von Ute Daniel

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6. September 2022

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatement von Ute Daniel bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen
Teil III

Wie politisch kann, soll und muss Geschichtsschreibung sein?
Diskussion am 26. Juni 2022 (online)

Eingangsstatement von Ute Daniel (ZZF Potsdam)

 

Als ich angefangen habe, darüber zu grübeln, wie meine Antwort auf die Frage, wie politisch Geschichtsschreibung sein soll bzw. kann, habe ich gemerkt, dass mein Kopf anfing, Gestalten zu produzieren. Eine Gestalt „Geschichtsschreibung“, eine Gestalt „Politik“, die turnten immer so umeinander. Mal waren sie weiter entfernt voneinander, mal kamen sie zusammen. Mal sprang die eine auf die andere, worauf diese in die Ecke flüchtete. Ich merkte, dass ich das Ganze nicht als Gegenstand auffasste, sondern als Dynamik.

Deswegen ist die Frage nach dem „kann, soll, muss“ für mich schwierig, weil ich glaube, jede Antwort darauf ist notwendigerweise eine Missachtung dieses grundsätzlich dynamischen Verhältnisses. Mein Vorschlag wäre, dass wir – vielleicht gemeinsam – der Frage nachgehen, wie das Inbeziehungsetzen dieser beiden herumtanzenden Gestalten jeweils aussehen kann. Denn ich glaube, es ist am sinnvollsten, dass an konkreten Beispielen zu diskutieren.

Als Ausgangspunkt für unsere Diskussion will ich zwei Beispiele anbieten:
Das erste Beispiel ist die Demokratiegeschichtsschreibung. Genuin und irgendwie hoffnungslos politisch. Ich will versuchen ganz kurz zu zeigen, wie unterschiedlich das Politische der Demokratiegeschichtsschreibung sein kann, und dass es schwierig sein kann, selbst für eine einzige Forschungsrichtung in der Geschichtsschreibung die gestellte Frage zu beantworten,

Unser Staatsoberhaupt, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, hat letztes Jahr ein Buch herausgebracht. Ein Buch zur Demokratiegeschichte mit dem Titel Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918.[1] Ein Buch, an dem mich für die Zwecke unserer Diskussion nur das Vorwort interessiert. In diesem Vorwort hat mich die Art sehr beschäftigt, in der Steinmeier das Verhältnis von Demokratiegeschichtsschreibung und „uns“, also unserer Gegenwart, sieht.

Steinmeier schreibt – ich zitiere: "Der Blick in die Vergangenheit zeigt, wie mühevoll, opferreich, verschlungen und voller Rückschläge die Wege zu Freiheit und Demokratie gewesen sind, dieses Wissen lässt uns den Wert des Erreichten besser erkennen [...]."[2] Und er mahnt, dass wir "unsere Werte, für die so viele Wegbereiter unserer Republik gekämpft haben, nicht leichtfertig preisgeben dürfen."[3]
Demokratiegeschichte ist demnach keine Heldengeschichte, sondern geht hier eher in Richtung Märtyrergeschichte. Steinmeier erklärt außerdem, das Verhältnis dieser Vorgeschichte, dieser Vorkämpferinnen zur heutigen Zeit sei folgendermaßen: Heute fänden wir die Vorkämpfer und Vorkämpferinnen der Demokratie „auf der Siegerseite der Geschichte. Nicht die autoritären Kräfte und Mächte, sondern sie haben sich mit ihren Vorstellungen von Freiheit, Recht und Einigkeit durchgesetzt. Daher hat die Erinnerung an sie heute eine doppelte Bedeutung: Sie stiftet Zusammenhalt und sie stärkt unsere Demokratie. "Wir alle" – das "Wir" ist das Wort, das in dieser Einleitung gefühlt am häufigsten vorkommt außer ‚und’ und ‚oder‘– „haben ein tiefes Bedürfnis nach Heimat, Zusammenhalt und Orientierung. Der Blick auf die eigene Geschichte spielt dabei eine entscheidende Rolle. Jedes Volk sucht Sinn und Verbundenheit in seiner Geschichte – warum sollte das für uns Deutsche nicht gelten?“ [4]

Was hier, in dieser "Wir"-Haftigkeit der Gegenwart, meiner Meinung nach deutlich wird, ist, dass wir und die Demokratie in eins verschwimmen. Das finde ich problematisch.

