Der folgende Beitrag erschien in einer etwas kürzeren Version erstmals in der FAZ vom 3. Juni 2022 und wurde auf der Onlineplattform des Petersburger Dialogs Karenina nachgedruckt.
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine kursieren in den russischsprachigen sozialen Netzwerken eine Vielzahl von Videos, Bildern, Liedern und Erklärungen von Kindern, die ihre Unterstützung für Russlands „spezielle Operation“ gegen die Ukraine inszenieren. Eine russische Mutter zeigt stolz ein ausrasiertes „Z“ auf dem Kopf ihres Sohnes. Eine andere erkundigt sich auf der russischen Plattform „V Kontakte“ nach guten Friseursalons, um die patriotischen Zeichen an den Schläfen ihres Kindes frisieren zu lassen. Es sind Gruppen von Kindern zu sehen, die im Schulhof ein „Z“ bilden, in Reih und Glied marschieren oder sogar mit vermeintlich echten Kalaschnikows Gedichte anlässlich des 9. Mai deklamieren – das Video wurde in einem belarusischen Kindergarten aufgenommen. Am Montag des 9. Mai konnten in einigen russischen Kindergärten stolze Eltern einer „Militärparade“ ihrer Kinder mit den aus Karton gebastelten Kampfgeräten beiwohnen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Der Wunsch, all dies als Trash zu ignorieren, verbietet sich angesichts des grausamen echten Kriegs, den Russland gegen den souveränen Staat der Ukraine mit Hilfe des belarusischen Diktators Lukašenka führt. Kinder und Jugendliche werden von der russischen und belarusischen Propagandamaschinerie in beiden Ländern schamlos instrumentalisiert. Besonders beunruhigend sind die "pädagogischen" Eingriffe in den Schul- und sogar Vorschulalltag der Kinder, denen in "Lehrstunden des Patriotismus" eingetrichtet wird, dass Russland aufopferungsvoll die "russische Welt" gegen den "böswilligen Westen" und die "Nazis" verteidige. Es sind viele Fälle bekannt, bei denen Schulkinder ihre Lehrer*innen für kritische Kommentare denunziert haben. Im belarusischen Babruisk wurde eine Lehrerin zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, weil sie eine Schleife mit den Farben der Ukraine in ihren Haaren trug. Das Gericht interpretierte dies als Streik, der zudem Proteste provoziert habe.
Kinder als Ressource
So verstörend die zynische Instrumentalisierung von Kindern ist, so wenig neu ist sie. Das, was wir heute beobachten ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Der Putin-Song, bei dem ein Kinderchor in Militäruniform singt „Wenn der Chefkommandeur zum letzten Kampf drängt, Onkel Wowa [Kosename von Vladimir Putin], dann stehen wir zu Dir!“ ist schon ein paar Jahre alt. Bereits bei der visionären gesellschaftlichen Umgestaltung der Bol’sheviki nach der Revolution 1917 waren Kinder eine wertvolle Ressource: nicht nur symbolisch als Hoffnungsträger für die lichte Zukunft, sondern auch als aktive Akteure und Mitgestalter. Kinder sollten parteitreue Subjekte sein. Man erwartete von ihnen nach dem Vorbild von Pavlik Morosov die eigene Familie den Interessen des Parteistaates zu opfern. Der um 1933 entstandene Mythos handelt von einem vierzehnjährigen Pionier, der seinen Vater verraten habe, der sich der Kollektivierung widersetzte und Getreide versteckte. Dafür wurde der Bauernjunge angeblich von seiner Familie brutal ermordet. Die Propaganda stilisierte Pavlik zu einem der berühmtesten Märtyrer und Musterschüler, obwohl es sich um eine größtenteils erfundene Geschichte handelte.[1]
