von Katja Anders, Robert Mueller-Stahl, Juliane Röleke

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27. April 2020

Vor 75 Jahren, am 27. April 1945, rückten sowjetische Truppen ins Herz von Berlin-Kreuzberg vor. In einem Bunker in der Nähe des U-Bahnhofs Kottbusser Tor entdeckte ein Soldat der Roten Armee eine junge Familie, die dort seit fünf Tagen fast völlig ohne Essen und Wasser ausharrte. Ihre beiden Kinder Peter-Uri (2 Jahre) und Michael (6 Monate) hatte Leonie Frankenstein (23 Jahre) auf das obere Hochbett in dem engen Raum gelegt, sie selbst saß unten und achtete auf sie. Ihr Ehemann Walter (20 Jahre) hielt sich hinter den Kindern und einer Strohmatratze versteckt – er war als Mann im wehrfähigen Alter, der offensichtlich nicht kämpfte, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs besonders gefährdet, als Deserteur verhaftet zu werden. An den Moment, als sich die Bunkertür öffnete, und an die ersten Stunden danach erinnert er sich bis heute:

 

 

Mehr als sieben Jahrzehnte später, im Herbst 2018, entstanden diese Tonaufnahmen. Walter Frankenstein saß auf dem Sofa eines Zimmers im Hotel Savoy in der Charlottenburger Fasanenstraße in Berlin. Mitten in den Aufnahmen klingelte der Zimmerservice, erkundigte sich nach dem Wohlergehen, brachte Kaffee und Kekse für alle. Früher übernachteten hier Thomas Mann, Greta Garbo und viele andere, heute ist Walter Frankenstein allen im Hause bekannt. Seit 1972 übernachtet er bei jedem Besuch in diesem Zimmer - es ist sein Zuhause in der Stadt, wie er sagt. Dass er sich in der Umgebung wohl fühlte, war dem 94-Jährigen deutlich anzumerken, als er an jenem Herbstnachmittag rund vier Stunden lang von seinem Leben berichtete.

Walter Frankenstein vor der Gedenktafel zum Auberbach’schen Waisenhaus; Fotograf: Risto Hurskainen.

Frankenstein gehört zu den etwa 1.700 Menschen, die das nationalsozialistische Regime im Berliner Untergrund überlebten.[1] Er war als jugendlicher Halbwaise in die Stadt gekommen, hatte im Auerbach’schen Waisenhaus im Prenzlauer Berg gelebt und dort Leonie Rosner kennengelernt, die er 1942 noch angesichts der drohenden Deportation heiratete. Im März 1943 tauchten beide mit ihrem gerade geborenen Sohn Peter-Uri unter, Michael wurde in der Illegalität geboren. Unter den sogenannten U-Booten Berlins, denjenigen Überlebenden der Shoah, die untergetaucht waren, war das junge Paar mit seinen beiden Söhnen die einzige Familie, in der alle Familienmitglieder das Kriegsende erlebten.

Die Erzählungen von Walter Frankenstein zeigen, dass das Kriegsende keinesfalls ein schlagartiges Ende der Verfolgung und den Beginn einer neuen, „befreiten“ gesellschaftlichen Ordnung markierte. Vielmehr war besonders die Endphase des Krieges seit Frühjahr 1945 und die unmittelbare Nachkriegszeit geprägt von ständigen Umbrüchen, Auflösungen und Neuorientierungen, in denen die Familie Frankenstein mit sich häufig verändernden Fremd- und Selbstwahrnehmungen konfrontiert war. Die Erinnerungen von Walter Frankenstein ermöglichen es zum einen, sich der besonderen Situation anzunähern, in der sie als Verfolgte, die es eigentlich nicht mehr hätte geben sollen, nach zwei Jahren wieder „auftauchten“. Die Aufnahmen aus dem Berliner Hotelzimmer zeigen zugleich, wie das Erzählen selbst, eine Einordnung und Reflektion des Erfahrenen bedeuten kann und dabei doch regelmäßig die Grenzen der Vermittelbarkeit des Erlebten, vor allem aus der Zeit im Untergrund, erkennbar werden. 

