„Meine Großmutter erzählte mir einmal, dass es in der Nazizeit in Berlin eine bestimmte Straße gegeben hätte, durch die man einfach nicht durchging, die man nicht betrat.“ Wie ein dunkles Märchen beginnt der Film, den Martin Gressmann über das Gelände der ehemaligen Prinz-Albrecht-Straße in Berlin gedreht hat. Hier befand sich seit 1933 die Zentrale der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. In den Hauptquartieren der Gestapo, der SS und des SD, die 1939 zum Reichssicherheitshauptamt zusammengefasst wurden, wurden tausende Menschen verhört und gefoltert; hier wurde der Massenmord an den europäischen Juden organisiert. Nach 1945 fiel der stark kriegsbeschädigte Ort dem Vergessen anheim. Auf geradezu sinnbildliche Weise überdeckten Schuttberge und spontaner Baumbewuchs das Gelände, das durch den Mauerbau ins städtebauliche Abseits geriet. Erst Anfang der 1980er Jahre lenkten West-Berliner Stadtplaner, Bürgerinitiativen und Geschichtswerkstätten die Aufmerksamkeit auf das Gelände und initiierten einen mühevollen Prozess, der in der Errichtung des Dokumentationszentrums „Topographie des Terrors“ mündete.[1]
Zu dieser Zeit begann auch Martin Gressmann sich für das Gelände zu interessieren. Seit 1985 kehrte der Berliner Kameramann immer wieder an den Ort zurück, um ihn mit seiner Kamera einzufangen. Er filmte das Gelände im Wechsel der Jahreszeiten und im Lauf der Geschichte. Beharrlich dokumentierte er, wie aus dem Niemandsland hinter der Mauer eine archäologische Ausgrabungsstätte und eine komplizierte Dauerbaustelle wurde. Erst die Eröffnung des heutigen Dokumentationszentrums im Jahr 2010 nahm Gressmann zum Anlass, einen Schlusspunkt zu setzen und seine Aufnahmen zu einer 90-minütigen Langzeitdokumentation zu verbinden. Der denkbar unspektakuläre Filmtitel „Das Gelände“ kündet nicht nur von der Schwierigkeit, diesen schrecklichen historischen Ort sprachlich zu erfassen, sondern verweist zugleich darauf, worum es in dem Film geht: Im Mittelpunkt der Dokumentation stehen nicht die Schreibtischtäter um Himmler, Heydrich, Eichmann und die Verbrechen, die von diesem Ort ausgingen, sondern die wechselvolle Geschichte des Geländes seit 1985.
Doch nicht nur der topografische Ansatz bricht mit den Konventionen des Genres. Der ganze Film markiert eine Antithese zur herkömmlichen Geschichtsdokumentation im deutschen Fernsehen. Das zeigt sich schon in der Produktionsweise: Anders als üblich wurde „Das Gelände“ nicht vom Fernsehen vorfinanziert. Es gab also keine Redakteure, die den Film auf seine Konsumierbarkeit trimmten. Vielmehr ist der Film eine Art Feierabendprodukt. Gressmann nutzte für seine Aufnahmen die Reste der Filmrollen, mit denen er als Kameramann tagsüber Komödien mit Didi Hallervorden oder Krimis von Dominik Graf drehte. Dass die Aufnahmen mit einer 35-Millimeter-Kamera entstanden, ist dem Film deutlich anzusehen und führt zu einem erstaunlichen Nebeneffekt: Während sich der Stadtraum im Hintergrund des ehemaligen Gestapo-Geländes durch die Internationale Bauausstellung (IBA) und die Wiedervereinigung radikal verändert, bleibt das filmische Material, das diesen Wandel einfängt, von nahezu zeitloser Qualität. Nur die zwischendurch eingeblendeten Jahreszahlen, die die chronologische Erzählung vorantreiben, verraten das Alter der Bilder.
