Die Retrospektive der 69. Berlinale präsentierte gleichermaßen persönliche wie politische Sichtweisen auf ein Deutschland im Auf- und Umbruch
Während der Berlinale im Februar 2019 hetzten Rainer Rother und Connie Betz zehn Tage lang zwischen den verschiedenen Spielstätten hin und her, um vor oder nach den Filmscreenings ihrer Sektion, der Retrospektive, Gespräche mit den Filmschaffenden zu führen. In letzten Berlinale-Woche erklärten sie sich bereit, ausnahmsweise einmal nicht anderen Filmexpert*innen Fragen zu stellen, sondern selbst Rede und Antwort zu stehen und eine persönliche Bilanz des gerade vergangenen Festivals zu ziehen. Entstanden ist ein Gespräch mit Rainer Rother und Connie Betz über die diesjährige Retrospektive der Berlinale, die unter dem Titel „Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“ ausschließlich Filme von Frauen zeigte, die zwischen 1968 und 1999 in Deutschland entstanden.
Connie Betz ist Filmwissenschaftlerin und koordiniert sowie co-kuratiert als Mitarbeiterin der Deutschen Kinemathek, dem Museum für Film und Fernsehen, die filmhistorischen Programme der Berlinale, zu denen neben der Retrospektive auch die Sektionen Hommage und Berlinale Classics gehören.
Rainer Rother, ebenfalls Filmwissenschaftler und Historiker, ist seit 2006 Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und Leiter der filmhistorischen Sektion der Internationalen Filmfestspiele Berlin.
Ihre gemeinsame Arbeit, die Organisation der Retrospektive, ist jener von Historiker*innen nicht unähnlich, wenn es beispielsweise darum geht, Filmtitel zu recherchieren und die Verfügbarkeit von Filmkopien in Archiven zu ermitteln oder Filmemacher*innen ausfindig zu machen und im Rahmen des Festivals Zeitzeug*innengespräche mit ihnen zu initiieren. In einer Begleitpublikation stellt die Deutsche Kinemathek ihre Rechercheergebnisse zusammen und veröffentlicht zudem zahlreiche Beiträge, die die Filme des Festivals analysieren und dabei nicht selten auch ihre Rezeptions- und Überlieferungsgeschichten thematisieren. Sie leisten damit nicht nur einen Beitrag zur Wissenschaft und machen zugleich auf Forschungsdesiderate aufmerksam, sondern sie nehmen durch die Themensetzung auch aktiv Einfluss auf den erinnerungskulturellen Stellenwert von spezifischen Filmen und Filmthemen und verschaffen nicht selten Filmen eine große Aufmerksamkeit, die andernfalls dem Vergessen anheimzufallen drohen. Im diesjährigen Programm gab es neben wenigen sehr erfolgreichen kanonisierten Klassikern wie „Zur Sache Schätzchen“ (May Spils, 1968), „Bandits“ (Katja von Garnier, 1997) und „Die bleierne Zeit“ (Margarethe von Trotta, 1981) vor allem solche Filme zu entdecken, die jüngeren Generationen von Kinogänger*innen nahezu unbekannt sein dürften.
Anna Kokenge (AK): Die Berlinale ist seit knapp einer Woche vorbei. Wie haben Sie das Festival erlebt, wie zufrieden sind Sie insbesondere mit der Retrospektive?
Rainer Rother: Für mich war es eine andere Retrospektive als sonst, einfach deswegen, weil wir ausnahmsweise sehr viele Gäste hatten. 33 Regisseurinnen waren da und haben ihre Filme vorgestellt. Das hat uns natürlich sehr gefreut. Connie Betz und ich haben viele dieser Regisseurinnen ins Kino begleitet, haben uns auch im Vorfeld zu Vorbesprechungen mit ihnen getroffen, und das ist für die Retrospektive etwas Neues. Normalerweise haben wir in der Retrospektive kaum Gäste. Das war sehr schön, mit so vielen Regisseurinnen zu sprechen, und ich glaube, es hat auch dem Programm sehr gutgetan, dass so viele der Filmschaffenden bereit waren, zu kommen und in ihre Filme einzuführen.