Unter Stalin blieben Kinder konforme Mitkämpfer für den Kommunismus. Ab Mitte der 1930er Jahre kam eine beispiellose Militarisierung und Mobilisierung des kindlichen Alltags hinzu, welche die heranwachsende Generation für einen imaginären Krieg rüstete. Es blieb nicht nur bei Wortpropaganda. Krieg war in der Welt der Kinder so allgegenwärtig, dass er nicht nur im Spiel, sondern sogar im Sprachgebrauch, etwa in solchen Begriffen wie „Verteidigungsspielzeug“ (oboronnaja igruška) wiederfand. Speziell für Kinder wurden zahlreiche kriegerische Gesellschaftsspiele und detailtreue Spielzeugmodelle wie Panzer oder Pistolen mit dem Ziel entwickelt, Kinder spielerisch an den Krieg heranzuführen und ihnen das technische Wissen etwa über verschiedene Waffengattungen zu vermitteln. Zu keiner anderen Zeit in der Geschichte der Sowjetunion war Kindheit dermaßen durchorganisiert und vom Krieg beherrscht wie in den späten 1930er Jahren. Kindern wurde permanent eingebläut, die Sowjetunion sei von Feinden umgeben und ein Krieg sei unvermeidbar. Auf einen künftigen Krieg wurden sie mental und praktisch vorbereitet. Die Kriegsmobilisierung der Kinder und Jugendlichen im Deutsch-Sowjetischen Krieg war dann folgerichtig und rücksichtslos: sowohl in der Propaganda als auch in der Realität an der Front sowie im Hinterland, die von der amerikanischen Historikerin Julie de Graffenried als „Sacrificing Childhood“[2] bezeichnet wurde. Natürlich konnte man ähnliche Instrumentalisierungen auch in anderen Ländern beobachten, allen voran in NS-Deutschland und in der DDR. Auch andere Staaten erkannten in der heranwachsenden Generation eine Ressource – ob für den Nationsbildungsprozess oder für die Durchsetzung einer Ideologie – um Kinder wurde schon immer mit verschiedenen Mitteln gerungen.
In der Sowjetunion wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Ideologisierung und Militarisierung der Kindheit keineswegs abgeschafft. Massenorganisationen wie Oktoberkinder, die Jungpioniere und Komsomol (bereits 1918 gegründet) sorgten weiterhin für konformes Denken und Disziplinierung. Eine kurze Atempause gab es in der Phase der Perestroika und in den 1990er Jahren. Die Sowjetnostalgie und der Ruf nach einer starken Hand Anfang der Nuller Jahre ließen aber bald wieder die sowjetische Kindheit als die „glücklichste“ erscheinen. Dies ging Hand in Hand mit der Revision der Erinnerungs- und Geschichtspolitik der Putin-Ära.
Krieg als Spiel
Vor mehreren Jahren fragte mich meine damals etwa vierjährige Tochter bei einem der Besuche in Belarus warum dort Panzer und Militärflugzeuge auf den Spielplätzen und in den Parks stehen. Für sie passten Panzer und Kinder nicht zusammen. Ich versuchte, ihr etwas von den tiefen Spuren zu erklären, die der Vernichtungskrieg des NS-Deutschlands gegen das Land hinterlassen hat. Kaum ein Land ist so stark vom deutschen Krieg und Besatzung betroffen gewesen wie Belarus, wo von etwa neun Millionen Einwohnern etwa 1,6 bis 1,7 Millionen ermordet wurden, Soldaten in den Reihen der Roten Armee nicht mitgezählt. Dabei merkte ich selbst, wie unbeholfen meine Erklärung in dieser Situation klang. Natürlich wurzelt die Identität der „Partisanenrepublik“ Belarus in der Erfahrung des brutalen Krieges und ich selbst bin in meiner Kindheit gerne auf die Panzer geklettert und spielte Krieg (natürlich immer gegen die Faschisten). Doch inzwischen war Krieg nicht mehr mein Spiel. Denn Spiele spiegeln die Gesellschaft. Kinder verarbeiten ihre Erfahrungen im Spiel. Meine Erfahrungen des Krieges beschränkten sich auf die Kriegsfilme, mit denen ich aufgewachsen bin sowie auf das fragmentierte Schul- und Familienwissen.