Nun verkörpert der Bundespräsident qua Amt die gesellschaftlichen "Harmonisierungskräfte". Das ist völlig in Ordnung und sein Bemühen um die Förderung der Demokratiegeschichtsschreibung ist sicherlich ehrenwert. Aber die Demokratiegeschichtsschreibung derart auf gesellschaftlichen Zusammenhalt zu trainieren, auf einen Zusammenhalt, der noch dazu durch Demokratiegeschichtsschreibung gefördert werden soll, finde ich bedenklich. Diese Idee rückt die Demokratiegeschichtsschreibung in die Nähe der Geschichtsschreibung einer anderen imaginierten Gemeinschaft, die wir Anfang der 1980er Jahre von Benedict Anderson vorgeführt bekommen haben, nämlich die "imagined community" des Nationalstaates und deren Historiographie.[5]

Im Grunde genommen ist Steinmeiers Vorschlag einer Demokratiegeschichtsschreibung so etwas wie eine postnationale imaginierte Gesellschaft, in der die Bezugnahme auf die Demokratiegeschichte den Bezug auf Nationalgeschichte ersetzt, das überdeckt sich sozusagen. Bedenklich daran ist, dass ähnlich wie bei der national vorgestellten Gemeinschaft auch bei der vorgestellten demokratischen Gemeinschaft dem "wir" notwendigerweise "die Anderen" gegenüberstehen. Es gibt kein "wir" ohne ein "sie". Es gibt kein Eigenes ohne ein Fremdes, das kennen wir. Und das wird von Steinmeier auch gleich mitgeliefert. Russland und China werden nämlich als autoritäre Gegenmodelle zur westlichen Demokratie vorgestellt, so wie auch unsere Außenministerin Baerbock in Bezug auf China und Russland ganz flüssig von "Systemrivalen" spricht.

Dass Russland seit dem 24. Februar 2022 wegen seines Angriffskriegs gegen die Ukraine einen realen Aggressor darstellt, macht es um so dringlicher, darauf zu achten, dass die Geschichtsschreibung der Demokratie sich unter der Wucht dieser Erfahrung nicht zu einer Legitimationswissenschaft politisiert, wie es mit der Nationalstaatsgeschichtsschreibung geschehen ist. Eine Demokratiegeschichtsschreibung, die eine emphatische Vergemeinschaftung edelt und dieses "Wir" in der globalen Konkurrenz dann quasi Position beziehen lässt, eine solche Geschichtsschreibung wäre extrem politisch.

Gleichzeitig aber hat Demokratiegeschichtsschreibung eine umgekehrte Tendenz. Sie hat die Tendenz zu einer auffälligen Politikabstinenz. Sie meidet nicht die Beschäftigung mit Politik, denn – Rüdiger Graf hat das einleitend gesagt – unsere Vorstellungen von Politik haben sich geändert und beziehen sich nicht mehr nur auf den ursprünglichen Kern der sogenannten großen Politik. Aber dieser Kern, der früher ausschließlich behandelt wurde, die politische Klasse, die Gruppen der Entscheider:innen, die Staatsmänner, die angeblich alles lenken –  sie alle sind wiederum heute ziemlich ausgespart. Ich meine, dass gerade die kulturalisierte Politikgeschichte unbedingt auch die gesellschaftlich-politischen Machtzentren in den Blick nehmen muss und der erfreulich reichhaltigen Forschung zur Kulturgeschichte der Dienstmädchen, der Soldaten, der Bürgerinnen und Bauern und vieler anderer mehr auch eine Kulturgeschichte der Entscheidergruppen an die Seite stellen sollte.

Die Demokratiegeschichte meidet weitgehend auch Aspekte, die im Grunde genommen für jeden erkennbar zur Vorgeschichte der Demokratie gehören: etwa die Frühgeschichte des Sozialstaates im Sinne einer beginnenden Angleichung der Lebenschancen oder die Geschichte der Auseinandersetzungen über Umverteilung von oben nach unten auf fiskalischem Weg. (Marc Buggeln hat gezeigt, wie erkenntnisfördernd eine Einbeziehung der Steuergeschichte in die Demokratiegeschichtsschreibung ist.[6]) Die Angleichung der Lebensverhältnisse als Voraussetzung der Demokratisierung ist allgemein anerkannt. Doch die Demokratiegeschichte nutzt dieses Thema noch viel zu wenig, obwohl es zur Sozialstaats- und Steuergeschichte einen guten Forschungsstand und eine reichhaltige Quellenlage gibt. Auch dieses Manko scheint mir eine Folge der kulturgeschichtlichen Politikabstinenz zu sein, ist doch das Thema Umverteilung früher wie heute hoch politisch.