Connie Betz: Mir hat vor allen Dingen gefallen, dass die Regisseurinnen sich so viel Mühe gegeben haben, ihre Darsteller*innen und einen Teil der Mitarbeitenden ins Kino einzuladen und diese Wiedersehensfreude, die das bei den Regisseurinnen und auch bei den Mitwirkenden ausgelöst hat, man trifft sich wieder – dreißig Jahre später – ,das fand ich sehr bewegend, da zugegen zu sein.
AK: Das Thema der Retrospektive lautete in diesem Jahr „Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“. Sie haben deutsche Filme aus dem Zeitraum von 1968 bis 1999 gezeigt. Das Jahr 1968 mag sich als Einschnitt leicht erklären: allgemein als Auf- und Umbruchsjahr der deutschen Geschichte wie auch im Speziellen durch die berühmte SDS-Rede der Regisseurin Helke Sander, die oft als Beginn der zweiten deutschen Frauenbewegung angesehen wird. Für das Jahr 1999 fehlt eine derart offensichtliche Zäsur jedoch. Wie kam es zur Auswahl dieses Zeitrahmens?
Rainer Rother: Als wir vor drei Jahren die Retrospektive „Deutschland 1966. Filmische Perspektiven in Ost und West“ gemacht haben, wo es ja auch um einen Ost-West-Vergleich ging, haben wir ein kritisches Jahr in der Geschichte des bundesdeutschen Films und auch des DDR-Films in den Blick genommen und konnten damals nur drei kurze Filme von Regisseurinnen zeigen. Als wir jetzt an die Erarbeitung des Themas gegangen sind, haben wir natürlich geschaut, wann entstehen eigentlich die ersten langen Filme, und das war tatsächlich im Jahr 1968, deswegen war das der naheliegende Anfangspunkt: Das ist einmal „Zur Sache, Schätzchen“ von May Spils im Westen und in der DDR der erste Film von Ingrid Reschke („Wir lassen uns scheiden“), der 1968 ins Kino kommt. Und für uns war die erste Überlegung, dass wir versuchen wollten, den Zeitraum zu begrenzen, weil wir sonst in eine Situation gekommen wären, wo es einfach zu viele Regisseurinnen gab und wir zu viele hätten nicht mit ihren Filmen repräsentieren können. Deswegen haben wir immer gesagt, wir wählen die ersten beiden Generationen als eine Möglichkeit, diese Eingrenzungen vorzunehmen. Das hatte auch den Vorteil, dass wir zwei ganz entscheidende Umbrüche in der deutschen Filmgeschichte mitbedenken konnten. Da ist zunächst einmal die Veränderung, die in den 1980er Jahren beginnt und die für die Bundesrepublik relevant ist, weil sich dort die Förderbedingungen verändern und stärker auf die sogenannte Publikumswirksamkeit eines Films geachtet wird. Das heißt, die anfangs unabhängigere Förderung von Projekten – und eben auch von Projekten von Frauen – bricht in dieser Zeit zusammen. Das konnten wir reflektieren und haben deshalb auch Filme, die in eine andere Richtung gehen, die sich mit dem Genre auseinandersetzen, ausgewählt. Und zum anderen konnten wir dann eben auch die Nachwendezeit mit reinnehmen, beispielsweise Sibylle Schönemanns „Verriegelte Zeit“ (1990). Das ist ein ganz großartiger Film. Auch ein Film wie z. B. „Nie wieder schlafen“ (1993) von Pia Frankenberg, der damals nicht gut angekommen ist, wurde jetzt von der Kritik und vom Publikum sehr positiv aufgenommen, was uns sehr freut.
