von Annette Schuhmann

  |  

25. November 2021

Seit 2016 ist Andreas Fickers Direktor des Luxemburg Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) an dessen Konzeption, Aufbau und Organisation er maßgeblich beteiligt war. Das C2DH hat in den wenigen Jahren seiner Existenz eine ungeheure Strahlkraft weit über den europäischen Raum hinaus erreicht und gilt hinsichtlich seiner Forschungsleistung und -kompetenz im Bereich der Digital- und der Public History als sogenannte Leuchtturm-Institution. Sowohl die Arbeit des Direktors, als auch die Forschungsleistung des gesamten Instituts werden alle fünf Jahre von einer international besetzten Fachkommission evaluiert. Im September diesen Jahres wurde der Vertrag Andreas Fickers um weitere fünf Jahre verlängert.
Am 21. Oktober 2021 wurde ihm und seinem Team der Outstanding Mentor Award und der Preis für herausragende Wissenschaftsförderung in der Öffentlichkeit vom Nationalen Forschungsfonds Luxemburgs (vergleichbar etwa mit der deutschen DFG) verliehen. Mit diesem Preis werden Forscher*innen und Wissenschaftskommunikator*innen für ihre herausragenden Leistungen ausgezeichnet. Wir gratulieren herzlich!

 

Das folgende Interview mit Andreas Fickers führte Annette Schuhmann am 15. September 2021 in den Räumen des C2DH in Luxemburg.

 

Inhalt: 

1. Das Centre for Contemporary and Digital History = C2DH. Die Gründungsgeschichte 

2. Zeitgeschichte und Politiknähe?  

3. Budget und Evaluierung des C2DH  

4. Pionierleistungen im Bereich der Digital History  

5. Die Geschichtswissenschaften revolutionieren? Oder Geschichte neu erzählen?  

6. Geschichtswissenschaften im Labor  

7. Partizipation in der Wissenschaft  

8. Eine neue Sprache für die Geschichtswissenschaft?  

9. The Art of Failure  

10. Technik versus Fachdisziplin oder neue Formen des kollaborativen Forschens?  

11. Das C2DH – eine Nische oder Ort der Pionierarbeit mit großer Reichweite?  

12. Personalentwicklungskonzepte für alle!  

13. Gleichstellung nach Luxemburger Modell  

14. Auftragsforschung als Experiment  

15. Und zum Schluss: Was treibt Dich an?

 

1. Das Centre for Contemporary and Digital History = C2DH. Die Gründungsgeschichte

Annette Schuhmann (A.S.): Warum gleicht der Name dieses Forschungsinstituts (C2DH) einer chemischen Formel? Warum so kompliziert?

Andreas Fickers (A.F.): Es war nicht die Idee, den Namen nach einer Formel aussehen zu lassen, sondern einfach spielerisch ein Logo für das Zentrum zu entwickeln. Diese Dopplung des "C" in unserem Namen, Center for Contemporary and Digital History, dieses Doppel-C haben wir zu einem C2 gemacht, gefolgt von dem DH, das im englischsprachigen Raum mit den Digital Humanities assoziiert wird. So sind wir auf die Konstruktion C2DH gekommen, die ich spannend finde. Schließlich geht es in der digitalen Geschichtswissenschaft auch um naturwissenschaftliche und technische Fragen und Probleme. In gewissem Sinne sind die Digital Humanities ja eine „trading zone“ zwischen den Humanities und den Sciences. Das konnten wir in diesem Logo symbolisieren.

A.S.: Ich selbst komme aus einem außeruniversitären Forschungszentrum, da sind die infrastrukturellen und finanziellen Verhältnisse relativ klar und transparent. Wer indes finanziert, wer evaluiert das C2DH? Ist das Institut Teil der Universität Luxemburg?

A.F.: Richtig. Es ist kein An-Institut.

Blick auf den Campus der Universität Luxemburg. Rechts das alte Stahlwerk, das nur noch teilweise in Betrieb ist und ein Industriemuseum beherbergt. Links der Campus der 2003 gegründeten Universität. Foto: ©Hanno Hochmuth.

 

A.S.: Das heißt, Finanzierung und die Verwaltung laufen über den Verwaltungsapparat der Luxemburger Universität.

A.F.: Richtig. Die Besonderheit der Uni Luxemburg ist die Struktur von Fakultäten und interdisziplinären Forschungszentren. Eine Fakultät und ein Zentrum haben denselben institutionellen Status und das bringt für die Forschungszentren eine viel größere Autonomie, als wenn es ein An-Institut oder ein Institut innerhalb der Fakultät wäre. Die Dekane der Universität und die Direktor*innen der Zentren haben denselben Status und bilden zusammen mit dem Rektorat auch das Management-Team der Universität.