Gressmann verwendet für seinen Film ausschließlich seine eigenen Aufnahmen und verzichtet gänzlich auf Archivmaterial. Das bedeutet: Was Gressmann nicht gefilmt hat, kommt in dem Film nicht vor. Es gibt keine Bilder der Täter – abgesehen von ein paar verkohlten Fotos, die in einem S-Bahn-Wagon am Anhalter Bahnhof zu sehen waren, ehe die Ausstellung einem Brandanschlag zum Opfer fiel. Es gibt auch keine Aufnahmen vom legendären Autodrom, das „Strapsen-Harry“ Toste in den 1960er und 1970er Jahren auf dem Gelände betrieb, um das Fahren ohne Führerschein möglich zu machen. Und ebenso wenig gibt es Bilder von den symbolischen Ausgrabungen, die 1985 am Ort des ehemaligen Hausgefängnisses der Gestapo veranstaltet wurden und den Auftakt für alle folgenden Grabungen bildeten. Der alleinige Fokus auf die eigenen Bilder hat zur Folge, dass wichtige Episoden in der Geschichte des Geländes nicht gezeigt werden können.
Um der Komplexität des Ortes dennoch gerecht zu werden, hat Gressmann seine Bilder um Kommentare aus dem Off ergänzt. Darin zitiert er nicht nur Briefe an seine längst verstorbene Großmutter, sondern lässt auch ein gutes Dutzend Zeitzeugen und Experten zu Wort kommen, die er größtenteils 2012 interviewt hat. Im Gegensatz zu den Talking Heads in traditionellen Geschichtsdokus sieht man die Personen jedoch nicht. Man erfährt noch nicht einmal, wem die Stimmen eigentlich gehören. Erst der Abspann verrät, wer alles zu hören ist: etwa der Architekturtheoretiker Dieter Hoffmann-Axthelm, der 1979 die Diskussion um das ehemalige Gestapo-Gelände auslöste, der Historiker Michael Wildt, der die Funktionsweise des NS-Terror-Apparats erläutert, der Architekt Peter Zumthor, der mit seinem radikalen Entwurf für das Dokumentationszentrum der „Topographie des Terrors“ grandios scheiterte, oder auch die Stadtökologin Leonie Fischer, die die Pflanzen- und Tierwelt auf dem verwilderten Gelände beschreibt. So entsteht eine Collage, bei der Bild und Ton oft nicht zueinander passen. Dabei wird das Wissen über die historischen Hintergründe des Geländes weitgehend vorausgesetzt. Anstelle eines historischen Narrativs bietet der Film eine künstlerische Annäherung an einen verwunschenen Ort, der so belastet ist, dass er sich der Gestaltungskraft und Ordnungsmacht des Menschen zu entziehen scheint, indem er immer wieder in einen Dornröschenschlaf verfällt.
Gressmann schreibt dem historischen Ort eine eigentümliche Macht zu. Das Handeln der Akteure tritt gegenüber der Vielschichtigkeit des Geländes zurück, die mit großer Ehrfurcht gegenüber dem Gefüge von Raum und Zeit sorgfältig aufgedeckt wird. Diese unkonventionelle Herangehensweise, die radikal mit den Erzählweisen der TV-Doku bricht, macht sowohl den Reiz als auch die Schwierigkeit des Films aus. Es nimmt kaum Wunder, dass das Fernsehen den Film bislang nicht ins Programm aufgenommen hat. Auch im Kino fand sich erst ein Filmverleih, nachdem der Film mit dem Preis der deutschen Filmkritik 2015 ausgezeichnet wurde. So kam „Das Gelände“ mit dreijähriger Verspätung schließlich doch noch ins Kino. Nur hier können Gressmanns Bilder ihre ganze Kraft entfalten. Und nur hier bringt der Zuschauer die Ruhe mit, um die Langsamkeit des Films zu ertragen.
„Das Gelände“, D 2013, 93 Min, Regie: Martin Gressmann, Website zum Film.
Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de
[1] Vgl. Krijn Thijs, West-Berliner Visionen für eine neue Mitte. Die Internationale Bauausstellung, der »Zentrale Bereich« und die »Geschichtslandschaft« an der Mauer (1981–1985), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 11 (2014), H. 2.