AK: Die Regisseurin Angela Schanelec war zwar im Programm vertreten, aber durch die Beschränkung der Filme auf die Zeit bis 1999 fiel Maren Ade heraus und mit ihr eine wichtige Vertreterin der Berliner Schule, welche man ihrerseits vielleicht als neue unabhängigere Bewegung ansehen könnte, die dem angesprochenen, ab Ende der 1980er Jahre einsetzenden Mainstream entgegensteht. Und andererseits fanden Filmemacherinnen wie Caroline Link keine Berücksichtigung, obwohl gerade Link als einzige deutsche Oscarpreisträgerin einen Mainstream hätte personifizieren und damit aufzeigen können, dass Filme von Frauen keinesfalls Nischenprodukte, sondern gleichermaßen erfolgreich wie jene ihrer männlichen Kollegen sein können. Wie kam es zu der Einschränkung, nur Filme bis 1999 zu berücksichtigen?
Rainer Rother: Ja, manches ist schon bitter. Bei Caroline Link ist es uns zum Beispiel so gegangen, dass wir die Hürde des Themas hatten. Wir haben lange überlegt, wie kann man einen Fokus finden, der thematisch sinnvoll ist, und „Selbstbestimmt“ ist etwas, was auf die Filme in irgendeiner Weise auch zutreffen sollte. Wir haben „Jenseits der Stille“ (Caroline Link, 1997) geliebt, aber das ist ein Film, der nicht wirklich unter diesem Fokus in Frage kam. Manchmal hat das dann auch Konsequenzen, mit denen man ein bisschen hadert. Und bei der Berliner Schule, ja, das ist richtig, wir haben damit die jüngere Generation ausgeschlossen, das war aber, glaube ich, unvermeidlich, denn wenn wir da an die Entwicklung nach 2000 denken, dann gibt es ja erfreulicherweise sehr, sehr viele Regisseurinnen, die reüssieren und Filme machen, das müsste man vielleicht in zehn Jahren wieder aufgreifen.
AK: Bei den Regisseurinnen würde ich gleich noch einmal einhaken. Es lag natürlich nahe, nach der im Zuge der #metoo-Debatte aufgekommenen Diskussion über Frauen in der Filmbranche dem Thema auch eine Retrospektive zu widmen. Aber man hätte ja auch sagen können, man schaut sich die berühmten Frauenfiguren der Filmgeschichte an und hat dann vielleicht die „Maria Braun“ (Die Ehe der Maria Braun, Rainer Werner Fassbinder, 1979) im Westen und die „Solo Sunny“ (Konrad Wolf, 1980) im Osten. Wie kam es zu der Entscheidung, nicht selbstbestimmte Frauen im Film, sondern Filme von selbstbestimmten Frauen zu zeigen?
Rainer Rother: Im Grunde schon durch die Retrospektive „Deutschland 1966“, weil damals die erste Generation von Frauen an den Filmhochschulen in Ulm und Berlin Film studiert hat und wir es in unserem Programm vor drei Jahren nur am Rande thematisieren konnten.
Connie Betz: Klar, das ist ein Thema, das politisch sehr viel präsenter ist, als es viele Jahre lang war, was auch wichtig ist. Retrospektiven sind ja oft eine Art Standortbestimmung, ein Rückblick, um zu schauen, was hat sich da entwickelt, was hat sich auch in beiden deutschen Staaten entwickelt, um ein Resümee zu ziehen, zum jetzigen Zeitpunkt, wo die Beteiligten auch noch befragt werden können. Wenn wir dieses Programm in zehn Jahren gemacht hätten, hätten wir die erste Generation mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr dazu einladen können. Und ich glaube, weil es eine wiedererstarkende feministische Bewegung gibt, könnte es auch für die jetzt 30-Jährigen interessant sein zu reflektieren, wie sie auf die Filme reagieren, welche Fragen sie haben an die Regisseurinnen. Und ich glaube, dass es ein guter Zeitpunkt ist für diese Kommunikation mit den Regisseurinnen. Wenn man jetzt Frauenfiguren allgemeiner thematisiert, klar, dann kann man über Frauenbilder diskutieren, aber diese Beweggründe der Regisseurinnen jetzt für ein jüngeres Publikum zugänglich zu machen und diese Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Generationen zu ermöglichen, das war eine einzigartige Chance.
