von Sarah Schulz

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23. Oktober 2019

Nationalistische und rassistische Organisationen haben in der Bundesrepublik Tradition. Das gleiche gilt für den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen. (Neo)nazistische Organisationen und die gesellschaftlichen Reaktionen darauf können folglich auch aus einer historischen Perspektive betrachtet werden. Das müssen sie sogar, nimmt man das heute so selbstverständlich scheinende „Nie wieder!“ der „wehrhaften Demokratie“ beim Wort. Denn was sollte sich eigentlich nicht mehr wiederholen: der Zweite Weltkrieg, die antisemitische Vernichtungspolitik oder die Abschaffung der Weimarer Demokratie durch die NSDAP?  

Befreit man den Imperativ des „Nie wieders“ von den geschichtspolitischen Mythen, die ihn seit jeher umranken, ist ein nüchterner Blick auf die Konjunkturen gesellschaftlicher (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewonnen. Dieser Blick bringt nicht nur mehr historische Klarheit, sondern stellt auch die Instrumente der „wehrhaften Demokratie“ auf den Prüfstand: Wer überprüft wen auf ‚Verfassungstreue’ und mit welchen Mitteln? Zum historischen Blick gehört also auch eine politikwissenschaftliche Perspektive. Denn der Schutz der bundesrepublikanischen Demokratie hängt davon ab, was oder wer als Ursache für das Scheitern der Weimarer Demokratie ausgemacht wird.

Am Beispiel des Verbots der Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Jahr 1952 soll im Folgenden die Interpretation des Aufstiegs der NSDAP durch das Bundesverfassungsgericht unter die Lupe genommen werden. Diese Interpretation wird daraufhin einer Analyse Ernst Fraenkels gegenübergestellt, die dieser zwischen 1936 und 1938 verfasst und dann im amerikanischen Exil 1941 veröffentlicht hat. Durch die Gegenüberstellung der beiden Deutungen kann exemplarisch die Gegensätzlichkeit der Auffassungen in Bezug auf das Scheitern der Weimarer Republik aufgezeigt werden, die im heutigen scheinbar konsensuellen Konzept der „wehrhaften Demokratie“ verdeckt ist.

 

Das Bundesverfassungsgericht und das SRP-Verbot von 1952

Gegründet 1949 als Abspaltung der Deutschen Konservativen Partei – Deutsche Rechtspartei (DKP-DRP), entwickelte sich die SRP zu einem Sammelbecken für ehemalige Funktionäre der NSDAP und ihrer Vorfeldorganisationen. Auch inhaltlich stand die Partei in der Tradition der NSDAP. Zu ihrer Hochphase hatte die SRP etwa 40.000 Mitglieder. Im Jahr 1951 erzielte sie bei den Landtagswahlen in Niedersachsen elf und bei den Wahlen zur Bremer Bürgerschaft sieben Prozent. Ein Treppenwitz der Geschichte ist, dass die SRP – wie die heutigen „Reichsbürger“ – nach den ersten beiden Punkten ihres Parteiprogramms die Bundesrepublik nicht als legitimen deutschen Staat anerkannte und den „deutschen Anspruch auf den Reichsraum“ in die Wirklichkeit umsetzen wollte.

Das Bundeskabinett beschloss am 4. Mai 1951, einen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einzureichen. Im November desselben Jahres beantragte die Bundesregierung das Verbot der SRP. Sie behauptete, die innere Organisation der SRP würde demokratischen Grundsätzen nicht genügen, die Partei sei eine Nachfolgeorganisation der NSDAP und wolle die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ (fdGO) abschaffen.