Historiker*innen behaupten, die Geschichte wiederhole sich nicht. Doch jedes Mal, wenn ich nach Belarus oder Russland reiste, erlebte ich ein Déjà-vu und hatte das Gefühl, immer wieder die gleiche Schallplatte der „patriotischen Erziehung“ zu hören, eingebettet in die Erinnerungskultur des glorreichen Widerstandskrieges. Irgendwann wurde mir jedoch klar, dass die Schallplatte eine moderne geworden ist und das Lied mit neuer Intensität und aktualisiertem Text gespielt wird. Während der 9. Mai früher sowohl in Belarus als auch in Russland eher ein familiärer Gedenktag war, ist er heute ein Event – eine absurd theatralische Machtdemonstration und ein kommerzielles Volksfest zugleich. Eltern stecken ihre Kinder, auch solche, die noch nicht laufen können, gern in angefertigte Militäruniformen, auf den Straßen werden alte Soldatenlieder gesungen und man kann Essen aus der Feldküche kaufen. Für Kinder gibt es „Challenges“ und „Performances“; Erwachsenen werden Reenactments historischer Ereignisse geboten. Seit den Nuller Jahren verdrängen Entertainment-Landschaften die echten Gedenkorte: In Belarus fahren die Familien nicht nach Chatyn‘ (nicht mit dem russischen Katyn‘ zu verwechseln), dem zentralen Gedenkort für die etwa 9.200 niedergebrannten Dörfer und die Massaker der Nationalsozialisten, sondern zum durchkommerzialisierten Freizeitpark „Stalin-Linie“ – ein „militärisches Disneyland“, in dem man echte Panzer fahren und damit sogar schießen kann. Man kann „Aktivurlaub“ und „Team-Events“ für Firmen buchen mit einer Anmutung historischer Authentizität. Beliebt in Belarus und in Russland sind auch Kunstlandschaften kleineren Formats, etwa nachgestellte Partisanenlager in Erdhütten. Welche Bedeutung solchen Orten beigemessen wird, verdeutlicht das Beispiel eines „Partisanenlagers“ bei Moskau. Als „militär-patriotischer Park für Kultur und Erholung“ wurde er vom russischen Verteidigungsminister Sergej Šojgu im Jahr 2016 feierlich eröffnet.
Die Romantisierung der leidvollen Vergangenheit macht auch vor den Kleinsten nicht Halt. Ende 2019 lud das Museum des Vaterländischen Krieges in Minsk Kinder ein, das traditionelle Neujahrsfest „auf den Spuren von Väterchen Frost bei den Partisanen“ zu begehen. Die Veranstalter*innen versprachen eine „märchenhafte Zeitreise“ und „ein vollständiges Eintauchen in die historische Situation des Krieges“, als handele es sich dabei um eine besonders abenteuerromantische Epoche. Für die meisten Belarus*innen war diese Anzeige wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches. Entsetzt fand ich mehrere vergleichbare Angebote sowie Kriegsmotive auf Weihnachtskugeln, die als Weihnachtsbaumschmuck in zentralen Geschäften in Minsk verkauft wurden.
Geistige Aufrüstung von Kindern und Jugendlichen
Der Krieg ist im Alltag der Menschen in beiden Ländern auf aggressive und absurde Weise präsent. Aus ihm wird Geld gemacht, aber auch beliebig Stoff für die „patriotische Erziehung“ der heranwachsenden Generation entnommen. In den Schulen wird der Krieg sowohl in Russland als auch in Belarus nicht als leidvolle Erfahrung vermittelt, sondern als makelloser Sieg ohne Grautöne. Kritische Reflexion, eine Auseinandersetzung mit den hohen Kosten des Sieges, mit Fehlern, gar Verbrechen der Roten Armee oder der Partisanen gegen die Zivilbevölkerung sind nicht vorgesehen. „Patriotismus“ hat oberste Priorität, der Geschichtsunterricht ist längst zum Lenkungsinstrument verkommen. Kinder sind Teil des Siegesnarrativs als minderjährige Helden, die sich für die Heimat opfern und zur Identifikation und Nachahmung auffordern. Es gibt eine Reihe an Kinderliteratur, die auf das Heldentum der Minderjährigen im Großen Vaterländischen Krieg als pädagogisierendes Vorbild zurückgreift. Der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ ist zu einer Ressource geworden, derer sich die Machthaber bedienen.