AK: Viele der Filme, die Sie gezeigt haben, waren sehr persönlich, sehr biografisch beeinflusst, und es waren größtenteils Gegenwartsfilme, die die politische Stimmung ihrer Entstehungszeit eingefangen haben. Man sah Frauen, die unter persönlichem Zweifel oder den politischen Verhältnissen leiden, die ihre Lebensumstände hinterfragen und Missstände aufzeigen. War dieser Inhalt wichtiger als formal oder ästhetisch eine sehr große Vielfalt zu repräsentieren? Es hätten ja auch historische oder fantastische Stoffe berücksichtigt werden können. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Connie Betz: Wir haben uns formal und ästhetisch ein paar Eckpunkte gesetzt. Wenn man ein Programm mit 30 Filmen gestalten will, dann kann man nicht alles berücksichtigen. Dann kann man nicht sämtliche historische Stoffe berücksichtigen. Das wäre wiederum auch ein interessantes Thema gewesen: Welche Kategorien haben Regisseurinnen sich stärker getraut aufzubrechen, vielleicht auch durch die biografischen Zugänge und welche Ästhetik ergibt sich eben daraus? Viele Filme wurden negativ bewertet, gerade weil sie bestimmten Vorgaben bzw. Sehgewohnheiten nicht entsprachen. Iris Gusner etwa ist eine Persönlichkeit, die die dramaturgischen Konventionen, ganz besonders in „Die Taube auf dem Dach“ (1973), ganz stark herausfordert und an Grenzen geht. Das macht die Filme spannend auch wenn sie keine großen Kinoerfolge feierten. Wenn man jetzt an ihren Film „Kaskade rückwärts“ (1984) denkt, wo sie verschiedene Genre-Elemente sehr gekonnt, aber eben auch sehr ungewöhnlich kombiniert, da habe ich mich schon gefragt, ob die Filme vielleicht auch kein breites Publikum gefunden haben wegen dieser Besonderheiten. Die Beiträge im Buch (Rainer Rother/Karin Herbst-Meßlinger (Hrsg.): „Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“, 2019) sollen ja auch eine Anregung geben, womit man sich darüber hinaus beschäftigen kann.
AK: In seiner dokumentarisch anmutenden, aber dennoch fiktionalen Konzeption ist sicherlich Helke Sanders Film „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ (1978), dessen Bild auch das Plakat der diesjährigen Retrospektive ziert, eine innovative Mischung aus fiktionalen und biografischen Elementen, die sich zum „Weitermachen“ besonders eignen würde. In dem Film macht sich die Protagonistin, eine Fotografin, auf die Suche nach den Gemeinsamkeiten von Ost- und West-Berlin, ein Ziel, das die Retrospektive bezogen auf Deutschland ebenfalls hatte. Im diesjährigen Programm sollten sich die Regisseurinnen aus beiden deutschen Staaten begegnen. Es heißt, die Annäherungen von Ost- und West-Filmemacherinnen sei im Rahmen der diesjährigen Retrospektive allerdings ein stückweit gescheitert. Haben Sie dies auch so empfunden und, falls dem so ist, welche Erklärung haben Sie dafür?
Connie Betz: Ich wäre da vorsichtig und konnte leider keine große Offenheit beobachten im Aufeinanderzugehen und das ist etwas, was mich schon traurig gemacht hat. Vielleicht war auch die Erwartung zu hoch. Ich hätte mir gewünscht, dass, ähnlich wie es Iris Gusner und Helke Sander in ihrem gemeinsamen Buch gemacht haben („Fantasie und Arbeit“, 2009), und, wie es vielleicht generell in der Ost-West-Annäherung der einzige Weg ist, wie man zueinander finden kann, man sich zusammensetzt und sich austauscht. Nun ist ein Austausch natürlich auch etwas, was ein ganz anderes Gefäß braucht als ein Filmfestival.