Das Karlsruher Gericht war am 28. September 1951 gegründet worden. Beim Verbot der SRP handelt sich es um eines der ersten Verfahren des Gerichtes. So werden in dem Verbot auch einige grundlegende Begriffe des Verfassungsrechts und der „wehrhaften Demokratie“ definiert, zum Beispiel das Konzept der fdGO.[1]

Eine Besonderheit des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, der über den Verbotsantrag zu entscheiden hatte, waren die Biographien der Richter*innen, die weniger NS-belastet waren als in der übrigen bundesrepublikanischen Justiz. So waren die persönlichen Lebensgeschichten einiger Richter*innen von Verfolgungserfahrung geprägt.[2] Das heißt allerdings nicht, dass die Richter*innenschaft gänzlich aus Oppositionellen bestand oder dass die ehemalige NS-Funktionselite keinen Einfluss im Senat gehabt hätte. Doch im Gegensatz zum Bundesjustizministerium oder Bundesgerichtshof sind hier unterschiedliche Lebensgeschichten präsent. Wahrscheinlich deshalb kommt es im SRP-Urteil überhaupt zur Erwähnung der „Massenausrottung jüdischer Mitmenschen“ im Dritten Reich. In vielen anderen juristischen Quellen der damaligen Zeit wird zur antisemitischen Vernichtungspolitik hingegen geschwiegen.

Das Parteiverbot ist ein Instrument der „wehrhaften Demokratie“. Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes normiert, dass Parteien, „die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen [...] verfassungswidrig“ sind. Der Absatz 1 des Artikels legt fest, dass die parteiliche „innere Ordnung [...] demokratischen Grundsätzen“ entsprechen muss. Aufgrund ihrer herausragenden Rolle im politischen Prozess können Parteien aber nicht durch die Innenministerien des Bundes und der Länder verboten werden, wie zum Beispiel Vereine. Ein Parteiverbot darf nur das Bundesverfassungsgericht aussprechen. Der Erste Senat des Gerichts befand, dass sich die SRP an „Führerprinzip“ und „Organisationsbild der NSDAP“ anlehne und die Partei danach trachte, beides auf die Staatsorganisation zu übertragen. Mit dieser Begründung verbot das Bundesverfassungsgericht die SRP am 23. Oktober 1952.

 

Die NSDAP: Eine „unreife Jugend“ mit „echten patriotischen Gefühlen“...

Vor diesem Hintergrund ist eine Passage im SRP-Urteil von Interesse, in der das Gericht über die Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik befindet. Dieser Abschnitt ist Teil der Begründung des Verbots und zeigt wie historische Deutungen Weimars als Hintergrundfolie für das politische Geschehen der 1950er Jahre dienten. Das Gericht legte hier eine erste Analyse des Aufstiegs der NSDAP vor – zu einer Zeit, in der die zeithistorische Auseinandersetzung damit in der Bundesrepublik noch nicht begonnen hatte.

Über die „Rechtsparteien“ schreibt das Gericht, diese hätten sich in der neuen, liberalen Republik in die Opposition gedrängt gefühlt, nachdem sie in der konstitutionellen Monarchie vor Ende des Ersten Weltkriegs noch „staatstragend“ gewesen seien. In ihnen hätten sich „junge Menschen“ und Freikorpskämpfer gesammelt, die in „nationalen Taten“ ihrer „Stimmung Luft“ gemacht hätten. Die „romantische[n] Gefühle“ der „unreife[n] Jugend“ hätten aber erst unter „männlicher“, „straffer Führung“ zu einer geordneten Struktur gefunden. Durch die „Mißleitung echter patriotischer Gefühle“ mittels moderner Techniken der „Massenbeeinflussung“ seien die „jüngeren Anhänger“ und „entwurzelte[n] Existenzen“ „vagen Versprechungen“ anheim gefallen. „[P]lanmäßig“ und mit „formell demokratischen Mitteln“ habe sich 1933 schließlich die „Machtergreifung“ der NSDAP, der sich die „übrigen rechtsstehenden Kreise“ anschlossen vollzogen. Personen mit „verbrecherischen Neigungen“ seien in wichtige staatliche Positionen gelangt. Darauf aufbauend stellt das Gericht fest, dass politische Machtkämpfe in modernen Staaten nicht mehr mit offener Gewalt, sondern mit „schleichenden Mitteln innerer Zersetzung“ geführt werden.

