Hg. von Annette Schuhmann

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22. Dezember 2021

Das Phänomen der Zeitschleife ist ein beliebtes Motiv im Film, und ähnelt dem, was wir gerade erleben. Als ich mich daran machte dieses Editorial zu schreiben, und zuvor jenes des Jahres 2020 noch einmal las, hatte ich das Gefühl, ich befände mich in einer solchen. Nur sind die Zeitschleifen der Gegenwart leider vollkommen unsexy, verglichen mit den großen Abenteuern etwa der Teenager im achtziger Jahre-Look in „Stranger Things“.
Es gab Kolleg*innen, die mir rieten, den Text von 2020 einfach noch einmal zu verwenden für dieses Jahresende, es würde ohnehin niemand merken.  
Ich hoffe nicht.

Im Editorial des letzten Jahres zitierte ich Heribert Prantls Aufforderung, Hoffnungslosigkeit als luxuriöse Extravaganz zu betrachten, die wir uns nicht würden leisten können. Im Titel kam der Begriff des „Ausnahmejahres“ vor. Von heute aus betrachtet, war das ein Irrtum. Oder aber, jedes Jahr ist ein Ausnahmejahr. Historiker*innen hätten sicher einige Argumente dafür zu bieten. Nicht zuletzt scheint die Konjunktur der Monographien mit Einjahresthemen die These von der Existenz zumindest einer ganzen Reihe Ausnahmejahre zu bestätigen.

Wir können den Ball aber auch ein wenig flacher halten, was angesichts der allgemeinen Ermüdungserscheinungen angebracht scheint: Das Jahresende könnte als eine Zeit der (Zwangs-)Entschleunigung wahrgenommen werden, eine Zeit, die uns habituell still stellt, ob mit oder ohne Pandemie. Eine Zeit, die uns die Möglichkeit gibt, neben dem habituellen Stillstand vielleicht auch das „digitale Rasen“, ein wenig zumindest, zu verlangsamen. Das würde Gelegenheit bieten, vieles zu überdenken, manches davon wird schmerzen, anderes unsere Privilegien deutlicher aufscheinen und das Klagen leiser werden lassen. Und ehe es an dieser Stelle böse Zuschriften gibt: Mit „wir“ sind all jene gemeint, die es warm und genügend von allem haben und deren Berufsanforderung darin besteht, Bücher zu lesen und zu schreiben, vor allem aber sind jene gemeint, die das Privileg und die Freiheit haben, eine Entscheidung überhaupt treffen zu können.

Für David Foster Wallace lag die Freiheit, die Bildung verursachen kann, darin, sich selbst zu erziehen, zu entscheiden, was Sinn macht und was nicht, was wir glauben und was nicht. Natürlich gibt es verschiedene Formen der Freiheit. Die wirklich wichtige Freiheit erfordere Aufmerksamkeit und Offenheit, Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen…so der große Autor David Foster Wallace* im Jahr 2005 in einer Rede vor dem Abschlussjahrgang des Kenyon College der freien Künste in Ohio.

Wir haben die Kolleg*innen unserer Abteilung gebeten, uns für die Phase der Entschleunigung ein paar Tipps zu geben: Orte, Filme, Bücher, Musik und Podcasts, die zu hören, zu lesen und nachzuspazieren, wir uns nur noch entscheiden müssen, vor allem aber entscheiden können.

Wir wünschen unseren Leser*innen ein ruhiges Weihnachtsfest, viel freien Himmel über den Köpfen, weite Entfernungen zur Tastatur und ein gutes Ankommen im Neuen Jahr, bei gleichzeitigem Verlassen der Zeitschleife!

Annette Schuhmann
(+Alina Casanova und Alina Müller)

*David Foster Wallace, Das hier ist Wasser/This is Water, Köln 2012.

 

 

Orte

 

Zwei Dinge habe ich neu entdeckt, genauer gesagt, zwei Kolonien:

1. Die Schwalben-Kolonie am Griebnitzsee: Nicht erst seit der Pandemie haben sich die Tiere die Großstadt zurückerobert; am S-Bahnhof Griebnitzsee sind die Schwalben in der Eingangshalle seit über 20 Jahren zu Gast. Zwischen April und September bevölkern sie die Gemäuer und fliegen pfeilschnell über die Köpfe der rastlosen Besucher hinweg. Für sie ist der Bahnhof alles andere als ein "Nicht-Ort" (Marc Augé). Sie brüten hier und haben so, auch dank Unterstützung des NABU, in der hohen Vorhalle ihre sommerliche Heimstätte gefunden. Mit dem Ende des Sommers ziehen sie dann in den Süden.