Rainer Rother: Ja, also vielleicht hätten wir mehr in die Richtung gehen können, wie wir das in der Audi-Lounge gemacht haben, wo es ein Gespräch zwischen Iris Gusner und Helke Sander gab, vielleicht hätte man noch ein solches Format erfinden müssen und über das eben nicht-klassische Erzählen, eine Freiheit im Erzählen, die es sonst nicht gibt, eine Annäherung herbeiführen können. Man muss aber auch sagen, so eine Retrospektive ist ja für jede einzelne Regisseurin erst einmal die Gelegenheit, ihren Film zu präsentieren.
Connie Betz: Es gab aber auch ungewöhnliche, glückliche Begegnungen. Ich habe im Kino beispielsweise eine Filmemacherin getroffen, die ich in der Vorbereitung gesucht, aber nicht gefunden hatte. Oder die Begegnung von Serap Berrakkarasu und Sibylle Schönemann. Schönemann (die durch die Bundesrepublik aus der DDR freigekauft wurde) hat im Westen einige Errungenschaften des DEFA-Studios, z. B. hinsichtlich der Dramaturgie, einführen können und hatte Serap Berrakkarasu damals bei der Recherche zu ihrem Dokumentarfilm unterstützt. Und nun war Sibylle Schönemann überrascht: „Ach, da ist tatsächlich ein Film draus geworden und nun kann ich mir den auch noch im Kino ansehen.“ Begegnungen gab es also, aber als Gruppe oder in der Gesamtheit haben sie nicht stattgefunden, dort hing es oft davon ab, inwieweit man sich schon kannte.
AK: Im 30sten Jubiläumsjahr des Mauerfalls wäre es auch denkbar gewesen, eine komplette Retrospektive dem Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten zu widmen. Es schien aber, dass die Filmreihe stattdessen auf die #metoo-Debatte und die durch sie angestoßene Diskussion über Frauen im Filmgeschäft reagieren wollte. Wie wichtig sind Jubiläen und gesellschaftliche Debatten für die Themenfindung der Retrospektive?
Rainer Rother: Manchmal ist das wichtig. Bei Deutschland 1966 war es eben 50 Jahre her, dass das sogenannte „Kahlschlagplenum“ im Osten zu einer Reihe von Verboten geführt hatte und zur selben Zeit im Westen die ersten Unterzeichner*innen des Oberhauser Manifests ihre Filme realisierten.
AK: Bei der Reihe zum Weimarer Kino im vergangenen Jahr war es ja auch ein Jubiläum.
Rainer Rother: Dieses Jahr hätten wir es viel stärker machen können, haben uns aber relativ schnell dagegen entschieden, „100 Jahre Frauenwahlrecht“ allzu sehr hervorzuheben.
Connie Betz: Aber das ist dennoch der zentralere Ausgangspunkt. Die #metoo-Debatte hat in der Planung kaum eine Rolle gespielt.
Wir haben lange über ein historisches Programm nachgedacht, das die ganze Geschichte von weiblichen Filmemacherinnen repräsentiert, d. h. auch die Anfänge in der Stummfilmzeit zum Thema macht, und dann gemerkt, das ist zu umfassend. Der Gedanke der Selbstbestimmung ist ja nicht so weit weg von dem, was die Frauen sich damals erkämpft haben. Interessant ist ja, dass es auch um die Jahrhundertwende, als die ersten Frauenbewegungen parallel zum Kino aufkamen, weibliche Filmschaffende gab, die durchaus sichtbar waren. Das ist vielleicht nicht vergleichbar mit 1968, aber vereinzelt gab es Regisseurinnen und vor allem auch Produzentinnen. Danach kommt eine ganz, ganz große Leerstelle in der deutschen Geschichte.
Rainer Rother/AK (zeitgleich): Die nur von Leni Riefenstahl gefüllt wird.
Connie Betz: Das heißt in der Zeit von den 1930er Jahren bis in die 1950er, gab es nur sehr vereinzelte Filme, an denen Frauen beteiligt waren, das finde ich erschütternd, dass es dort so gut wie keinen Raum gab für Frauen, sich in dieser Kunstform auszudrücken. Das ist mir erst im Zuge der Recherchen klar geworden, dass es ein nennenswertes Filmschaffen von Regisseurinnen erst wieder ab 1968 gibt.
