Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Andreas Wirschinger bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. Die Reihe wurde im Jahr (online) 2024 weitergeführt.
zeitgeschichte|online veröffentlicht alle Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil X: Was können Historiker*innen, was andere nicht können?
Diskussion am 18. November 2024 (online)
Eingangsstatement von Andreas Wirsching (Institut für Zeitgeschichte München)
Ich möchte etwas vorausschicken. Ich begreife die Geistes- und Sozialwissenschaften als arbeitsteiliges System. Es wäre natürlich völlig inadäquat, wenn sich eine Wissenschaft, eine Subdisziplin oder auch eine methodische Richtung anmaßen würde, alles besser zu machen. Aber: Sich von Zeit zu Zeit des methodischen und epistemologischen Propriums der eigenen Wissenschaft zu vergewissern ist nicht nur legitim, sondern notwendig – gerade im Dialog mit den Nachbarwissenschaften. Was also können Historikerinnen und Historiker besonders gut? Ich nenne vier Stichworte.
Erstens Komplexitätsexpertise
Zweitens Langfristperspektive
Drittens Sachliche Präzision
Viertens aufklärerische Gegenwartsrelevanz
Erstens Komplexitätsexpertise
Der Historismus beruht auf dem Anspruch, den geschichtlichen Gegenstand in seiner Individualität zu erforschen. Das bleibt auch heute ein unaufgebbares epistemologisches Proprium der Geschichtswissenschaft. Jedes historische Projekt erforscht eine Unmenge individueller historischer Variablen. Indem sie dies tun, werden Historikerinnen und Historiker zu Spezialisten für Komplexität, und zwar in einer Weise, die für andere Disziplinen in aller Regel nicht zutrifft. Das ist aber nur die eine Seite. Denn wir wissen sehr gut, dass die empirisch fassbare historische Wirklichkeit aus einer unendlichen Vielzahl von Variablen besteht. Die Wirklichkeit lässt sich nicht in ihrer Totalität erfassen; auch die von Fernand Braudel aufgebrachte Idee der „Histoire totale“ hatte eine primär heuristische und methodologische Funktion und ist nicht wörtlich zu nehmen. Vielmehr besteht die Arbeit der Historiker und Historikerinnen darin, abhängig von Gegenstand und Fragestellung die Komplexität wieder zu reduzieren. Jeder ernsthaft Studierende der Geschichte merkt dies spätestens, wenn er seine Abschlussarbeit schreibt. Die geschriebene, aber auch die gesprochene, medial mitgeteilte Geschichte beruht auf einer mehr oder minder kunstvollen, immer aber sehr eingehenden, manchmal fast brutalen Komplexitätsreduktion. Diese Reduktion ist zwingend notwendig, aber auch schwierig. Jeder von uns weiß, wie anspruchsvoll es ist, einen knappen Text über ein komplexes Thema zu schreiben, ohne irgendwo irgendwie auch falsch zu werden.
Insofern sind Historikerinnen und Historiker nicht nur Experten für Komplexität, sondern zugleich auch für die Reduktion von Komplexität. Das verleiht ihnen eine sehr spezielle Kompetenz, die natürlich auch in ganz anderen Welten als der wissenschaftlichen gefragt ist und sich auch im praktischen Leben sehr gut bewähren kann.
Zweitens: Langfristperspektive
Locker angelehnt an Friedrich Nietzsches Schrift „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ möchte ich betonen, dass wissenschaftliche Geschichtsschreibung nichts mit der „antiquarischen Art“ der Geschichte zu tun hat. Historisches Fragen geht analytisch vor und ergibt sich immer aus den Problemstellungen der Gegenwart. Ein wichtiger Erkenntnisgewinn historischer Forschung ist daher die Langfristperspektive. Die Einsicht in das geschichtliche Gewordensein unserer Gegenwart – manchmal über viele Jahrhunderte hinweg – ist eine sehr spezifische Kompetenz der Historiker*innen. Ein Beispiel: Jeder, der sich mit der Geschichte des Föderalismus in Deutschland näher beschäftigt hat, weiß, dass die föderale Struktur der Bundesrepublik nicht einfach zentralisierbar ist, sondern sich höchstens inkrementell verändern lässt. So hilft die Langfristperspektive, Mögliches von Unmöglichem zu unterscheiden; oder auch das Sinnvoll-Pragmatische vom Utopischen zu trennen und möglichen ideologischen Versuchungen des Ausbruchs aus der Geschichte – des Eskapismus gleichsam – entgegenzutreten.
