von Lutz Niethammer, Yves Müller, Dominik Rigoll

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23. Oktober 2019

Lutz Niethammer ist einer der bedeutendsten Zeithistoriker Deutschlands. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 war er Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im Jahr 1971 wurde er zum Thema Praxis der Entnazifizierung in der US-amerikanischen Besatzungszone promoviert, hatte anschließend Professuren an der Universität Essen und der FernUniversität Hagen inne. Bekannt ist Niethammer als Doyen der Oral History in der Bundesrepublik. Kontroversen löste seine Studie über „die roten Kapos“ aus.

Sein erstes Buch ist allerdings in Vergessenheit geraten, zu Unrecht. In der Studie Angepaßter Faschismus (1969)[1] befasste sich der damals noch unbekannte Lutz Niethammer mit der erst 1964 gegründeten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Seine Erkenntnisse über das Wesen des „organisierten Nationalismus“ scheinen heute wieder aktuell. Yves Müller und Dominik Rigoll sprachen mit Lutz Niethammer über das vor 50 Jahren erschienene Buch und über gegenwärtige Gefahren für die Demokratie.

 

Müller/Rigoll: 1969 stand die damals junge NPD vor dem Einzug in den Bundestag. Mit Ihrem kurz vor den Wahlen erschienenen Buch „Angepasster Faschismus“ wollten Sie dagegen halten und über die Hintergründe der rechtsradikalen Partei aufklären. Wie kam es zu dem Buchprojekt?

Niethammer: Es fehlte eine strukturalistische Studie zur NPD. Da fragte mich der damalige Cheflektor des S. Fischer Verlags, den ich durch meine journalistische Arbeit kannte, ob ich nicht ein Buch über die Hintergründe und das Agieren der Rechten schreiben wolle. Die Partei wurde ja erst 1964 als Sammlungsprojekt ins Leben gerufen. Ihre Vorläufer hatte sie in den Parteien der alten Nazis, die etwas in die Jahre gekommen waren. Sie war also eine „alte“ Partei mit einem dynamischen „jungen“ Flügel der sogenannten Flakhelfergeneration.

 

Müller/Rigoll: Wie sind Sie vorgegangen, um die NPD zu verstehen?

Niethammer: Ich habe mir einfach Landtagsprotokolle angeschaut. Das hatte davor noch niemand gemacht: Sich anzuschauen, was die gewählten NPD-Leute sagen, wenn sie in den Parlamenten sitzen. Beim Verfassungsschutz, den ich aufgesucht hatte, um nach Material zu fragen, hatte das niemand auf dem Schirm. Die dachten juristisch und wussten selbst nicht so recht, wie man diese NPD einordnen sollte. Entsprechend froh waren sie über die Arbeit des Historikers. Wichtig war für mich aber auch, dass ich nicht nur dieses Buch verfasst habe, sondern auch rumgekommen bin, um im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung über die NPD aufzuklären. Die Vorträge in den Kneipenhinterzimmern haben mich natürlich geschult. Ich war eigentlich überaus schüchtern. Das war eine wunderbare Vorbereitung für das spätere Dasein als Hochschullehrer. Von dieser Erfahrung zehre ich noch heute: Sachen auf den Punkt bringen.

 

Müller/Rigoll: Sie sprachen damals einerseits von einem „angepassten Faschismus“ und machten andererseits einen „organisierten Nationalismus“ aus. Was ist damit gemeint? Kann man nicht einfacher von Rechtsradikalismus sprechen?

Niethammer: Alle diese Begriffe sind Versuche. Angepasster Faschismus und organisierter Nationalismus betonen gleichzeitig die Herkunft aus dem Nationalsozialismus und die Distanz dazu. Sie verweisen auf die Milieus, aus denen sich die Partei generierte. Dies waren ja nicht nur die alten „Parteigenossen“, sondern eben auch diejenigen, die ich als die „Unpolitischen“ bezeichnet habe. Dies waren auch die nationalliberalen Überläufer aus der FDP. Rechtsextremismus oder Rechtsradikalismus hingegen sind polizeiliche Zuschreibungen, in denen die Eigendynamik dieser Phänomene schwerlich erkennbar wird.

 

Müller/Rigoll: Warum hat es die NPD damals nicht in den Bundestag geschafft und ist anschließend für Jahre in der Bedeutungslosigkeit versunken?