A.S.: Aus der Website der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität und jener eures Instituts geht hervor, dass beide jeweils vier Projektbereiche, vier Forschungsachsen haben, die sich thematisch überschneiden. Themen etwa wie Grenze/Identität und Macht finden sich auch bei euch. Das C2DH hat dagegen Aspekte des technischen und spielerischen ausgebaut. Aber warum diese thematische Dopplung? Handelt es sich bei den Dekan*innen der Universität und dem Direktor des C2DH wirklich um ein Team, das sich abstimmt?

A.F.: Um das zu verstehen, muss man auf die Gründungsgeschichte des Zentrums schauen, sonst versteht man diese Dopplung und die dahinter liegende Logik nicht.
Die Gründung des Zentrums geht auf eine politische Initiative zurück: Nach über sechzig Jahren (im Dezember 2013, d. Red.), kam es im Nachkriegsluxemburg zum ersten Mal zu einer Regierungsbildung ohne Beteiligung der christlich-sozialen Partei. Die damaligen Koalitionspartner, die Grünen, die Sozialdemokraten und die Liberalen, wollten ein Zentrum für die zeithistorische Forschung. In Luxemburg wurde dieses Zentrum IHTP genannt, Institut d'histoire du temps présent. Vorbild waren das ZZF, das IfZ beziehungsweise das IHTP in Paris. Warum wollte man das? Ziel war es, den lange gepflegten Opfer-Mythos Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg zu brechen. Man wollte damit beginnen, seriöse zeithistorische Forschung, gerade zum Thema Luxemburg im Zweiten Weltkrieg, zu starten und mit der liebgewonnenen Legende von den Luxemburger*innen als mehrheitlich widerständig endlich brechen. Dieses Opfer-Narrativ wurde seit den 1950er Jahren ganz gezielt von der christlich-sozialen Partei gefördert.

A.S.: Ähnlich wie in Österreich, wo der Opferstatus bis in die 1990er Jahre nahezu ungebrochen zum nationalen Narrativ gehörte.
Wann fing das Umdenken in Luxemburg an?

A.F.: Hier erst im Jahr 2013. Luxemburg ist, was die Aufarbeitung im europäischen Vergleich angeht, ganz weit hinten. Ab 2013 existierte ein klarer politischer Wille das anzugehen. Aber es sollte eben ursprünglich außeruniversitär geschehen. Das war die Idee der Koalition. Wir haben aber damals, da war ich schon am Historischen Institut der Uni beschäftigt, hart dafür gekämpft, dass dieses Forschungsinstitut in die Universität kommt.

A.S.: Warum?

A.F.: Weil es schon sogenannte außeruniversitäre Forschungsinstitute im Land gab, die unter der christlich-sozialen Führung gegründet wurden: etwa das Centre Virtuel de la Connaissance sur l'Europe (CVCE), das Centre de documentation et de recherche sur la Résistance (CDRR), das Centre de documentation et de recherche sur l’enrôlement forcé (CDREF) und das Centre d’études et de recherches européennes Robert Schuman (CERE). Das waren private Forschungseinrichtungen, die von den ehemaligen Ministerpräsidenten gegründet wurden. In einigen dieser Institutionen wurde der Mythos von Luxemburg als Opferstaat eher zementiert und fortgeschrieben, statt ihn kritisch zu dekonstruieren.

A.S.: Das war offenbar die ihnen zugewiesene Aufgabe?