Rainer Rother: Und das ist auch ein Unterschied zu anderen Ländern. Es gab ja nicht nur in Amerika Ausnahmeerscheinungen, sondern eigentlich ist Deutschland im europäischen Kontext dort fast zehn Jahre zu spät, wenn man an Polen denkt, an die Tschechoslowakei, an Ungarn, aber auch an Schweden oder Norwegen, „Ung Flukt“ ist der letzte Film der Regisseurin (Edith Carlmar), der ist von 1959.
Connie Betz: Das heißt, die haben dort nach dem Zweiten Weltkrieg immerhin eine 15 Jahre lange Schaffensphase gehabt. Solche Ausnahmeerscheinungen fehlen in Deutschland nach dem Krieg in West und Ost. Es gibt zwar in der DEFA früh Frauen, die in verschiedenen Funktionen arbeiten, aber eben nicht als Spielfilmregisseurinnen.
AK: Wie erklären Sie sich diese lange Phase des Nichtvorhandenseins weiblicher Regisseurinnen?
Rainer Rother: Die bleierne Zeit, der Titel bezieht sich für Margarethe von Trotta ja eigentlich auf die 1950er, aber auch auf die frühen 1960er Jahre. Und sicherlich ist Deutschland, sind die beiden deutschen Staaten eine Gesellschaft gewesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg versucht hat, völlig traditionell zu werden, also viel, viel traditioneller als das andere Länder sein mussten. Das war auch eine Art und Weise, sich etwas zu vergewissern, was ohnehin verloren war. Man hätte sich ja auch ganz anders aufstellen können, hätte sagen können: „Wir sind mit der Weimarer Republik gescheitert und haben den Nationalsozialismus mit großer Zustimmung begleitet, also lasst uns doch jetzt einmal etwas ganz anderes probieren“. Stattdessen geht es nahezu zurück zum Versuch, nahezu ständisch zu werden in den 1950er Jahren. Und da ist ein Frauenbild gefragt, indem man sie nicht auf dem Regiestuhl sieht. Es ist eine Form von extremem Konservativismus in den beiden deutschen Gesellschaften, aber in der DDR dann eher so, dass man sagt, das Wichtige machen dann doch die Männer.
Connie Betz: Interessant ist, dass die DEFA-Regisseurinnen vor 1968 Kinderfilme machten. Auch im Studio für Dokumentarfilm sollten Regisseurinnen wie Petra Tschörtner erst etwas über Kinder machen. Ob das eine bewusste Entscheidung war oder Zufall, wissen wir nicht. Das wäre eine interessante Frage, gerade auch bei der Erforschung der Studio-Geschichte.
AK: Sie haben ja gerade auf eine Lücke in unserem historischen Wissen aufmerksam gemacht. Und Sie sind mit der Retrospektive auch einem Bildungsauftrag unterworfen. Inwiefern versuchen Sie, durch Ihre Filmreihen ein Problembewusstsein für bestimmte Inhalte zu schaffen bzw. durch die Filmauswahl auch ein bestimmtes Geschichtsbild zu vermitteln?
Rainer Rother: Wenn die Filmreihen gut sind, können sie ein Bild der Zeit, in der die Filme entstanden sind, vermitteln. Aber ich glaube nicht, dass wir ein bestimmtes Geschichtsbild vermitteln können, weil wir abhängig sind von den Filmen, die gemacht wurden und die wir auswählen. Die haben dann möglicherweise ein eigenes Geschichtsbild, einen eigenen Blick auf die Gegenwart, die kommunizieren im besten Fall miteinander. Dies ist die Leistung der Regisseurinnen, die in dieser Zeit etwas Ähnliches gesehen haben, verwandte Themen aufgegriffen haben, insofern bin ich da ziemlich skeptisch.
AK: Das ist interessant, denn die Filmauswahl bedingt schließlich das Bild, das von einer Zeit entworfen wird, entscheidend. Und die Retrospektive hat ihren festen Platz innerhalb des Festivals und wird auch international wahrgenommen, weshalb man schon annehmen könnte, dass sie einen großen Einfluss darauf hat, wie die (deutsche) Filmgeschichte und durch sie auch die deutsche Geschichte wahrgenommen wird.