Niethammer: Die NPD kam nicht in den Bundestag, weil Politik und Medien sich dazu entschlossen hatten, sie als Reaktualisierung des Nationalsozialismus zu entlarven, wozu sie selbst ja Anlass bot. Danach überging die sozialliberale Koalition ihre Flügelkämpfe. Dabei ging verloren, dass „1968“ auch die Geburtsstunde der Nouvelle Droite war.

 

Müller/Rigoll: Wenn Sie die NPD der 1960er Jahre mit der AfD von heute vergleichen müssten, welche Parallelen würden Sie ausmachen? Welche Unterschiede zeichnen beide Parteien aus?

Niethammer: Die NPD stand noch im nationalsozialistischen Bann, von innen wie von außen, und war ein westdeutsches Ereignis. Der ideologische Zugriff der Politologie verfehlte gerade das Neue in ihr, den postfaschistischen Charakter. Die heutige Situation ist eine völlig andere, sowohl was Deutschland betrifft, als auch im globalen Kontext.

 

Müller/Rigoll: Wie hat sich die bundesdeutsche Demokratie seitdem verändert? Geht sie heute geschickter oder weniger geschickt mit den Erfolgen der AfD um als seinerzeit mit denen der NPD?

Niethammer: Heute ist es umgekehrt. Der „Populismus“ ist ein europäisches, westliches, ja globales Phänomen, das in seinen allgemeinen Regressionen in Deutschland auf das Erbe des Nationalsozialismus trifft und mit NS-Zitaten provoziert und verteufelt. Jetzt ist das Neue von ’68 das Eigentliche: die Dynamik des Protests gegen „Fortschritt“ und den Aufbruch einer überforderten Plattform – Konservativismus, deren Leitbild die Tories, und Italien und Macron und die Front National die prekäre Alternativen durchspielen, sind. „Die“ Demokratie ist dabei nicht agency, sondern Problematik.

 

Müller/Rigoll: „Bonn ist nicht Weimar“ hieß es in den 1950er Jahren auch mit Blick auf die Gefahren von rechts für die zweite deutsche Demokratie. Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker werden heute gern gefragt, ob wir heute auf „Weimarer Verhältnisse“ zusteuern. Tun wir das?

Niethammer: Weimar-Bonn-Berlin? Das ist Mediengeschwätz ohne historische Substanz. Wir leben nicht mehr in der Epoche des Faschismus. Der nationale Rückbezug ist zu eng. Wir leben hauptsächlich in ganz anderen Kristallisationen. Der Gegenschlag gegen die unglaubliche Veränderungsgeschwindigkeit des gegenwärtigen Wandels greift nationale Symbole und heimatliche Nostalgien auf, aber das Spiel findet nicht mehr in diesen Grenzen statt, auch wenn die ob ihrer Widersprüchen taumelnden Großmächte USA, China, Indien, Russland, Europa und Brasilien, auf das Nationale zurückgreifen. Die Medialität unserer Gegenwart ist wesentlich anders als in der Zwischenkriegszeit. Allerdings gibt es auch Kontinuität und Wiederholungsfaktoren. Dazu zähle ich besonders die Widersprüche des Kapitalismus, dessen sogenannter Fortschritt Zwang in den Mittelschichten (zu denen jetzt auch die inländischen Arbeiterschichten gehören) ökonomischen Pessimismus von tiefer existenzieller Schubkraft mobilisieren – Cross-national und übertemporal. Hinzu kommt die Verdrehung sozialer Konflikte ins Ethnisch-Rassistische und die Wiederkehr von Geopolitiken, die sich jetzt jedoch auch gegen Europa richten.

 

Müller/Rigoll: Nach ihrem NPD-Buch haben sie eine Pionierstudie über die Entnazifizierung vorgelegt. Warum haben Sie in den 1980er Jahren aufgehört, sich mit der Geschichte der Rechten und des Umgangs mit ihnen zu beschäftigen und haben sich stattdessen der Alltagsgeschichte zugewandt?