Die „geistige Aufrüstung“ der heranziehenden Generation, wie sie unlängst Dietmar Neutatz[3] mit Blick auf die russische Jugend beschrieb, ist wohldurchdacht und inzwischen sogar in beiden Ländern juristisch abgesichert. Von der russischen Duma wurde auf Initiative des Präsidenten im vergangenen Jahr ein Gesetz verabschiedet, das die „patriotische Erziehung“ in Schulen vorschreibt, obwohl sie längst sowohl in Russland als auch in Belarus praktiziert wird. Eine dem Verteidigungsministerium unterstehende „Jugendarmee“ (Junarmija), der man ab acht Jahren beitreten kann, gibt es in Russland seit 2016; ebenso „militärpatriotische Lager“ für Kinder und Jugendliche sowie Kadettenklassen. Jetzt soll auch wieder eine landesweite Kinder- und Jugendorganisation nach Vorbild der Pioniere entstehen. Die Gesetzesvorlage ist bereits im Parlament. Auch der Fahnenappell an den Schulen soll zur Pflicht werden. In Belarus wird dies schon längst praktiziert. Dort löste die Protestbewegung nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020 den Kampf um die nationalen Symbole aus, wobei die historischen weiß-rot-weiße Farben vom Regime zu einem „faschistischen“ Symbol erklärt und als „extremistisches“ Zeichen aus dem öffentlichen Bild radikal verdrängt wurden.[4] Die grün-roten Farben der Staatsmacht erinnern heute an jeder Ecke und in allen denkbaren Ausdrucksformen daran, wer das Sagen im Land hat. Den belarusischen Republiks-Jugendverband der Pioniere (BRSM), der sich bewusst in die Tradition der Pionierbewegung stellt, gibt es bereits seit 30 Jahren.
Diese Maßnahmen wachsen in einen Staat hinein, der das Narrativ vom „Genozid am Belarusischen Volk“ aktualisiert hat und mit neuen Gesetzen Bürger*innen für eine davon abweichende historische Interpretation verfolgen will. In Russland ist seit 2014 das „Lügen“ über den großen Vaterländischen Krieg per Gesetz verboten. Die herrschende Geschichtserzählung wird unter den Schutz der Verfassung gestellt. Zusammen mit dem ständigen Gerede von den westlichen „Kriegstreibern“ erinnert all dies stark an die Militarisierung der Gesellschaft unter Stalin. Kein Wunder, wenn der reale Krieg gegen die Ukraine, der von vielen Russ*innen für ein „leichtes Spiel“ gehalten wurde, eine derart breite gesellschaftliche Unterstützung erhält. In Belarus scheint zwar ein vergleichbarer Rückhalt zu fehlen. An der geistigen Aufrüstung der Kinder wird aber auch dort mit großer Intensität gearbeitet.
[1] Kelly, Catriona: Comrade Pavlik: the Rise and Fall of a Soviet Boy Hero, London 2005.
[2] deGraffenried, Julie K.: Sacrificing Childhood. Children and the Soviet State in the Great Partiotic War, Kansas 2014.
[3] Dietmar Neutatz, Putins Geschichtspolitik. Die Verteidigung im Westen stärken, in: FAZ vom 9.5.2022 (zuletzt am 19.6.2022).
[4] Shparaga, Olga: Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus, Berlin 2021.