Umgekehrt erkennen Historiker und Historikerinnen auch die Strukturen, Kräfte und Personen in der Geschichte, die heute nicht mehr auf den ersten Blick sichtbar sind. Die Suche nach den subkutanen Einflüssen, den historischen Alternativen, nach dem Abgebrochenen und Verlorengegangenen ist eine der ganz wichtigen Grundkompetenzen der Geschichtswissenschaft. Mit ihrer Langfristperspektive kann sie alles dieses sichtbar machen. Das, was sich in der Geschichte nicht unbedingt durchgesetzt hat, aber gleichwohl zu den kulturellen Voraussetzungen unserer Gegenwart gehört; an das durchaus auch erinnert werden sollte, können Historikerinnen und Historiker dem Vergessen entreißen und damit einmal mehr das historische Gewordensein der Gegenwart besser darstellen.
Drittens: Sachliche Präzision
Historische Forschung, die all das leisten soll, ist nur möglich, wenn sie sich auf einem sicheren methodischen Grund bewegt. Das bedeutet: Nur der akribische Quellenbezug oder, mit Thomas Nipperdey gesprochen, die Beachtung des Veto-Rechts der Quellen gewährleistet die Wissenschaftlichkeit geschichtlicher Aussagen. Deren Präzision ergibt sich aus dem eingehenden kritischen Quellenstudium als individualisierender Methode. Darin zeigt sich auch, was Historikerinnen und Historiker im Gegensatz zu den vielen allgemeinen und – entschuldigen Sie den Begriff – Laienvorstellungen von Geschichte können, die überall verbreitet sind. Zur Bereitstellung historischer Expertise gehört es dann eben auch, gesichert sagen zu können: Dieses oder jenes, was in der alltäglichen geschichtlichen Vorstellungswelt gesagt wird, ist unzutreffend. Wir wissen aus den Quellen, dass sich dieser oder jener Vorgang sachlich anders verhalten hat als angenommen. In der Zeitgeschichte gilt dies übrigens auch für die mündlichen Narrative der sogenannten Zeitzeug*innen. Ein sehr verbreiteter Irrtum besteht ja darin zu glauben, wer bei zeithistorischen Geschehnissen nicht dabei war, könne über sie auch nichts aussagen. Natürlich ist das Gegenteil richtig: Historiker und Historikerinnen wissen immer mehr als die Zeitzeug*innen, weil sie die ganze Geschichte in ihrer Empirie kennen. Zeitzeug*innen geben Zeugnis darüber, welche Vorstellungen sie sich in der Gegenwart von vergangenen erlebten Ereignissen machen, aber keinesfalls darüber, was sich genau in der Vergangenheit ereignete.