A.F.: Das weiß ich nicht. Für uns war aber klar: die einzige Chance, eine politische Einflussnahme in Zukunft zu vermeiden, ist die Eingliederung eines Forschungszentrums in die Universität. Nur dadurch kann unserer Auffassung nach garantiert werden, unabhängig und in Freiheit zu forschen. Und schließlich haben wir die Regierung auch davon überzeugt. Aus der Politik kam jedoch der Wunsch, dass ein neues Institut auch eine große Sichtbarkeit innerhalb der Universität bekommen sollte und nicht einfach ein weiteres Institut an der Fakultät für Geisteswissenschaften entstehen würde. Man beschloss, daraus ein Interdisciplinary Centre (IC) zu machen, von denen es bereits zwei gab: das LCSB, das Luxembourg Centre for Systems Biomedicine, und das SnT, das Interdisciplinary Centre for Security, Reliability and Trust. Dann beschloss man ein IC für die Zeitgeschichte zu gründen.
Als ich zum Direktor dieses neuen Zentrums berufen wurde, habe ich mich stark dafür gemacht, nicht nur ein zeitgeschichtliches, sondern vielmehr ein Zentrum für digitale Zeitgeschichte aufzubauen. Nicht zuletzt um uns auch im internationalen Kontext strategisch zu positionieren und den Fokus auf Methoden der digitalen Zeitgeschichte zu legen. Das wurde dann auch verstanden und so kam es zur Gründung dieses ICs. Es gab intern eine Riesendebatte, darüber was nun mit dem Historischen Institut passieren würde? So sind wir schließlich zu einer Form der Arbeitsteilung gekommen: die zeithistorische Forschung findet bei uns statt, Themen der longue durée sind im Historischen Institut angesiedelt. Aber es gibt natürlich auch viele Projekte, bei denen wir zusammenarbeiten. Und das Wnichtige ist: die Lehre im Bachelor, Master und in der Doktorand*innenausbildung wird von der Fakultät organisiert und nicht von uns. Aber die Professor*innen des C2DH sind verpflichtend in die Lehre eingebunden, allerdings mit einem geringeren Lehrdeputat als die Kolleg*innen der Fakultät. Anfangs gab es, das möchte ich gar nicht verschweigen, Spannungen, weil man sich bei den Historiker*innen dachte, warum kriegt jetzt ausgerechnet die Zeitgeschichte dieses Zentrum – ein Upgrade sozusagen – und der Rest wird abgehängt. Aber auch das war lediglich dem politischen Einfluss geschuldet. Die Regierung wollte vermeiden, dass das komplette Historische Institut in das neue Zentrum wechselt, da es ihrer Meinung nach Kolleg*innen am Institut gab, die der christlich-sozialen Partei sehr nahestanden. Da wollte man eine scharfe Trennung. Es ist ganz spannend, wie sich diese politische Debatte in der institutionellen Entstehungsgeschichte des C2DH niederschlägt. Wir haben dann sehr schnell ein „Agreement of Privileged Partnership“ aufgesetzt, und insgesamt profitiert die Geschichtswissenschaft an der Universität Luxemburg enorm von diesem „Upgrade“, nicht nur institutionell, sondern auch durch die jetzt vorhandene Forschungsinfrastruktur.

Die Universität Luxemburg ist architektonisch sehr spannend. Wobei die Entscheidung, ob der Campus auf dem Gelände des ehemaligen Stahlwerkes entstehen soll, umstritten war. Links: Blick auf den Campus: es stehen sich die Reste des Stahlwerkes und die Universitätsbibliothek gegenüber. Rechts: Auch in den Räumen der Bibliothek finden sich Elemente der Industriearchitektur neben kleinen Lesezelten, Fotos: ©Annette Schuhmann, September 2021.

 

2. Zeitgeschichte und Politiknähe?

A.S.: In einer idealen Welt hat es überhaupt keine Bedeutung zu haben, wer welcher Partei angehört oder welche politische Überzeugung er/sie vertritt. Die Gründungsgeschichte des C2DH zeigt jedoch, dass die politische Ausrichtung der einzelnen Wissenschaftler*innen sehr transparent war. Schlug sich das in den Diskussionen um Struktur und Themenwahl nieder?

A.F.: Nein, in der Themenwahl überhaupt nicht. Bevor ich mein Amt angetreten beziehungsweise angenommen habe, habe ich ganz klar gesagt, dass ich das nur mache, wenn es keinerlei politische Einmischung in die inhaltliche Ausrichtung der Forschungen am Zentrum gibt. Das hat auch nie stattgefunden. Es ging bei den Debatten wirklich nur um das Format der institutionellen Etablierung. Von politischer Seite wollte man hier ein Zeichen setzen. Meine Rolle war es vor allen Dingen, die inhaltliche Ausrichtung und die strategische Vision des Zentrums zu entwickeln; ich wollte hier gezielt die Nische des Digitalen besetzen und das mit der Konzentration auf die Zeitgeschichte. In Luxemburg wird schließlich irgendwann die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aufgearbeitet sein, und was dann? Ich denke, diese Strategie ist aufgegangen. Wir haben im Feld Digital History international Sichtbarkeit erlangt und sind für alle anderen zeithistorischen Institute wegen unserer Fokussierung auf digitale Methoden ein interessanter Kooperationspartner.

 

3. Budget und Evaluierung des C2DH

A.S.: Ich verstehe das so, dass die Finanzierung nicht bzw. kaum diskutiert wurde. Die wurde sozusagen durchgewunken und unabhängig von Evaluierungen gewährt. Du musstest dich nicht streiten?

A.F.: Ich muss mich ständig um das Budget streiten (lacht).

A.S.: Okay, um das Budget ja, aber unabhängig von der jeweiligen inhaltlichen Ausrichtung des C2DH?