Was mir als Kulturhistorikerin sehr fehlt, vielleicht vor allem anderen fehlt, ist ein größeres Interesse der Demokratiegeschichtsschreibung an den ungewollten Folgen demokratisierender Veränderungen. Wahlrechtserweiterungen gelten in der Demokratiegeschichte als Indikatoren für Demokratisierung. Aber kaum jemand schaut auf die ungewollten Folgen von Wahlrechtserweiterungen. Das gilt auch für die großen Wahlrechtserweiterungen des 19. Jahrhunderts, allem voran Bismarcks Einführung des gleichen, allgemeinen Männerwahlrechts 1867/71 oder in Großbritannien die Wahlrechtserweiterungen 1867 und 1884/85. Die Folgen dieser Wahlrechtserweiterungen waren höchst ambivalent. Sie erzeugten sehr widersprüchliche Dynamiken, die teils einer Demokratisierung Vorschub leisteten, teils jedoch antidemokratische Tendenzen stärkten. Das gehört aber auch in eine Demokratiegeschichte. Das fehlt mir. Und insofern würde ich sagen, die Demokratiegeschichte bräuchte mehr "politischen Biss".

Kurz noch zu dem zweiten Beispiel, das ich ansprechen möchte: das Thema Krieg und Medien, das per se politisch ist. Ich habe mich lange mit der Geschichte der Kriegsberichterstattung befasst und sehe unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine die Wiederkehr bekannter medialer Eskalationsdynamiken. Kenntnisse der Geschichte der Kriegsberichterstattung und Mediengeschichte könnten hilfreich sein, um zu verstehen, was gegenwärtig passiert.

Was mich jedoch in diesem Zusammenhang besonders bewegt – und darüber würde ich gerne diskutieren – ist, dass das, was wir gerade erleben, der Einbruch von etwas total Disruptivem, etwas Unerwartetem ist, das die Wirklichkeit neu konfiguriert. Das trifft uns völlig unvorbereitet. Immer wieder haben, gerade im Zusammenhang von Kriegen ganze Generationen erlebt, dass die Wirklichkeit einen Bruch erfährt und alles sich zu verändern scheint, ereignishaft und disruptiv. Als Kinder und Enkel langer Friedensjahre in Deutschland sind wir dies nicht gewohnt. Ich würde mir wünschen, dass die Geschichtswissenschaft ihre Erkenntnisse, über die Wirkungen solcher disruptiver Ereignisse, auf die jeweiligen Zeitgenossen fruchtbar für heute macht. Aus der Geschichte des Ersten Weltkrieges beispielsweise ist bekannt, wie stark sich Gräueltaten besonders gegen Zivilisten auf die Verfeindlichung der Kombattanten, aber auch auf die „Heimatfronten“ ausgewirkt haben. Und ebenfalls ist bekannt, wie leicht die emotionalisierenden Wirkungen dieser (medialisierten) Ereignisse sich instrumentalisieren lassen. Ein wenig Historisierung könnte hier hilfreich sein, um der ungeheuren Gefühlsintensität, die durch das Geschehen erzeugt wird, nicht völlig kopflos gegenüberzustehen. Das wäre in meinen Augen ein im besten Sinn des Wortes politischer Beitrag der Geschichtswissenschaft zur kriegerischen Gegenwart.

 

 

[1] Frank-Walter Steinmeier (Hg.): Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918. C.H.Beck, 2021.
[2] Frank-Walter Steinmeier, Geschichte für die Republik, in: ebd., S. 19.
[3] Ebd.
[4] Ebd., S. 17.
[5]Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the origin and Spread of Nationalism. Verso, 1983. In deutscher Übersetzung erschienen als Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Campus, 1988.
[6] Marc Buggeln, Wie wichtig sind progressive Steuern für die Demokratie? Besteuerung und Enteignung der ökonomischen Eliten in Demokratie und Diktatur im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 61 (2021), S. 115-159. Seine Habilitationsschrift zu diesem Thema erscheint demnächst.