Der Aufstieg der NSDAP erscheint im SRP-Verbotsurteil als ein Problem fehlgeleiteter Jugendlicher und entwurzelter Soldaten die von einer geschickten Propaganda manipuliert worden seien. Einleitend zu dieser Passage erwähnt das BVerfG zwar die rechtsnationale und konservative Frontstellung gegen die liberale Republik. Doch die politischen Konfliktlinien und Kräfteverhältnisse bleiben seltsam unbenannt: Schließlich taucht der durch die NSDAP „seiner Freiheit beraubte [...] Staatsbürger“ in der Argumentation des Gerichts auf, und der Staat liege in „Krieg und Zusammenbruch“ darnieder, ohne dass die Rolle dieses abstrakten Staatsbürgers in dem vorherigen Prozess beleuchtet wird. Was hat der Staatsbürger vor der „Machtergreifung“ mit seiner Freiheit gemacht? Wo war er, welche politische und soziale Position hatte er in dem Staat, der noch nicht zusammengebrochen war? Und was kennzeichnete eigentlich diesen ‚Staat’?

Zu den Leerstellen dieser verfassungsgerichtlichen Darstellung gab es schon in den Jahren vor dem SRP-Verbotsurteil rechts- und politikwissenschaftliche Analysen von jüdischen Exilant*innen, die aber in der Bundesrepublik des Kalten Krieges nicht rezipiert wurden. Zu nennen sind hier neben anderen der „Behemoth“ von Franz L. Neumann (1942/44), „Bréviaire de la haine“ von Léon Poliakov (1951) und nicht zuletzt „Der Doppelstaat“ von Ernst Fraenkel (1940).

 

...oder ein „hypernationalistischer Spießerverein“ im Bund mit der Bürokratie?

In seinem Buch „Der Doppelstaat. Recht und Justiz im ‚Dritten Reich’“ analysierte Fraenkel, wie der „nationalsozialistische Staatsstreich“[3] auf Basis der Reichstagsbrandverordnung funktionierte und wie sich ab 1933 in Deutschland zwei verschiedene, aber miteinander verflochtene Sphären von Staatlichkeit etablierten: Der an Gesetzen orientierte „Normenstaat“ auf der einen und der mit polizeilicher Logik funktionierende „Maßnahmestaat“ auf der anderen Seite, wobei letzterer in politischen Belangen Zugriff auf den ersteren hatte.

Fraenkel war Rechtsanwalt in der Weimarer Republik gewesen und hatte seine Arbeit am „Doppelstaat“ 1936 begonnen. Im Jahr 1938 flüchtete er in die USA. Er war Jude und bekannter Sozialdemokrat. Da er freiwillig am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte,  konnte er seine Anwaltstätigkeit zunächst auch im Dritten Reich ausüben – allerdings unter „demütigenden Umständen“, wie sein Biograf Alexander von Brünneck betont.[4] Während seiner heimlichen Arbeit am „Doppelstaat“ hatte Fraenkel also Zugang zu juristischen Quellen und schrieb in unmittelbarer Anschauung des NS-Regimes. Das Manuskript wurde 1938 in Diplomatengepäck aus Deutschland geschmuggelt. Die Entstehung des Werkes zeigt, dass alle Deutschen – insbesondere juristisch tätige – Zugang zu Quellen hatten und die Errichtung des NS-Regimes im Land selbst analysieren konnten.

Den organisatorischen Ursprung der NSDAP sah Ernst Fraenkel in einem „hypernationalistischen Spießerverein“[5], der gegründet worden war, um die Arbeiterschaft für die Parteien des nationalen Lagers zu gewinnen. Davon abgesehen erklärte er den Aufstieg der NSDAP und die Funktionsweise des NS-Regimes aus (rechts-)historischer und sozialstruktureller Perspektive. Die „Wurzeln des Übels“[6] lagen für Fraenkel in der Verbindung von „romantischem Gemeinschaftsdenken und militantem Kapitalismus“.[7] Die preußisch-deutsche Verfassungsgeschichte kenne auch die staatliche Doppelstruktur. Der Funktionsmechanismus des NS-Staates war für Fraenkel keine wirkliche Neuheit. Vielmehr machte er die „Polizeiallmacht der absolutistischen Bürokratie“[8] schon im Preußen des 18. Jahrhunderts aus.