A.F.: Ja. Wir sind ja erst fünf Jahre alt. Ich habe gerade jetzt (am 1. September, d. Red.) mein zweites Mandat als Direktor begonnen. Dieses Mandat ist immer begrenzt auf fünf Jahre. Dafür wurde ich von einer internationalen Kommission evaluiert. Im Ergebnis dieser Evaluierung hat der Conseil du Gouvernance der Universität entschieden, dass ich das Angebot für ein zweites Mandat für die nächsten fünf Jahre bekomme. Dann sehen wir weiter.
Meine Rolle war es, dieses neue IC in das Ensemble der bestehenden Strukturen einzubinden. Da gibt es natürlich auch Kämpfe um Ressourcen. Das war nicht immer einfach, auch wenn es den Willen gab, uns zu etablieren. Aber auch die Universität kriselte in den letzten Jahren, ein Rektor musste gehen, weil es Probleme mit den Finanzen gab, hinzu kam die Covid-Pandemie. Die Bedingungen waren also nicht günstig in der Phase der Etablierung. Ich denke, es ist uns im Laufe von fünf Jahren trotzdem erstaunlich gut gelungen, von Null  ich fing ja mit meiner Assistentin Brigitte an  auf über hundert Leute zu wachsen und dabei neue Strukturen innerhalb des Zentrums zu kreieren, die die Vision umsetzen, wie wir Geschichte machen wollen. Und das ist für mich das Faszinierende, dass wir neue Wege gehen können.

 

4. Pionierleistungen im Bereich der Digital History

A.S.: Davon profitiert die Universität schließlich auch. Das C2DH gilt mittlerweile als Magnet für alle, die sich für Digital History und für innovative Methoden interessieren. Wie hat sich das auf die Zahl der Studierenden ausgewirkt?

A.F.: Ja, wir haben eine Pionierleistung innerhalb der Universität erbracht. In den letzten zwei Jahren haben wir an einer digitalen Strategie für die ganze Universität gearbeitet. Vieles von dem, was da definiert wurde, wurde von uns angestoßen. Zum Beispiel, wenn es um Digital literacy von Studierenden geht, aber auch um die Idee von „train the trainers“. Vieles von dem, was wir ausprobiert und auf die Beine gestellt haben, ist jetzt Teil der allgemeinen Strategie der Universität im Bereich des Digitalen geworden.

 

5. Die Geschichtswissenschaften revolutionieren? Oder Geschichte neu erzählen?

A.S.: Im Mittelpunkt der Aktivitäten des C2DH, so ist es auf der Website zu lesen, steht die Suche nach einem neuen Verständnis und innovativen Formen des Erzählens von Geschichte. Das hört sich fantastisch an, aber was genau meinst Du damit?
In Deutschland zumindest hat sich Digital History nur in bestimmten Gruppen durchgesetzt, das geht bis hin zu einer regelmäßigen Abwertung selbst der digitalen Vermittlung geschichtswissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Ein Feld also, das vielen Wissenschaftler*innen noch fremd erscheint. Was heißt innovativ? Was sind die neuen Formen des Erzählens?

A.F.: Ich betone immer wieder, dass wir uns von der Rhetorik des Revolutionären distanzieren sollten. Es geht nicht um Brüche oder die Idee der „radical innovation“, die mit dem Vergangenen bricht. Nein! Wir befinden uns lediglich in einer neuen Phase in den Wissenschaften allgemein, in der die Digitalisierung alle Bereiche der Forschung und alle Disziplinen mit einbezieht. Da sind die Geschichtswissenschaften keine Ausnahme.
Unser Fach zeichnet sich vielleicht nur durch eine noch konservativere Haltung gegenüber Neuerungen aus, als dies in anderen Disziplinen der Fall ist. Deshalb spreche ich auch von einem „Update“ der historischen Hermeneutik. Wir müssen darüber nachdenken, wie sich das Denken, Machen, und Erzählen von Geschichte im digitalen Zeitalter verändert. Das beginnt bei der Recherche, der Quelleninterpretation bis hin zur Darstellung unserer Erkenntnisse. In all diesen Dimensionen schlägt das Digitale durch und fordert uns dazu auf, die Grundfesten des Faches neu zu überdenken.
Wir haben uns mittlerweile eingerichtet in einem  Achim Landwehr nennt das so schön, in einem Quellenglauben  in einer Epistemologie, die uns vorgaukelt, dass wir eine harte Wissenschaft betreiben. Das tun wir aber nicht. Wie wissenschaftlich sind wir? Was sind die Grundlagen unserer Methoden, auf die wir uns berufen, um sagen zu können, wir betreiben Wissenschaft? Was sind die Evidenzkriterien?
Wie können wir, das ist sehr wichtig für mich, auf Basis digitaler Datenbestände und Analysewerkzeugen Geschichte neu erzählen, neu argumentieren? Zu diesen fundamentalen Fragen durchzudringen liegt für viele Historiker*innen in weiter Ferne.

