte eine außenpolitische Strategie, die heute als „Appeasement-Politik“ in den Geschichtsbüchern vieler Staaten prominent vertreten ist. Die Ausrufung des Protektorats war nur der letzte Schritt zur deutschen Kontrolle über die böhmischen Länder und sollte nicht mehr als ein weiterer auf dem von Deutschland angestrebten Weg zur Hegemonie über Europa sein. Kaum ein halbes Jahr zuvor hatte das Deutsche Reich bereits die mehrheitlich von Deutschen besiedelten Randgebiete der Tschechoslowakei eingegliedert. Diese Besetzung hatte Berlin mit dem Schutz der in der Tschechoslowakei angeblich unterdrückten Deutschen gerechtfertigt, die Formalia der Abtretung waren von Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich im „Münchener Abkommen“ vom 29./30. September 1938 vereinbart und der tschechoslowakischen Regierung lediglich mitgeteilt worden. Da Gegenwehr aussichtslos war, musste sie die betreffenden Gebiete räumen.

Bekanntlich hofften gerade die Ministerpräsidenten Großbritanniens und Frankreichs, mit „München“ einen Krieg in Europa verhindert zu haben – zumal Hitler versicherte, er erhebe keine weiteren Gebietsforderungen gegenüber Prag. Der britische Ministerpräsident Neville Chamberlain sprach nach seiner Rückkehr vor begeisterten Menschen vom „Peace in our time“. Doch enttäuschte nicht erst der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs diese Hoffnung: Dass die Appeasement-Politik gescheitert war, machte eben bereits die Besetzung der restlichen Gebiete Böhmens und Mährens im März 1939 deutlich, die die deutsche Regierung damit begründet hatte, dass Prag weiterhin eine deutschfeindliche Politik nach innen wie nach außen verfolge. Kurz vor dem Treffen zwischen Hitler und Hácha hatte sich zudem die Slowakei für unabhängig erklärt, die daraufhin bis 1944/45 die Rolle eines deutschen Satellitenstaates erfüllte. Großbritannien und Frankreich riskierten zwar auch in dieser Situation keinen Krieg, gaben nun aber zumindest gegenüber Polen für den Fall eines deutschen Angriffs militärische Beistandsgarantien ab.

Die Proklamation des Protektorats Böhmen und Mähren und das Münchener Abkommen müssen daher sowohl mit Blick auf die deutsch-tschechischen Beziehungen als auch auf die europäische Politik im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs gesehen werden. Im weiteren Sinne gehören auch der „Anschluss“ Österreichs im März 1938 und die ebenfalls auf Druck erfolgte „Rückgabe“ des Memellandes durch Litauen an Deutschland am 23. März 1939 zur Geschichte der Appeasement-Politik.
Bis heute sind diese Themen – „München“ weitaus stärker als das „Protektorat“ – im kollektiven Gedächtnis der Weltgemeinschaft überaus präsent und immer wieder abrufbar. Anfang März 2014 – also 75 Jahre nach der Ausrufung des „Protektorats“ – erinnerte die ehemalige amerikanische Außenministerin Hillary Clinton in einer Rede über die russische Politik gegenüber der Ukraine in der Krim-Krise an Hitlers Vorgehen gegen die Tschechoslowakei „in den 1930er Jahren“. Damit spielte sie vor allem auf das Argument an, man wolle nur den bedrängten deutschen bzw. russischen Bevölkerungsteilen helfen. Indirekt war damit, wie die daraufhin geführte Diskussion in den Medien zeigte, aber auch wieder die Appeasement-Politik in Erinnerung gerufen worden. Freilich ist bei jedem dieser Vergleiche, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs in internationalen Konfliktsituationen gezogen wurden – etwa in Zusammenhang mit dem 2. Golfkrieg 1991 oder dem Kosovo-Krieg 1999 – sehr kritisch danach zu fragen, ob die Ähnlichkeiten der Krisen denn tatsächlich immer so eindeutig sind, und danach, welche politische Botschaft mit der Anspielung auf den falschen Frieden von 1938/39 eigentlich transportiert werden soll.