2. Die Obstbaukolonie in Oranienburg: Vor den Toren der Stadt, in Oranienburg, liegen die Gärten Edens. Eden ist eine Siedlungskolonie, die, im Jahr 1893 in Berlin als vegetarische Obstbaukolonie gegründet, bis heute zu besichtigen ist. In Eden verbanden sich Lebensreform, Ernährungsreform und Bodenreform. Im 20. Jahrhundert hatte die Kolonie eine durchaus bewegte Geschichte. Ein bisschen weht dabei auch heute noch der Geist der ersten Jahre über der Kolonie, wiewohl sich inzwischen das meiste verändert hat. Eine Reise ist die Kolonie aber allemal wert: Es gibt eine Ausstellung zur Geschichte der Siedlung und sogar ein kleines Archiv. Mit etwas Glück kann man im Café des Kulturvereins sonntags aber auch einfach einen Vollkorn-Obstkuchen essen und einen Edener Apfelsaft trinken.

Michael Homberg 

 

Das vergessene Archiv
Ich habe ein vergessenes Archiv entdeckt. Es befindet sich auf dem Telegrafenberg in Potsdam, wo auch der Einsteinturm steht und das Teleskop, der Große Refraktor, von 1899. „Mein“ Archiv ist dagegen eher klein und unscheinbar. Unterhalb des imposanten Hauptgebäudes des Instituts für Klimafolgenforschung liegt es versteckt in einer Bodensenke und ist von Bäumen umwachsen. Die Bezeichnung „Archiv“ prangt über der schmalen Holztür, aber es scheint verlassen zu sein. Welche Akten mögen wohl noch darin liegen oder nutzen es inzwischen nur noch Vögel und Mäuse? Für mich ist es ein Ort, der zwischen den Zeiten liegt (fast wie das Harry Potter’sche Gleis 9 ¾) und mir gleichsam als ein Sinnbild unserer Profession erscheint: irgendwas zwischen großer Bedeutung und Mäusen.

Christine Bartlitz

 

Die Düne im Wedding

Die Düne liegt angrenzend an den Volkspark Rehberge und ist ein Zeugnis der letzten Eiszeit. Sie ist die einzig erhaltene innerstädtische Binnendüne Deutschlands. Zugegeben, auf der Düne selbst war ich bisher noch nicht. Aber irgendwie lässt sie mich nicht los, seitdem ich in einem Buchladen das Heft „Düne Wedding“ der Reihe „berliner hefte zu geschichte und gegenwart der stadt“ in der Hand hielt. Bis dahin war ich davon überzeugt, dass ich mittlerweile in meiner Umgebung (vor allem durch Lockdown-Spaziergänge) so ziemlich alles Kuriose entdeckt hätte.

Die Düne überzeugte mich vom Gegenteil und führte mir wieder einmal vor Augen, was eigentlich auf der Hand liegt: In Berlin (wie auch andernorts) gibt es immer etwas Neues zu entdecken, vor allem wenn man tiefer in die Geschichte der Orte eintaucht. Die Düne und die angrenzenden Rehberge sind beispielsweise Zeugen der Geschichte von Carl Hagenbeck und seinen Plänen, motiviert durch den deutschen Kolonialismus, auf dem Gelände in den 1920er Jahren einen „Zukunfts-Tierpark“ einzurichten, um Tiere und Menschen zu Unterhaltungszwecken auszustellen. Mitten im Wedding. Da das Dünenareal unter Naturschutz steht und auf dem Gelände des Schul-Umwelt-Zentrums liegt, ist die Düne leider nur bei öffentlichen Führungen zugänglich. So lange nehme ich mit meiner Broschüre zur Düne vorlieb. Nicht nur dieses Heft der Reihe ist wärmstens zu empfehlen.

Alina Müller

 

Filme

 

Pariser Nacht, Hommage an Georg Stefan Troller

Ich bin ein großer Fan von Georg Stefan Troller, der ein herausragender Reporter des frühen bundesdeutschen Fernsehens war. Letzte Woche hat er seinen 100. Geburtstag gefeiert (unglaublich, aber wahr), und mehrere Sender haben das zum Anlass genommen, Sendungen zu produzieren, die ihn und seine Arbeiten würdigen. Nicht alles finde ich gelungen, aber spannend fand ich eine Produktion des WDR, für den er in den 60ern das "Pariser Journal" gemacht hat. Das sind einfach Highlights aus seinen Sendungen kombiniert mit einem alten Interview mit Heinrich Breloer. Laufzeit insgesamt fast vier Stunden    aber man muss ja nicht alles gucken. Man bekommt einen guten Einblick in Trollers Methode, der ganz anders mit den Menschen umgeht, als man das sonst vom TV-Journalismus in dieser Zeit kennt. Einerseits eher literarisch als publizistisch, andererseits aber vor allem neugierig auf die Menschen und ihr Leben. 