 

6. Geschichtswissenschaften im Labor

A.S.: Mein Eindruck ist, dass Du, vielleicht um den konservativen Historiker*innen die Hand zu reichen, die Vokabel des Kontinuitätsbruchs vermeidest. Dabei reicht das „Überdenken“ unseres Faches bis in die Erzählformen hinein. Wie wird Geschichte erzählt? Wenn man eure Projekte, etwa Yes, we care oder das Covid-19 Projekt betrachtet, die beide sehr partizipativ angelegt sind, wird eine konservative oder traditionell abgeschottete, vor allem aber rein schriftliche Wissenschaft durchlässig. Brauchen wir also ein neues Vokabular? Wir brauchen ja nicht zuletzt auch viel neues Material, um diese Geschichte(n), die ihr vermittelt, zu erzählen. Es klingt nahezu als hätte das C2DH Laborcharakter, als sei es eine Werkstatt. Was steht dahinter? Was ist das Ziel, und schließlich, was ist die Motivation das Fach neu zu denken?

A.F.: Ich nehme diese Metapher des Labors oder des Experimentierens sehr ernst. Für mich ist es das A und O wissenschaftlicher Arbeit. Das ist Wissenschaft. Wissenschaft heißt, Unsicherheit zu erzeugen, nicht Bekanntes zu reproduzieren. Das verlangt aber auch, sich auf dieses Risiko einzulassen und ein Projekt auch dann zu starten, wenn man nicht schon von vornherein weiß, was dabei herauskommt. Allerdings prägt dieses „Vorauswissen“ unseren Wissenschaftsalltag, gerade wenn es um die Förderung von Projekten geht. Man muss bereits im Projektantrag bis ins kleinste Detail beschreiben, was die Resultate dieses Projektes sein werden. Das heißt, man macht eigentlich nur das, was man schon weiß. Das ist für mich keine Wissenschaft mehr.
Wir versuchen wirklich neue Wege zu gehen, die aber auch bedeuten, dass wir oft nicht wissen, wo wir landen. Das heißt, dieses Experimentieren wirklich umzusetzen, sich mit neuen Werkzeugen in die Werkstatt des Historikers, der Historikerin zu begeben und zu sagen, wir probieren das mal. Vielleicht klappt es, vielleicht klappt es nicht. Das ist für mich der Erkenntnismehrwert dieses Ansatzes. Nicht, dass ich eine revolutionäre These habe, oder dass ich in ein bekanntes Forschungsfeld mit dem großen Anspruch komme, eine komplett neue Interpretation zu liefern. Sondern für mich geht es darum, Fragen zu stellen, um das Experimentelle und Kreative und um neue Möglichkeiten der Partizipation in der Deutung und Interpretation von Geschichte. Diese Idee von der „shared authority“ im Bereich der Digital Public History versuchen wir ernsthaft anzugehen. Das heißt nicht, nur zu sagen, wir brauchen Armeen von Amateuren, die uns in freiwilliger „Sklavenarbeit“ ihre Quellen, ihre Informationen zur Verfügung stellen, sondern sie miteinzubinden in die Darstellung und die Interpretation ihrer Geschichten. Das ist für viele akademische Historiker*innen ein absolutes „no go“. Viele meinen noch immer, die Deutungshoheit muss beim Professor bleiben, die anderen können lediglich fleißig mitarbeiten. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Demokratisierung von Wissenschaft, die sich hier stellt. Ich denke, man sollte versuchen, hier neue Wege auszuloten.

 

7. Partizipation in der Wissenschaft

A.S.: Vor diesem Hintergrund wird die traditionelle Geschichtswissenschaft porös. Wenn Geschichtswissenschaft partizipativ wird, stellen sich automatisch neue Fragen. Im Labor zu arbeiten heißt, sich auf ein ganz neues Feld einzulassen, auf eine lebende Quellengattung. Damit einher würde doch eine strukturelle Veränderung der Institutionen der Geschichtswissenschaften gehen. Das C2DH hat in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet. Offen ist, inwieweit Eure Arbeit ausstrahlen wird?

A.F.: Dieser schmale Grat zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungsarbeit ist für die Zeitgeschichte natürlich ein ureigenes Problem beziehungsweise eine Herausforderung. Ich denke, da machen wir schon einen klaren Schnitt in Luxemburg.  Wir haben gesagt, das C2DH ist für die geschichtswissenschaftliche Forschung und das Experimentieren im wissenschaftlichen Raum da. Wir sind nicht Hauptakteur im Feld der Erinnerungslandschaft in Luxemburg, das noch immer sehr stark politisch konnotiert ist. Dafür hat die Regierung das „Comité pour la mémoire de la Deuxième Guerre mondiale“ gegründet, wo verschiedene Akteure vertreten sind. Dazu gehören die jüdische Gemeinschaft, die sogenannten Zwangsrekrutierten und Vertreter*innen des Widerstands. Mit all diesen Gruppen organisieren wir zwar Veranstaltungen, aber es ist nicht unsere Aufgabe in diesen Diskurs hineinzuwirken. Wir liefern vielmehr neues Wissen, um die Erinnerungsarbeit voranzutreiben.