Auch in der Weimarer Republik sei die „Vitalität der feudalistisch-bürokratischen Kaste“[9] ein Gegenpol aller rechtsstaatlich garantierter Freiheiten gewesen. Sollte das Bundesverfassungsgericht mehr als ein Jahrzehnt nach dem „Doppelstaat“ nur abstrakt von der „inneren Zersetzung“ sprechen, in der die NSDAP habe gedeihen können, nannte Fraenkel die gegenrevolutionären Kräfte beim Namen, die der Weimarer Demokratie von Beginn an zugesetzt hatten: Bürokratie, Monarchisten, Großbürgertum, Großindustrie, Militär – und nicht zuletzt eine Justiz, deren Rechtsprechung in der Republik nicht angekommen war, weder mit Blick auf die Abwehr der Rechten[10], noch in Sachen rechtsstaatlicher Kontrolle der Exekutive.[11]

 

Fazit: Neujustierung der „wehrhaften Demokratie“

In erzählten Geschichten werden diese Ereignisse betont und jene vernachlässigt oder gänzlich anders dargestellt. Mit Blick auf die Institutionalisierung der „wehrhaften“ Demokratie haben diese unterschiedlichen Erzählungen politische Konsequenzen: Geht die größte Gefahr für die Demokratie von orientierungslosen Jugendlichen aus oder von einer Exekutive, die den Rechtsstaat als Hemmnis ihres Ermessensspielraumes begreift?

Erscheint die Geschichtsdeutung des Bundesverfassungsgerichts zwar im Vergleich zu den verharmlosenden und verherrlichenden Darstellungen, die in der frühen Bundesrepublik sonst über den Nationalsozialismus kursierten, noch vergleichsweise vielschichtig, so sind jedoch die strukturellen Ursachen und die Rolle der staatlichen Akteur*innen nicht einmal schemenhaft umrissen. Die Werke von Fraenkel oder Neumann zeigen, dass Bürokratie, Justiz, Militär und Industrie zum Niedergang der Weimarer Republik sowie zur Errichtung des Dritten Reiches einen entscheidenden Beitrag geleistet haben.

Nun ist das verfassungsgerichtliche Parteiverbot das ‚schärfste Schwert’ der „wehrhaften Demokratie“. Eine Geschichtserzählung in diesem Kontext ist machtvoll, da sie eine Richtschnur für den Fokus auf die ‚Feinde’ der Demokratie bildet. Nach solchen Erzählungen werden die Instrumente der „wehrhaften Demokratie“ justiert. Wenn Bürokratie, Justiz, Militär und Industrie unter dem Radar tauchen, können ihre Rechtsstaat und Demokratie bedrohenden Entwicklungen nicht aufgezeichnet werden. Ist die Exekutive gar „Frühwarnsystem“ der Demokratie, wird der Bock zum Gärtner.

Aufgabe der Wissenschaft ist es hierbei, die vielschichtigen Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus herauszuarbeiten. In interdisziplinärer Perspektive können Zeitgeschichte und Politikwissenschaft die Transformation der liberalen Demokratie zum NS-Regime analysieren und daraufhin auch die Institutionen der „wehrhaften Demokratie“ der Bundesrepublik hinterfragen.

 


[1] Vgl. Oliver Lembcke: Das Bundesverfassungsgericht und die Regierung Adenauer - vom Streit um den Status zur Anerkennung der Autorität, in: Robert van Ooyen, Martin H. W. Möllers (Hg.): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System der BRD, Wiesbaden 2006.

[2] Vgl. Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013, 116; Sarah Schulz: Die freiheitlich demokratische Grundordnung: Ergebnis und Folgen eines historisch-politischen Prozesses, Weilerswist 2019, 207.

[3] Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“ [1941], Frankfurt a. M. 1984, 33.

[4] Alexander von Brünneck (Hg.): Ernst Fraenkel. Gesammelte Schriften, Bd. Nationalsozialismus und Widerstand. Bd. 2, Baden-Baden 1999, 9.

[5] Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“ [1941], 202.

[6] Ebd., 184.

[7] Ebd.

[8] Ebd., 195.

[9] Ebd., 199.

[10] Vgl. Schulz: fdGO, 91ff.

[11] Vgl. Ernst Fraenkel: Zur Soziologie der Klassenjustiz [1927], in: Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931-32, Darmstadt 1968, 1–41; Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“ [1941], 33, 69.