von Svea Hammerle

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14. Februar 2022

Bei genauerer Betrachtung sind sich die Medien Fotoalbum und Film überraschend ähnlich: Beide sind kuratiert und inszeniert. Wir sehen nur, was für zeigenswert erachtet wurde, bekommen nur selektive Einblicke in die Wirklichkeit und lassen uns vom Arrangement der Albengestalter:innen und Regisseur:innen leiten. Passend also, dass der rumänische Regisseur Radu Jude die beiden Medien für seinen auf der Berlinale präsentierten Kurzfilm „Amintiri de pe Frontul de Est“ vereint. Aber wie wirkt ein abgefilmtes Fotoalbum auf das Publikum? Und kann es Einblicke in historische Ereignisse bieten?

 

Ein Fotoalbum als Kurzfilm
Der Film beginnt mit dem Einband des querformatigen, beigen Fotoalbums mit roten und blauen Punkten, das links mit einer ausgefransten Kordel gebunden ist und auf einem schwarzen Untergrund liegt. Die dunklen Verfärbungen und Gebrauchsspuren verweisen auf das Alter des Albums, der Titel des Films „Memories From the Eastern Front“ gibt den historischen Kontext.

Als Zuschauer:in wartet man auf die, aus historischen Dokumentarfilmen der öffentlich-rechtlichen Sendern bekannte, melancholisch-nachdenkliche Musik und auf das neutrale Voice-Over, dass das Gesehene kommentiert und in den historischen Kontext einordnet. Entgegen dieser Rezeptionsgewohnheit bleibt der Film jedoch stumm. Dies stellt die zweite Besonderheit des Films dar – Radu Jude versucht nicht nur, ein Fotoalbum filmisch zu inszenieren, er tut dies auch gänzlich ohne Ton. Statt auf musikalische Untermalung und verbale Kontextualisierung zu setzen, werden alle Inhalte ausschließlich visuell vermittelt.
 

Der rumänische Regisseur Radu Jude auf der Berlinale

"Amintiri de pe Frontul de Est" gehört mit seinen knapp 30 Minuten Laufzeit zu den längsten der insgesamt 21 Kurzfilme der Berlinale Shorts, die von der Sektionsleiterin Anna Henckel-Donnersmarck kuratiert wurden. Er inszeniert filmisch ein Fotoalbum des 6. Regiments der rumänischen Armee, die als Verbündete der deutschen Wehrmacht ab dem 22. Juni 1941 am Krieg gegen die Sowjetunion teilnahm. Es werden sowohl ganze Albumseiten als auch Einzelfotos und Ausschnitte gezeigt, die mit Zitaten aus historischen Quellen ergänzt werden.
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Film des Regisseurs auf der Berlinale Premiere feiert. Radu Jude wurde bereits 2015 mit dem Silbernen Bären (Aferim!) und 2021 mit dem Goldenen Bären (Babardeală cu bucluc sau porno balamuc/Bad Luck Banging or Loony Porn) für seine Filme ausgezeichnet. Der diesjährige Beitrag ist bereits die zweite Zusammenarbeit von Radu Jude und Adrian Cioflâncă, der das Wilhelm Filderman Center for the Study of Jewish History in Rumänien leitet.

 

Das Album

Die erste Seite des Albums, säuberlich mit weißem Stift auf schwarzem Grund beschriftet, ermöglicht die geografische und zeitliche Einordnung der Bilder. Die Untertitel übersetzen den rumänischen Originaltext: "Moments of the war against Bolshevism lived by the ‚Regiment 6 Roşiori‘ and ‚Col. Korne Squad. 1941-1942".

Das Fotoalbum wurde von Leutnant Ioan Constantin Nicolau für Oberst Radu Korne angelegt. Darauf lässt die Beschriftung der ersten Seite schließen: „Respektvolle Hommage an meinen Kommandant Oberst Radu Korne“. Der Albumautor, der laut Beschriftung auch selbst fotografiert hat, kommentiert das Gezeigte in überwiegend sachlichen Bildunterschriften.

 

Fotoalben des Zweiten Weltkriegs

Visuell und motivisch unterscheidet sich das Fotoalbum kaum von Alben anderer Kriegsteilnehmer. Am besten erforscht sind sicherlich die Fotoalben von Wehrmachtssoldaten[1], in denen sich immer wiederkehrende Bildmotive finden lassen: Darunter oft der banal erscheinende Alltag der Soldaten, der Vormarsch der Truppen, Panzer und Militärfahrzeuge, das Überqueren von Flüssen, Kriegszerstörungen und Kriegsgefangene, aber auch touristisch anmutende Bilder von malerischen Landschaften und der zivilen Bevölkerung. Häufig sind auch Fotografien von Jüdinnen und Juden, die in den Bildunterschriften meist abwertend und antisemitisch kommentiert werden. Offene Gewalt wird eher selten dargestellt.