A.S.: Im Projekt „Yes, we care“ äußern sich Zeitzeug*innen aus der Pflege vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie. In dem Moment, wo Bürger*innen und Zeitzeug*innen die Möglichkeit bekommen, sich selbst in unserer Arbeit darzustellen, wie sie es bei „Yes, we care“ tun, bekommt die geschichtswissenschaftliche Arbeit zwar einen anderen Schwerpunkt und dennoch wird das ganze Projekt von Historiker*innen evaluiert und kontextualisiert, es werden neue Fragen gestellt. Wie verändert sich durch diese Arbeitsweise das Fach? Müssen sich nicht auch die Strukturen verändern, wenn wir Citizens (Bürger*innen, d. Red.) in und an unserer Wissenschaft partizipieren lassen?

Startseite des Projektes #Yes we care. Im Rahmen des Projektes wurden und werden im Verlauf der Corona-Pandemie Stimmen des Pflegepersonals in Luxemburg gesammelt (Leiter des Projektes: Benoit Majerus).

 

A.F.: Das Partizipative ist vor allem in den Projekten, die wir im Bereich der Public History realisieren, von großer Bedeutung. Thomas Cauvin hat seit kurzem eine Professur am C2DH inne. Er leitet das ATTRACT-Projekt des Fonds National de la Recherche (FNR) mit dem Titel „Digital Public History as the New Citizen Science of the Past“ (PHACS).
Die Idee des Citizens, der in die Forschung eingebunden wird, ist zu erforschen. Wir wissen noch nicht, wie eine echte geteilte Autorität in diesem Bereich aussehen könnte. Und ob es überhaupt gelingen kann. Deswegen erarbeitet Thomas in seinem Projekt gezielt Fallstudien, in denen er in unterschiedlichen Kontexten mit diversen Akteuren arbeitet, zum Beispiel mit Museen, mit lokalen Geschichtsvereinen oder heterogenen Publika in Form von Crowdsourcing Aktivitäten.
Die Frage ist, wie können wir in unterschiedlichen Settings die Idee der Partizipation neu denken? Wir haben noch keine fertigen Antworten darauf, sondern machen das mit einer selbstreflexiven Herangehensweise und fragen uns: wie können wir uns im Laufe des Prozesses anpassen? Wie können wir die Schrauben ein wenig neu stellen, um dann vielleicht andere Formen der Erzählung zu produzieren? Da hilft nur das Experimentieren mit neuen Formen und Formaten. Ich habe eine Doktorandin, Dominique Santana, die eine interaktive Webdokumentation zu den Beziehungen zwischen Luxemburg und Brasilien im Bereich der Stahlindustrie entwickelt. Dieses Format setzt sehr stark auf partizipative Elemente. Eine andere Doktorandin, Anita Lucchesi, hat die Website Memorecord zur Migrationsgeschichte entwickelt. Hier wird über Social Media versucht, Erzählungen über Migrationserfahrungen in unterschiedlichen Generationen zu sammeln, sichtbar zu machen, zu diskutieren. Diese Beispiele zeigen, dass das Digitale ganz neue Möglichkeiten bietet.

 

8. Eine neue Sprache für die Geschichtswissenschaft?

A.S.: Nur sind wir für diese Methoden in der Regel nicht ausgebildet. Dadurch wird der Laborcharakter so wichtig. Ich bemerke beispielsweise bei vielen Autor*innen von zeitgeschichte|online eine große Verunsicherung, wenn es allein darum geht Zeitgeschichte im Film zu beschreiben, zu analysieren und das Ganze in möglichst essayistischer und verständlicher Form zu schreiben. Die Vokabeln für diese Sprache scheinen nicht auszureichen?

A.F.: Deswegen finde ich, dass gerade im Bereich der Zeitgeschichte die Media literacy noch wichtiger ist als die Digital literacy. Seit gut 120 Jahren existiert der Film, seit fast 200 Jahren die Fotografie, seit mehr als 110 Jahren die Tonaufnahme. Und man ist noch immer ein*e Exot*in in der Zeitgeschichte, wenn man diese Quellengattungen seriös wahrnimmt und sie eben nicht nur als Illustration in einer schriftlichen Erzählung verwendet, sondern sie zum Bestandteil der historischen Argumentation macht. Über hundert Jahre! Und so wird es auch mit dem Digitalen noch lange sein. Es wird Generationen dauern, ehe wir uns eine neue Form des Lesens aneignen, die wir als "Scalable Reading" bezeichnen, bei dem das explorative Lesen großer Textcorpi mittels digitaler Werkzeuge sinnvoll mit dem „close reading“ einzelner Quellen und Dokumente kombiniert wird. Das wird noch zwei Generationen dauern. Aber egal.
Wir können ja nicht sagen, wir warten mal bis das sich durchgesetzt hat. Nein! Wenn niemand das macht, wird es sich nie durchsetzen, wie wir es mit dem Film und der Fotografie in der Zeitgeschichte heute kennen. Da ich aus der Mediengeschichte und der Technikgeschichte komme, habe ich natürlich eine andere Sensibilität dafür. Ich habe mir zudem gesagt, ich muss selbst damit experimentieren, sonst kann ich das meinen Studierenden nicht vermitteln. Deswegen habe ich in den letzten Jahren Videoessays gemacht, Podcasts produziert, Filme gedreht, Web-Documentaries entwickelt. Momentan schreibe ich an einem Comic. Man kann das nur weitergeben, wenn man es selbst macht.