Christoph Classen

 

Amos Oz: Das vierte Fenster. Ein Porträt

Der 1939 geborene Amos Oz ist einer der meistgelesenen Autoren Israels, seine Werke wurden in 36 Sprachen übersetzt, mit Ausnahme des Nobelpreises erhielt er alle nur vorstellbaren Literaturpreise dieser Welt. Die Figuren in seinen Romanen schillern, egal wie banal und langweilig ihnen ihr eigner Alltag erscheinen mag. Selten habe ich Einsamkeit so allumfassend, Kälte so schneidend und Herkunftsgeschichten so unerbittlich prägend nachempfinden können wie in den Werken dieses Autors. Die Biographie Oz’ ist eng verwoben mit der Zeitgeschichte Israels, er hat kaum eine Gelegenheit verstreichen lassen sich einzumischen in die Politik des Landes. In der ARTE-Mediathek findet sich eine beeindruckende Dokumentation die Yair Qedar kurz vor dem Tod des Autors gedreht hat.

Annette Schuhmann

 

Bücher

 

Aldous Huxley, Brave New World

Das Buch, das ich 2021 für mich entdeckt habe, ist 'Brave New World' von Aldous Huxley  –  ein Klassiker also, der wohl für die meisten keine Neuentdeckung ist. Ich habe mich aber in diesem Jahr an einer Lesechallenge probiert (pro Monat ein Buch) und die Aufgabe im Februar 2021 war es, ein Buch zu lesen, das man in der Schule gern gelesen hätte. Meine Wahl fiel auf "Brave New World" und ich habe mich in Originalsprache (Englisch der 1930er Jahre) wirklich lange Zeit bis in den Sommer hinein gequält und bin mit meiner Challenge schon direkt am Jahresanfang in Verzug geraten. Trotzdem hat das Werk in dem Moment, als ich die letzten Zeilen las und es endlich zuklappen konnte, einige Aha-Effekte erzeugt, beängstigende Parallelen gerade in den Zeiten einer Pandemie gezeigt und vor allem Nachdenklichkeit hervorgerufen und mich somit für mein Durchhaltevermögen belohnt.

Aldous Huxley, Brave New World (hrsg. von Dieter Hamblock), Stuttgart: Reclam 1992. Copyright 1932, 1946 by Aldous Huxley, Chatto & Windus, The Hogarth Press, London.

(Dazu noch ein Tipp aus der Redaktion der ZFChristian Geulen, Die vergreiste Zukunft. Zu Aldous Huxleys „Brave New World“ – nach 80 Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 484-489)
Josephine Kuban 

 

Ayelet Gundar-Goshen, Wo der Wolf lauert

„Wo der Wolf lauert“ von Ayelet Gundar-Goshen stellt einen vor die durchaus beunruhigende Frage, was wir eigentlich wissen über die Menschen, die wir am besten zu kennen glauben. Im doppelten Wortsinn ein Seitenwender (neudeutsch: Pageturner).

Ayelet Gundar-Goshen, Wo der Wolf lauert, Kain&Aber 2021.

Annette Vowinckel

 

Schlimm. Ein Vierteljahrhundert Witze für Deutschland
und
»Verbrechen der Wehrmacht«. Anmerkungen zu einer Ausstellung (Mittelweg 36)

Längst hat es sich herumgesprochen, dass gute Karikaturen viel zu schade sind, um sie nur einmal kurz in einer Zeitung oder anderen tagesaktuellen Medien zu betrachten. Schon mit dem Abstand von wenigen Jahren gewinnen sie häufig historischen Quellenwert, als Seismographen des Zeitgeschehens und dessen zugespitzte, ironisch-kritische Kommentierungen. Die Karikaturisten Achim Greser und Heribert Lenz begleiten nicht nur FAZ-Leser:innen seit langem; sie haben auch eine beachtliche Reihe von Jahreschroniken und weiteren Büchern vorgelegt. Der Prachtband „Schlimm. Ein Vierteljahrhundert Witze für Deutschland“ (2021 im Verlag Antje Kunstmann erschienen) bietet auf rund 700 Seiten eine unglaubliche Fülle an scharfen Beobachtungen, bösem Humor und originellen Bildideen, immer gepaart mit Empathie für die Akteure und mit klarem Blick für die Absurditäten des Alltags. Eine Fundgrube, gerade auch für Zeithistoriker:innen!