 

Gewaltdarstellungen im Album

All diese Topoi finden sich auch im verfilmten Album des 6. Regiments und auch hier wird keine explizite Gewalt gezeigt. Der gewalttätige Kontext des Krieges entfaltet sich jenseits der fotografischen Darstellung, im Zusammenspiel der Fotografien, der Bildunterschriften und der in den Film eingeblendeten Zitate aus historischen Quellen. Bereits das zweite Zitat verweist darauf, dass Oberst Radu Korne und somit auch die auf den Fotografien abgebildeten Soldaten an Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung beteiligt waren.

Wenig später folgt ein Zitat des Oberleutnants Teodor Sfetescu: "In Ozarint, several hundred Jews were rounded up in a square, humiliated and hunted down. The 21st Police Platoon brought about 50-60 Jews, who were then executed outside the village."
Anschließend wird ein Einzelfoto gezeigt, auf dem acht ältere Männer und Frauen zu sehen sind, die skeptisch aber direkt in die Kamera blicken. Unter dem Bild steht "Ozarint - Jidani" (übersetzt „Ozarint - Kikes“, eine antisemitische Beleidigung für Jüdinnen und Juden). In einer Nahansicht werden zwei der abgebildeten Männer gezeigt. Der Ausschnitt lenkt den Blick auf ihre Gesichter und die nur als Schatten erkennbaren Augen. Die Imagination vervollständigt das weitere Schicksal, malt sich die Exekution aus, auch ohne den fotografischen Beweis.
Dass nicht alle rumänischen Soldaten gewillt waren, sich an der Ermordung der Jüdinnen und Juden zu beteiligen, zeigt ein Zitat des Kommandanten des 43. Polizeibataillons: "We conducted the executions in groups of 5. For the first, all soldiers fired in the air, not wanting to hit their targets. (…) to force them to obey, [I] took a weapon and fired on the first two groups with them."

 

Für Kreuz und Glauben

Auffällig ist die wiederkehrende Darstellung religiöser Rituale. Während dies in Fotoalben von Wehrmachtssoldaten kaum eine Rolle spielt, befinden sich im Album des 6. Regiments mehrfach Fotografien, die religiöse Handlungen abbilden. Darunter die Segnung eines Gedenkkreuzes in Paustova, die Weihe einer Kirche in Kitai Gorod, Feldgottesdienste und sogar eine Taufe.  Ein Zitat von Korporal Petru Constantinescu des 6. Regiments verknüpft die dargestellte Religiosität mit den Verbrechen: "Cpl. Constantin Vlasie said we had to go find all the Jews and execute them, as they caused the war to start and they will bring Bolshevism, and we should fight for the Cross and Faith."

 

Die Inszenierung des Albums

Radu Jude zeigt selten ganze Albumseiten, wesentlich häufiger Einzelbilder mit Bildunterschriften und Ausschnitte von Fotografien. Hierdurch geht der ursprüngliche Bezug, den die Fotografien im Album zueinander hatten, verloren. Aber der kontinuierliche Wechsel zwischen diesen drei Ebenen kreiert einen Sogeffekt, der das Publikum in das Geschehen hineinzieht und auch über die 30-minütige Laufzeit seinen Spannungsbogen nicht verliert. Der Film erzeugt das Bedürfnis ihn anzuhalten, sich in die Fotografien zu vertiefen und Einzelheiten zu erkennen. Doch auch die wenigen Sekunden, die die Kamera auf den einzelnen Bildern verweilt, hinterlassen einen bleibenden Eindruck der Szenen des Krieges, der abgebildeten Personen und des Narrativs des Albums.

Der Umstand, dass der Film ohne Musik und Narration auskommt, lässt Raum für die eigene Fantasie und Reflektion. Was zunächst etwas befremdlich anmutet, entpuppt sich im Verlauf des Films als überzeugendes Stilmittel. Die Stille erinnert an Leseräume in Archiven, in denen man sich, nur vom Rascheln der umgeblätterten Seiten begleitet, in eine Quelle vertieft. Die Zuschauenden werden somit selbst zu Historiker:innen. In Zeiten, in denen Museen mit geeigneten Präsentationsformen für Fotoalben als historische Quellen experimentieren, bieten Radu Jude und Adrian Cioflâncă einen interessanten Zugang: Das Fotoalbum als ein für sich selbst sprechender Stummfilm.

"Amintiri de pe Frontul de Est" ist kein leicht zugänglicher Film, überzeugt aber mit seiner Visualität und dokumentarisch-zurückhaltenden Präsentation. Ihm ist ein großes Publikum ebenso zu wünschen wie eine positive Bewertung durch die Jury. Zu sehen ist der Kurzfilm vom 15. bis 20. Februar 2022 im Cubix am Alexanderplatz und im Cinemaxx am Potsdamer Platz.

 

Amintiri de pe Frontul de Est/Erinnerungen an die Ostfront
Regie: Radu Jude, Adrian Cioflâncă (Rumänien 2022)
Datenblatt der Berlinale zum Fim, inkl. aller Aufführungszeiten

 

[1] Vgl. u.a.: Petra Bopp: Fremde im Visier. Fotoalben aus dem zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2012. Sowie die Online-Ausstellung Fremde im Visier. Peter Jahn/Ulrike Schmiegelt (Hrsg.): Foto-Feldpost. Geknipste Kriegserlebnisse 1939–1945, Berlin 2000.