 

9. The Art of Failure

A.S.: Das heißt, Du vermittelst nicht nur Dein eigenes Experiment, sondern Du regst an, zu experimentieren. Das inkludiert die Möglichkeit des Scheiterns. Wie gehst Du damit um? Das Thema Scheitern ist sowohl im Kolleg*innenkreis als auch unter Studierenden ein interessantes aber häufig tabuisiertes Phänomen. Wie wird im „Labor“ mit der Möglichkeit und der Realität des Scheiterns umgegangen?

A.F.: Wir müssten als erstes definieren, was Scheitern heißt. Wir nennen es hier „The Art of Failure“. The Art of Failure bedeutet für mich, dass der Erkenntnisgewinn und auch die playfulness die darin steckt, bei weitem das aufwiegt, was vielleicht als Scheitern definiert wird. Es ist möglich, dass vielleicht nicht das erhoffte Produkt dabei herauskommt. Das ist ja das Problem, dass wir viel zu häufig ganz klare Ideen davon haben, wie das Endprodukt aussehen soll. Wir brauchen mehr Offenheit für das Unerwartete.

A.S.: Das wird doch, wir hatten das schon, in der Antragstellung bereits verlangt. In der Regel solltest Du im Summary eines DFG-Antrags erklären können, was am Ende des Projektes herauskommen wird.

A.F.: Experimentieren heißt hier: Offenheit des Prozesses. Das ist doch eigentlich das, was Geschichtswissenschaft immer bedeuten sollte. Die Vergangenheit als offene Zukunft zu studieren. Das setzen wir methodologisch um.
Wenn ich mir etwa bei Anita die Website anschaue, die sie entwickelt hat: 80 % ihrer Zeit während der Doktorarbeit hat sie für die Entwicklung des Portals verwand. Wir müssen also akzeptieren, dass das der intellektuelle Output einer Doktorarbeit sein kann. Und nicht noch verlangen, dass parallel dazu die 300-, 400-, 500-seitige Doktorarbeit geschrieben werden soll. Das geht nicht. Gerade im Bereich der Digital Humanities verwenden Forscher*innen viel Zeit und Energie, die in Datensammlung, -formatierung, -kuratierung, -analyse usw. gehen. Das ist das Hauptprodukt der wissenschaftlichen Forschung. Diese Arbeitsleistung, die sowohl methodologisch wie konzeptionell anspruchsvoll ist, müssen wir als wissenschaftlichen Beitrag ernst nehmen. Wir brauchen hier eine neue „recognition culture“, in der diese Arbeit anerkannt wird.

 

10. Technik versus Fachdisziplin oder neue Formen des kollaborativen Forschens?

A.S.: Im Labor gibt es viele Arbeitsschritte und die sind meistens technisch konnotiert. Das heißt, ich muss den Umgang mit den „Instrumenten“ erlernen. Wie vermittelt Ihr die technischen Fähigkeiten? Wir haben am ZZF beispielsweise einen komplett unterbesetzten IT-Bereich. Die Personaldecke würde nicht im Ansatz dafür ausreichen, Projekte mit dem von Dir genannten Laborcharakter anzustoßen. Für unsere Online-Projekte heißt das: Wir schaffen es, unseren Alltag zu bewältigen, für die Weiterentwicklung der Websites, geschweige denn für die Umsetzung neuer innovativer Ideen, bleibt keine Zeit. Uns fehlt der Raum, die Zeit und die technische Kompetenz, unsere Projekte weiterzuentwickeln. Das bedeutet im Ernstfall, dass es uns bald nicht mehr geben wird.
Wie sind am C2DH die Techniker*innen integriert? Existiert eine Personalunion, ist jede*r Historiker*in auch Programmierer*in? Wieviel personelle und finanzielle Ressourcen habt ihr dafür?