Niethammer: Meine Forschungen zur Entnazifizierung gingen meinem NPD-Buch voraus, wie auch meine von Hans Mommsen und Franz Neumann inspirierten Faschismus-Analysen, die ich zu Marc Bloch und Anderen ergänzte. Meine Dissertation konnte erst danach fertiggestellt werden. Meine Beschäftigung mit der NPD und das geschichtstheoretische Engagement an der Bochumer Reformuniversität musste dem vorausgehen. Dabei ging es auch bei der Entnazifizierung um die Konkretisierungsdimensionen von Erfahrung im Alltag, die bei mir in der Folge von den Eliten auf die unklaren Lagen als Problem übertragen wurden, an der Ruhr und in der DDR. Ich habe nie aufgehört, mich mit der sogenannten Rechten zu beschäftigen, aber ich habe das in anderen Zusammenhängen und Methoden getan. In den 1970er und frühen 1980er Jahren habe ich den Wandel der politischen Konstellationen in einigen Aufsätzen verfolgt und dann – in der Intellectual History – Posthistoire (1989)[2] als Fehlverarbeitung post-totalitärer Intellektueller und später Identität als „free for all“ mit dem Trend zu einem neuen Nationalismus zu analysieren versucht. Mein Ansatz zur Alltagsgeschichte war zunächst eine Öffnung zu den historisch nicht thematisierten Schichten und Zusammenhängen – einer Art sozialer Existentialismus – strebte jedoch immer auf die dynamische  und subjektiv-bezogene Dimension bedingter Erfahrung. Das fand einst im Ruhrgebiet ein überschaubares Laboratorium, hat mich aber in anderen methodischen Zugriffen und „Erfahrungs“-Territorien im Osten Deutschlands und Europas immer als eine leitende Neugier begleitet.

 

Müller/Rigoll: Welche Rolle spielte denn Ihre eigene Biographie bei der Beschäftigung mit dem Nachwirken Nationalsozialismus?

Niethammer: Tatsächlich zieht sich die Perspektive einer Ego-Histoire? (2002)[3], so der mit einem Fragezeichen versehene Titel meines autobiographischen Essays, durch meine wissenschaftliche Arbeit. Mein Vater hatte sich 1932 mit der SA eingelassen. Als selbständiger Grafiker wurde er einem „Künstler-Sturm“ zugeordnet. Zuvor hatten meine Eltern ein Grafikatelier betrieben. Auch meine Mutter brachte eine künstlerische Begabung mit, verzichtete aber auf ein Bauhaus-Studium. Ich bin Jahrgang 1939. Kennengelernt habe ich meinen Vater erst, als er 1951 aus Krieg und Gefangenschaft zurückkehrte. Vielleicht liegt in dieser Familiengeschichte auch einer der Gründe für meine Beschäftigung mit der Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Dass er in der SA war, erfuhr ich allerdings erst viel später.

 

Müller/Rigoll: In ihrem aktuellen Buchprojekt wenden sie sich wieder der Rechten in der Bundesrepublik zu. Was hat es damit auf sich?

Niethammer: Falls mir mit meinen 80 Jahren dazu noch Kraft und Zeit verbleiben, möchte ich mich in einem künftigen Projekt mit dem Namen Unsere Krise denken. Zwischen Populisten und Oligarchen, den Wandlungen in den Grunderfahrungen unserer Gesellschaften und der Erfahrung proliberaler Repräsentation und anderer Institution widmen. Dabei gehe ich nicht primär von Deutschland, sondern von Europa und der „Globalisierung“ aus. Ich sammle dazu seit geraumer Zeit Material und mache mir Gedanken zu einer neuen Sicht auf diese Wandlungsprozesse. Bisher werden aus meiner Sicht einige Konsequenzen schon sichtbar: Erstens ist die Verteufelung der Populisten als anti-demokratisch falsch und unwirksam. Die wirklichen Konfliktpunkte sind Recht, Humanität, Bildung und solche Sachen, die weniger greifbar, aber bedeutsamer sind. Noch unsinniger wäre es, wenn sich aus der Fixierung auf den Populismus eine unverdiente Heiligsprechung der repräsentativen Demokratie ergeben würde. Alle zeitgenössisch-intellektuelle Kritik läuft darauf hinaus, dass der demokratische Willensbildungsprozess durch seine Durchdringung durch die Strukturen der Verformung der Repräsentation durch die Einflußnahmen organisierter Interessen außer Kraft gesetzt wird. Der Angriff auf die „westliche“ Liberaldemokratie von innen ist also nicht völlig abwegig, weil es sich an tatsächlichen Demokratiedefiziten festmacht.

 

Müller/Rigoll: Vielen Dank für das Gespräch.


 

[1] Lutz Niethammer: Angepaßter Faschismus. Politische Praxis der NPD. Frankfurt am Main 1969.
[2] Lutz Niethammer: Posthistorie. Ist Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989.
[3] Lutz Niethammer: Ego-Histoire? Und andere Erinnerungs-Versuche, Wien 2002.