Rainer Rother: Wir versuchen, Filmgeschichte manchmal anders zu sehen, anders zu schreiben, anders zu diskutieren und sind in unserer Themenauswahl manchmal etwas verrückt oder mutig, wenn wir zum Beispiel eine Reihe zu (der sowjetischen Filmgesellschaft) Meschrabpom machen, dann sind wir nicht von Anfang an überzeugt davon, dass das ein Erfolg wird. Insofern würde ich sagen, wir versuchen, Bausteine zu einer Vervollständigung der Filmgeschichte deutlich über den Kanon hinaus zu geben und mit Fragestellungen das Publikum aufzufordern, über Filmgeschichte anders nachzudenken.
AK: Sie haben in ihrer Publikation geschrieben, dass Sie in der Vorbereitung über 200 Filme gesichtet haben. Haben „vergessene“ Filme und solche, die sich für Zuschauer*innen schwer oder gar nicht beschaffen lassen, dann einen Vorrang bei der Filmauswahl, um sie ins Bewusstsein des Publikums zurückzuholen?
Rainer Rother: Wenn uns ein Film gefällt und wir feststellen, dass ihn niemand kennt, dann wählen wir ihn natürlich lieber aus, auch weil wir denken, es ist doch dann ein Irrtum der Filmgeschichte, dass nicht ganz Viele ihn auch gut finden. Da wollen wir schon korrigieren.
Connie Betz: Ja, manches bestätigt uns sicherlich auch. Wir hätten auch (von Helma Sanders-Brahms ihren bekannteren Film) „Deutschland – Bleiche Mutter“ (1980) zeigen können, haben uns aber bewusst für einen unbekannteren Film entschieden. An manchen Stellen denke ich schon, ist es auch eine programmatische Entscheidung für das Filmerbe. Beispielsweise der Film von Cristina Perincioli „Für Frauen. Erstes Kapitel“ (1971) war in einem Zustand, in dem man ihn nicht mehr hätte vorführen können und da hat die Retrospektive dann tatsächlich auch ein etwas größeres Gewicht. Das war ein Film, der bei der Deutschen Kinemathek im Verleih ist und da haben wir Einfluss darauf, wann welcher Film digitalisiert wird. Es gibt auch Filme, die wenig Chancen hätten, in den nächsten Jahren digitalisiert zu werden, wenn man nicht sagt, dass man den Film gerne zeigen möchte und entsprechend an die Rechteinhaber*innen herantritt. Neu war für uns bei der Vorbereitung dieser Retrospektive, dass die Überlieferungssituation von Filmen aus den 1980er und 1990er Jahren oft schwieriger als bei älteren Filmen war. Gerade zwei neuere Filme aus dem Programm, „Bandits“ (Katja von Garnier, 1997) und „Malou“ (Jeanine Meerapfel, 1981) hätten wir so, wie wir sie vorgefunden haben, nicht zeigen können. Es ist jeweils nur eine ganz stark abgenutzte Kopie überliefert. Die Filme gibt es auf DVD, deswegen denken viele, sie sind doch verfügbar, aber eben nicht mehr für Kinoaufführungen.
Rainer Rother: Und da hat die Retrospektive auch tatsächlich etwas bewirkt. Ziegler Film und Olga Film haben beide in sehr kurzer Zeit eine tolle Digitalisierung bereitgestellt.