Unter den zahlreichen geschichtspolitischen Großdebatten seit der deutschen Einheit kommt den beiden „Wehrmachtsausstellungen“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) und ihren Effekten für Wissenschaft und Öffentlichkeit zweifellos eine besondere Bedeutung zu. Hier ging es nicht allein um „Erinnerungskultur“, sondern um fundiertes Wissen und um teils schon länger bekannte, teils neue Forschungsergebnisse zur Rolle der Wehrmacht und zu individuellen Handlungsoptionen im Zweiten Weltkrieg. Der „Mittelweg 36“, die Institutszeitschrift des HIS, hat das 20jährige Jubiläum der 2001 neukonzipierten Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ zum Anlass für ein knapp 180seitiges Themenheft genommen (Heft 5-6/2021), das zur Reflexion über ausgestellte Zeitgeschichte vielfältige Impulse gibt. Parallel dazu ist der über 700seitige Ausstellungs-Begleitband von 2001 im Herbst 2021 noch einmal neu aufgelegt worden. Auch wenn die Forschung in manchen Aspekten weitergegangen ist: Dies bleibt ein zentraler Referenzpunkt!

Jan-Holger Kirsch

 

Juli Zeh, Corpus Delicti

Zugegeben, ich war anfangs etwas skeptisch, aber nachdem mir mein Buchhändler das schon vor zwölf Jahren erschienene Buch mehrfach empfohlen hatte (für ihn selbst war es schon Unterrichtsstoff in der Schule gewesen), griff ich im Sommer dieses Jahres dann doch zu. Gelesen habe ich die 250 Seiten dann kurz darauf in einem Zug   im doppelten Sinne des Wortes   auf der Reise von Berlin nach Warschau. Juli Zehs "Corpus Delicti" erzählt von einer dystopischen Welt zur Mitte unseres Jahrhunderts, in der "Gesundheit" das "höchste Gut" ist, und von einer Gesellschaft, die gelernt hat, sich zugunsten dieses Zieles bereitwillig selbst zu überwachen. Es herrscht die "METHODE", ein auf "Vernunft" basierendes politisches System, das vor allem auf der Steuerung und Kontrolle individueller Lebensgewohnheiten beruht. In der Gesellschaft, die Juli Zeh entwirft, grüßt man sich gegenseitig mit "Santé", gibt es einen allgegenwärtigen Propagandisten des Systems namens Heinrich Kramer, der regelmäßig in der Talkshow "Was alle denken" sitzt und für die Zeitung "Der gesunde Menschenverstand" schreibt sowie eine vom System selbst gesteuerte Untergrundbewegung, die RAK, was für "Recht auf Krankheit" steht. Im Mittelpunkt der fiktiven Handlung aber steht der Prozess gegen die Protagonistin Mia Holl, der das Hygieneregime vorwirft, "zu Lasten des allgemeinen Wohls" einem reaktionären Freiheitsverständnis aus dem 20. Jahrhundert anzuhängen. Die von ihr öffentlich geäußerten Sätze "Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst" und "Ich entziehe einem allgemeinen Wohl das Vertrauen, weil es Selbstbestimmtheit als untragbaren Kostenfaktor sieht" besiegeln das Schicksal von Mia Holl, über das ich an dieser Stelle aber nicht mehr verraten will. Übrigens: Wer "Corpus Delicti" schon kennt, dem sei der im letzten Jahr herausgegebene Begleitband "Fragen zu Corpus Delicti" empfohlen, mit interessanten Hintergründen zur Entstehungsgeschichte des Buches.

Juli Zeh, Corpus Delicti. Ein Prozess, Frankfurt am Main 2009.

René Schlott

 

Musik

 

Nature Boy und Prism III

Der schwedische Posaunist Nils Landgren ist seit Jahrzehnten als toller Teamplayer in unterschiedlichen Besetzungen, Stilen und Genres bekannt. Aufgrund der Corona-Situation ist nun erstmals ein Solo-Album von ihm erschienen: „Nature Boy“ (bei ACT), aufgenommen im Februar und April in einer schwedischen Kirche, mit Nils Landgrens Ehefrau als einziger Zuhörerin, Unterstützerin und Begleiterin. Die Stücke sind von großer Einfachheit, Klarheit und Poesie. Werke von Duke Ellington finden sich ebenso wie „Der Mond ist aufgegangen“ und andere traditionelle Lieder. Ein Schatz!