 

 

Insgesamt lebten bis zu 6.500 in der Shoah Verfolgte im Berliner Untergrund[2] – die meisten hielten sich wie Walter Frankenstein „in aller Öffentlichkeit versteckt“[3]: Sie wechselten die Unterkünfte, arbeiteten, lebten zeitweise auf der Straße, gingen ins Kino oder ins Konzert, um sich aufzuwärmen und auszuruhen. Ihre Situation war geprägt von der ständigen Bedrohung, entdeckt zu werden, und vom Angewiesensein auf Unterstützungsnetzwerke, die oft aus dutzenden Personen bestanden. Immer wieder gab es Momente akuter Gefahr, in denen es auf blitzschnelles Entscheidungen ankam, auf das glaubhafte Vortäuschen einer nicht-jüdischen Identität, wie es in Walter Frankensteins Begegnung mit den Gestapo-Männern deutlich wird. Leonie Frankenstein lebte den Großteil der Zeit außerhalb von Berlin, bei Verwandten in Leipzig und unter falscher Identität auf einem Bauernhof. Sie trug die Hauptverantwortung für zwei kleine Kinder. Wenngleich ihre Erfahrungen dieser Zeit an vielen Stellen von der ihres Ehemannes abwichen, war das Handeln beider von einem unbedingten Drang zu Selbstbestimmung geprägt: „Nicht mit uns!“ hatten sie sich im Oktober 1941 bei der Deportation eines Cousins von Walter Frankenstein geschworen.[4] Das Leben im Untergrund unterschied sich für Frankenstein, wie er hervorhebt, vor allem in dieser Selbstbestimmung von jener Erfahrung, der Verfolgte in nationalsozialistischen Zwangslagern ausgesetzt waren.

 

 

Aus den Erzählungen wird einerseits deutlich, wie sehr das Leben in der Illegalität von permanenter Mobilität geprägt war, von ständig wechselnden Lebensbedingungen, von der Bedeutung eines „festen Ortes“ in der Haltlosigkeit. Es verdeutlicht jedoch auch den Kontrast zwischen der Lebenswirklichkeit von Walter Frankenstein und derjenigen einer Mehrheitsgesellschaft, die sich über die Komik eines falsch eingelegten Filmes amüsierte, der den Verursacher das Leben hätte kosten können.

In diese Gesellschaft kehrte die Familie Frankenstein mit ihrer Befreiung im April 1945 schlagartig zurück. Nach einigen Stunden in der sowjetischen Kommandantur am Kottbusser Tor wurden die vier aus dem Gebiet des Frontverlaufs nach Pankow gebracht, wo sie in einer alten Schule übernachteten – im Innenhof feuerte eine Katjuscha weiterhin Geschosse ab, bis zur endgültigen Kapitulation der Reichshauptstadt sollten noch tagelange Kämpfe folgen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Landsberg an der Warthe, wohin sie in den Wirren des Kriegsendes von einem sowjetischen Militärangehörigen geschickt wurden, kehrte die Familie in den Tagen der Kapitulation der deutschen Wehrmacht in das befreite Berlin zurück.

 

 

In dem Bild der SA-Uniform und der Pistole verdichtet Walter Frankenstein in seiner Erzählung eindrücklich, wie sich mit der Befreiung das Koordinatensystem für sein Handeln schlagartig änderte. Während der Jahre im Untergrund musste er seine jüdische Herkunft vor Trägern einer solchen Uniform unter Lebensgefahr verbergen. Nun ging mit dem Besitz ebendieser Uniform die Gefahr einher, von den Befreiern selbst als vermeintlicher SA-Angehöriger interniert zu werden. Dagegen garantierte die Anerkennung als NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit Schutz und den Zugang zu lebenswichtiger Versorgung, zu Unterkunft und Nahrung.

 

 

Mit dem Ende der Verfolgung ging keinesfalls auch ein Ende der antisemitischen Anfeindungen durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft einher. Bis zur Begegnung mit den ersten sowjetischen Soldaten mussten Walter und Leonie Frankenstein alle Kraft darauf verwenden, als Teil der "deutschen Volksgemeinschaft" wahrgenommen und anerkannt zu werden. Sie hatten zu verbergen versucht, dass sie längst aus ihr ausgeschlossen und zur Ermordung bestimmt worden waren. Mit der Befreiung konnten sie sich wieder als sie selbst zu erkennen geben und sich nun auch offen gegen den Antisemitismus wehren.

Die Erfahrung, dass die Deutschen nach Kriegsende mehrheitlich an ihren antisemitischen Überzeugungen festhielten, bestärkte bei Walter und Leonie Frankenstein das Bedürfnis, sich von denjenigen sichtbar abzugrenzen, unter denen sie jahrelang gelebt hatten. Sie wollten kein Teil dieser deutschen Gesellschaft mehr sein oder werden. Durch die Distanzierung gewannen sie getreu ihrem Lebensmotto „Nicht mit uns!“ ein Selbstbewusstsein, dass ihnen als Überlebende die Möglichkeit gab, für ihre Rechte einzustehen.