Eine weitere methodische Bemerkung ist angebracht: Aufgrund der quellenbasierten sachlichen Präzision, die unsere wissenschaftlichen Aussagen haben müssen, müssen wir in aller Regel auch differenzieren. Die Vielfalt der historischen Variablen erlaubt es meistens nicht, einfache Schwarzweiß-Thesen zu vertreten. Vielmehr sind die historische Differenzierung, die Zeichnung der Grautöne, das Proprium der Geschichtswissenschaft. Das ist wichtig, das können auch nur Historiker*innen, das hat aber im Vergleich zu manchen Nachbarwissenschaften auch den Nachteil einer mangelnden Begriffsschärfe. Sozial-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften zum Beispiel tun sich in der Regel leichter, präzise Begriffe zu prägen und analytisch auch durchzuhalten als die ständig differenzierenden, das sowohl als auch betonenden Historiker*innen. Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Das kann aber durch die durchaus legitime, eklektische Verwendung von Modellen und Theorieangeboten kompensiert werden. Solche Aneignungen ermöglichen die historisch adäquate Etablierung und Verwendung theoretisch abgestützter Begriffsbildungen. Damit dienen sie zugleich der zwingend erforderlichen, gleichsam kontrollierten Reduktion von Komplexität.
Viertens: aufklärerische Gegenwartsrelevanz
Wesentliche Bedeutung für die Gegenwart gewinnt die Geschichtswissenschaft aus einem aufklärerischen Verständnis von historischer Forschung. Das erfordert ein gemeinsames Set von Methoden, das die transparente intersubjektive Kommunikation ermöglicht. Daran festzuhalten ist umso wichtiger in einer Zeit, in der gemeinsame Überzeugungen von Objektivität und Wahrheit zu schwinden drohen. Nach meinem Eindruck wird die Pluralität der vorfindlichen Welt zunehmend verwechselt mit der Partikularität unversöhnlicher Identitäten, ob sie nun auf Nation oder Kultur, Religion oder Politik, Geschlecht oder Generation gründen mögen.
Wie unheilvoll sich Geschichte hier von hinten an den Menschen anklammern kann, beobachten wir gegenwärtig gleichsam in Echtzeit in den Krisenherden des Nahen Ostens und in Osteuropa, und wir sehen die dramatischen Folgen. Im schlimmsten Falle wird unwissenschaftlich gedeutete Vergangenheit zum Kerker der Zukunft.
Deshalb lässt sich auch keine Politik der Gegenwart ohne Kenntnis der Geschichte verstehen. Ich sagte es schon: Historische Forschung hat keine antiquarische Funktion, die bloß Daten und Fakten bereitstellte. Vielmehr dekonstruiert sie all jene wohlfeil-einfachen Deutungsmuster und mündlich tradierten Legenden, mit denen sich Ansprüche auf moralische Überlegenheit oder sogar politische Unterdrückung legitimieren lassen. Das kann wohl kaum jemand besser als Historikerinnen und Historiker mit ihrer Langzeitperspektive und ihrer quellenbasierten Präzision. Den so vielfältig problematischen, bisweilen glatt falschen Vorstellungen von Geschichte und Gegenwart stellt die historische Forschung die empirisch fassbare Realität sowie die Pluralität der Perspektiven und Erfahrungen entgegen. Sie lässt die Quellen sprechen und hat eben damit jene aufklärerische Funktion, die heute mehr denn je gebraucht wird. Im besten Falle kann sie zur Befreiung aus dem Kerker beitragen.
Natürlich gibt es noch ganz viele andere Dinge, die Historikerinnen und Historiker besser können als andere. Manches aber – das sollten wir nicht vergessen – können andere auch besser als wir. In den vier von mir genannten Feldern sehe ich aber große Vorteile für die Geschichtswissenschaft, und ich resümiere das noch einmal:
Historiker und Historikerinnen sind gleichermaßen Spezialisten für Komplexität und für Komplexitätsreduktion; sie verfügen in disziplinär einzigartiger Weise über die Langfristperspektive, die ihnen den Blick auf das Gewordensein der gegenwärtigen Welt eröffnet. Sie zeichnen sich durch eine spezifische Methode aus, die der sachlichen Präzision und Überprüfbarkeit historischer Aussagen dient. Und sie sind im besten Sinne aufklärerisch unterwegs, indem sie ihre Erkenntnisse und ihr Wissen einer kritischen – gegebenenfalls auch ideologiekritischen – Orientierung in der Gegenwart dienstbar machen.