Das Danish String Quartet hat vor einigen Jahren die Reihe „PRISM“ begonnen. Die Grundidee ist es, jeweils eines der späten, teils geradezu verrückt klingenden Beethoven-Quartette mit einer Bach-Fuge sowie einem Quartett der klassischen Moderne zu kombinieren. Auf dem neuesten Album „PRISM III“ (bei ECM erschienen) finden sich Ludwig van Beethovens Streichquartett Nr. 14 in cis-Moll, Béla Bartóks Streichquartett Nr. 1 sowie Johann Sebastian Bachs Fuge in cis-Moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Die Verbindungslinien, die sich dabei immer wieder ergeben, sind ebenso originell wie die ungeheure Energie des Danish String Quartet. Ende Mai hatte ich Gelegenheit, die Gruppe (mit einem anderen Programm) in Berlin im Pierre-Boulez-Saal zu hören – ein Auftritt, der für das Publikum nach all den Monaten der Konzert-Dürre ebenso beglückend war wie für die vier Herren aus Dänemark. „Musik für das denkende Ohr“! (Zwar ein Werbespruch, aber immerhin ein guter.)

Jan-Holger Kirsch

 

Promises

Das Album von Floating Points, London Symphony Orchestra und Pharoah Sanders „Promises“ ist für mich weniger ein Album als ein Ereignis. Floating Points Auftritte und Radioshows haben mehr musikalische Neugier in mir geweckt haben als sonst irgendwer. Nicht zuletzt bin ich durch ihn auch auf Pharoah Sanders aufmerksam geworden. Dass der englische Produzent (und promovierte Neurowissenschaftler) und die amerikanische Jazz-Eminenz nun aber gemeinsam mit dem Londoner Symphonie-Orchester ein Album aufgenommen haben, lag dennoch außerhalb meiner Vorstellung, liegen doch rund zwei Generationen und fast ein halbes Jahrhundert zwischen ihnen. Gerade das aber macht „Promises“ so großartig für mich. Es ist ein Symbol der grenzüberschreitenden Begegnungen – von verschiedenen Herkünften und Erfahrungen, von Geschichte und Gegenwart – die in der Pandemie immer fragiler und, wie mir scheint, auch wichtiger geworden sind.

Robert Müller Stahl

 

Zum Nachhören

 

Computer-Gedichte aus dem Archiv

Mit der Begeisterung für Automatenkunst in den 1960er Jahren komponierten Computer Gedichte. Diese frühe digitale Poesie trieb manche Blüten. Vertreter der programmierten Ästhetik wie Christopher Strachey oder auch Theo Lutz, der beim berühmten Max Bense studiert hatte und z.B. einen Zuse-Rechner nutzte, um computergenerierte Poesie zu erzeugen, wurden so kurzzeitig ziemlich populär. In Geist der Zeit veröffentlichte auch das Fernsehmagazin Panorama ein Computergedicht. 

Michael Homberg

 

Adolf Eichmann – Ein Hörprozess

Das Hörspiel von Noam Brusilovsky, Hörspielautor und Regisseur, und Ofer Waldmann, freier Autor für den Deutschlandfunk Kultur, erzählt den Adolf Eichmann-Prozess aus einer neuen Perspektive. Der NS-Organisator der Deportationen zur Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden wurde 1961 in Israel vor Gericht gestellt. Der Prozess wurde live im israelischen Rundfunk „Kol Israel“ übertragen. Es war das erste Mal, dass in einem NS-Prozess die Öffentlichkeit der gesamten Verhandlung zuhören konnte. Die Autoren des Hörspieles versetzen die Hörer:innen in die Perspektive der Radiomacher und lassen sie so hautnah anhand von Originalaufnahmen aus dem Gerichtssaal die Einzigartigkeit und Bedeutung dieses Verfahrens aus der Perspektive der israelischen Gesellschaft erfahren.

Alina Casanova

  

Cui bono: WTF happened to Ken Jebsen

In Zeiten der Corona-Krise haben sie ein neues Hoch erlebt: Verschwörungstheorien. Der Podcast Cui bono analysiert Aufstieg und Fall des Moderators Ken Jebsen und die Anziehungskraft absurdester Theorien die Jebsen bis zum Verbot seiner Sendung aufstellte. Wie konnte ein erfolgreicher Radiomoderator im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu einem der bekanntesten Verschwörungstheoretiker Deutschlands werden? Die Koproduktion von Studio Bumenes, NDR, rbb und K2H spürt der Systematik von Verschwörungstheorien nach, versucht deren Anziehungskraft zu erklären, die politische Idee dahinter deutlich zu machen und den Willen zur Macht der Verschwörungstheoretiker aufzudecken.

Alina Casanova