Der Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft war mit der Befreiung nicht mehr rückgängig zu machen. Wie viele Überlebende konnte auch Walter Frankenstein nicht einfach an sein altes Leben vor der Verfolgungserfahrung anknüpfen, sondern musste ein neues Selbstverständnis entwickeln und neue soziale Bezugspunkte finden. In Greifenberg, einem Teil des Displaced Persons-Camps in Landsberg am Lech, begegnete er Menschen, an deren Leben und Erfahrung er anschließen konnte.

 

 

Zwar unterschieden sich die Erlebnisse vieler Überlebender aus den nationalsozialistischen Lagern von denen Walter Frankensteins erheblich, auch waren sie als osteuropäische Jüd*innen zum Teil anders sozialisiert. Und doch verband ihn mit diesen Menschen die Erfahrung, die nationalsozialistische Verfolgung überlebt zu haben. In den Menschen, die sich im Kibbuz Greifenberg auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiteten, fand er eine Gruppe, zu der er dazugehören konnte. Der Sprache als Kennzeichen und Ausdruck kultureller Zugehörigkeit kam hierbei eine besondere Bedeutung zu. Das Jiddische gehörte auch als Teil eines jüdischen Selbstverständnisses zu den verbindenden Elementen dieser durch das Kriegsende unfreiwillig entstandenen Gemeinschaft. Walter Frankenstein erlernte die jiddische Sprache, um in diesem ihm neuen „Milieu“, wie er es nennt, von den Kibbuz-Mitgliedern als einer der ihren anerkannt zu werden.

Zugleich konnte er als einer der wenigen mit einem deutschen Hintergrund in Greifenberg für die anderen die Kommunikation mit der deutschsprachigen Umgebung übernehmen. Darüber hinaus versuchte er, vor allem den jugendlichen Überlebenden der Lager einen Teil seiner Verfolgungserfahrung weiterzugeben: das Selbstbewusstsein und die Handlungsmacht, die ihn selbst durch seine Zeit im Untergrund getragen hatten. Es rührte aus dem Gefühl, selbst über das eigene Leben bestimmen zu können.

Porträt Walter Frankenstein während seiner Zeit im Kibbuz Greifenberg, Greifenberg ca. Dezember 1945 - Mai 1946. Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2010/164/10/006. Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein.

Die Familie Frankenstein war sich sicher, dass ihre Zukunft nur außerhalb Deutschlands liegen konnte - in Palästina, wo die wenigen überlebenden Verwandten wohnten und wo sich die Frankensteins am Aufbau einer neuen Gesellschaft beteiligen wollten.

 

 

Der Weg zu seinen Brüdern, aber auch zu einem Wiedersehen mit seiner Frau Leonie und den beiden Söhnen in Palästina, dauerte für Walter Frankenstein viel länger als geplant. Fast anderthalb Jahre war er von ihnen getrennt.

Familie Frankenstein auf der Allenby Street in Tel Aviv, Herbst 1949. Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2011/139/7/001. Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein.

Erst zweieinhalb Jahre nach der Begegnung mit dem sowjetischen Soldaten in Berlin-Kreuzberg konnte sich die Familie ein Leben an einem gemeinsamen Ort aufbauen – in fragiler Sicherheit, wurde Walter Frankenstein doch bereits 1948 vom israelischen Militär zum Kampf im Unabhängigkeitskrieg eingezogen. Mitte der 1950er Jahre zog die Familie schließlich nach Schweden, wo Leonie Frankenstein 2009 in Stockholm nach 68 gemeinsamen Jahren starb. Walter Frankenstein sowie seine Söhne Michael und Peter-Uri leben bis heute dort.

 

 


[1] Vgl. Lutjens, Richard N.: Submerged on the Surface. The Not-So-Hidden Jews of Nazi Berlin, 1941–1945.  New York 2019, S.26.

[2] Vgl. ebd. S.212.

[3] Ders., Vom Untertauchen: „U-Boote“ und der Berliner Alltag 1941–1945, In: Andrea Löw u.a. (Hrsg.): Alltag im Holocaust, Berlin/Boston 2015, S.49-64, hier S.50.

[4] So auch der Titel der empfehlenswerten Biografie von Klaus Hillenbrand, Nicht mit uns. Das Leben von Leonie und Walter Frankenstein. Frankfurt/Main, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2008.