Connie Betz: Ich glaube, das hat auch bei einigen Regisseurinnen etwas in Bewegung gesetzt. Viele Regisseurinnen haben anfänglich so etwas formuliert wie: „Ich bin ja nicht Werner Herzog oder Wim Wenders. Deswegen muss man bei meinen wenigen Filmen jetzt nicht so viel Aufhebens machen.“ Das Bewusstsein dafür, dass ein Film nicht gesichert für die Zukunft ist, wenn da tatsächlich nur noch eine Filmkopie liegt, konnten wir bei einigen fördern. Viele Filmemacherinnen haben sich anlässlich der Retrospektive erstmalig mit der Überlieferung ihrer Filme auseinandergesetzt und erkannt, dass sie Teil des Filmerbes sind. Das fand ich spannend, dass viele Frauen im Unterschied zu manchen Männern ihr Werk als nicht so bedeutend ansehen, als dass sie sich um die Archivierung sorgen würden, die Filme liegen dann oft in Kellern oder auf Dachböden, selbst wenn die Filmemacherinnen kontinuierlich in ihrem Beruf gearbeitet haben.
AK: Was wünschen Sie sich diesbezüglich für die Zukunft der Retrospektive?
Connie Betz: Ich würde gern mindestens ein weiteres Programm machen, das sich mit dem Filmschaffen der Frauen beschäftigt. Das muss nicht auf ein Land konzentriert sein, muss nicht auf die Regie konzentriert sein, aber das ist schon etwas, was mir sehr wichtig wäre und ich fänd es gut, wenn das eine gewisse Regelmäßigkeit hätte. Es ist uns in diesem Jahr ja auch bei den Classics, einer Sektion, die digital restaurierte Filmklassiker zeigt, gelungen, die Frauenquote auf 30% zu heben. Eine Erkenntnis, nicht nur bei filmhistorischen Programm der Berlinale war: „Wir sind diejenigen, die dieses Programm machen und wir haben es eben auch in der Hand, Filme von Frauen zu zeigen. Man muss jetzt auch nicht ein Verhältnis von 50:50 schaffen, das kann man vielleicht für die Politik überlegen, für die Kunst ist das meiner Meinung nach nicht so sinnvoll, aber es liegt an uns allen, Arbeiten von Regisseurinnen zu berücksichtigen.
AK: Wobei ich in diesem Jahr auch sehr auffällig fand, dass die Berlinale sich in ihren Pressemeldungen sehr damit gerühmt hat, dass der Anteil der Filme von Regisseurinnen so hoch war wie noch nie, dabei aber selten Erwähnung fand, dass die Retrospektive daran einen maßgeblichen Anteil hatte. Hat Sie das nicht gestört beziehungsweise wurde da nicht eigentlich ein bisschen gemogelt?
Rainer Rother: Nein, eigentlich nicht. Wir haben ja ein sehr starkes Statement abgeliefert mit 49 von 49 Filmen, die von Frauen verantwortet wurden, und das ist auch durchaus gewürdigt worden in der Presse, und auch Monika Grütters hat es in der Eröffnungsrede erwähnt. Ich glaube, dass die Berlinale auf die Auswahl auf den aktuellen Film abhebt, das ist genau richtig, denn wir werden sicher auch irgendwann mal wieder eine Retrospektive haben, wo wir einen Frauenanteil von unter 10% haben, wenn wir uns mit bestimmten Perioden beschäftigen. Insofern sind wir jetzt mal in einer guten Position, das wird aber nicht immer so sein.
AK: Damit haben Sie nun ja schon eine unmittelbare Konsequenz für die Zukunft angesprochen und mit einem kleinen Ausblick würde ich das Gespräch auch gerne beenden. Mit dem Ende der Ära Kosslick stehen derzeit schließlich viele Umstrukturierungen ins Haus. Inwiefern wird auch die Retrospektive davon betroffen sein?
Rainer Rother: Wir haben mit Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian schon erste Gespräche geführt und da gibt es ein großes Verständnis für die Bedürfnisse der Retrospektive und auch der Berlinale Classics und der Hommage. Wir sind noch nicht zu einer endgültigen Entscheidung gekommen, was wir im nächsten Jahr machen werden, was auch damit zusammenhängt, dass die neuen Leiter*innen noch nicht offiziell im Amt sind. Die Gespräche, nicht nur mit uns, auch mit anderen Sektionen, gehen aber weiter und wir blicken da ganz positiv und optimistisch in die Zukunft.
Das Interview wurde am 27. Februar 2019 in den Räumlichkeiten der Deutschen Kinemathek geführt.