A.F.: Für mich stellt sich derzeit ein fundamentaler Umbruch in der finanziellen aber auch personellen Etablierung von Forschungszentren oder von Instituten in den Geisteswissenschaften dar. Wenn man die Herausforderung des Digitalen ernst nimmt, muss man in die digitale Forschungsinfrastruktur investieren. Man kann nicht sagen, wir haben zwei IT-Mitarbeiter*innen, die sich normalerweise um das Netzwerk kümmern und wir machen digitale Geschichte. Digital Humanities benötigen eine völlig andere Forschungsinfrastruktur als die klassische Forschung in den Geisteswissenschaften. Und wenn man da nicht investiert, dann kann man keine innovative Forschung betreiben. In den meisten historischen Instituten ist es ganz klar. Wenn überhaupt Geld da ist, dann wird es in eine wissenschaftliche Stelle gesteckt und gesagt, es ist die disziplinäre Kompetenz, die zählt, nicht die technische oder die methodologische.
Das ist bei uns anders. Wir haben uns von Beginn an anders aufgestellt, sodass es hier zu einem gesunden Gleichgewicht kommt. Dies ist eine der Lehren, die wir aus zwanzig Jahren Digital Humanities gelernt haben: nämlich, dass viele Projekte daran „gescheitert“ sind, dass man Techniker*innen, Programmierer*innen oder Designer*innen als „Support“ gesehen hat. Nach dem Motto: wir haben historische Fragestellungen, bitte liefert uns das Werkzeug und die Daten und wir drücken auf den Knopf und dann bekommen wir neue Erkenntnisse. Von wegen! So funktioniert es nicht. Das funktioniert nur im Rahmen eines Co-Designs. Dieser Ansatz des Co-Designs in der „trading zone“ zwischen unterschiedlichen Disziplinen denkt die Rolle digitaler Infrastrukturen und Werkzeuge von Anfang an mit. Das heißt, wenn wir über ein neues Forschungsprojekt nachdenken, sitzt da nicht nur eine*r Fachhistoriker*in, sondern auch die Developer, die Webdesigner und Data-Manager dabei. Alle gemeinsam klären die Frage „wie können wir das umsetzen“? Dieses Co-Design zieht sich dann von der Entwicklung der Fragestellung über die gesamte Projektdauer durch und spiegelt sich schließlich im Ergebnis, beziehungsweise im Produkt.

A.S.: Im März 2021 fand die Tagung „Digital History. Konzepte, Methoden und Kritiken digitaler Geschichtswissenschaften“, organisiert von der AG Digitale Geschichtswissenschaft des VHD, statt. Mir fiel im Verlauf der Tagung auf, dass in vielen Panels eine sehr hohe technische Kompetenz von den Teilnehmer*innen verlangt wurde. Auf all jene, die sich damit bisher kaum beschäftigt haben, muss das abschreckend gewirkt haben. Ich stelle überhaupt eine Kluft zwischen den Digital Historians auf der einen Seite und den „Traditionalist*innen“ auf der anderen Seite fest. Dieser Zustand ist für das Fach insgesamt kontraproduktiv.

Wir haben also auf der einen Seite die „Nerds“, auf der anderen Seite diejenigen, die sagen, wir brauchen das alles nicht. Wir schreiben Bücher und basta. Wie könnte man diese Kluft für die nächste Generation überbrücken?

A.F.: Diese Kluft ist eine bleibende Herausforderung, nicht nur für uns hier am Zentrum, sondern für alle in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Warum? Weil das Innovationstempo im Bereich des Digitalen von der technischen Seite vorgegeben wird. Der Innovationszyklus in dem Bereich ist ungeheuer hoch. Die Aneignung und die Adaption von neuen Methoden in der Institution Universität hingegen langsam, sodass dieser Spalt ständig größer wird. Das erfahren wir alle und bei vielen entsteht ein Gefühl der Ohnmacht. Das schlägt sich dann in einer Haltung nieder, in der es heißt: mache ich nicht, brauche ich nicht, ich bleibe bei dem Bewährten. Das ist für mich aber kein Weg in die Zukunft.
Man muss, meiner Meinung nach, an drei Schrauben drehen. Die erste ist die Ausbildung. Wir müssen den Studierenden ab dem ersten Semester eben jenes Handwerkzeug beibringen, das sie auf digitales Arbeiten vorbereitet. Das digitale Arbeiten darf keine Spezialhilfswissenschaft sein, sondern muss zu den Grundwissenschaften gehören. Zudem sollte man allen Studierenden im ersten Semester Zotero beibringen und erklären, dass damit im Verlauf des gesamten Studiums sämtliche Literatur verwaltet werden kann und wenn Ihr das jetzt klug macht, werdet Ihr später sehen, wie hilfreich das sein kann. Und wenn Ihr mit Quellen arbeitet, installiert Tropy, damit könnt Ihr Eure Quellen verwalten und im Laufe eures Studiums ergänzen. Am Ende werden die Studierenden sehr viel Nutzen daraus ziehen. Also von Anfang an.
All das, was man früher in den Grundwissenschaften lernte, das muss heute ein digitales Update erfahren.

Studierende und Doktorand*innen im Open Space des Instituts. Was aussieht, wie eine Werbebroschüre einer um Nachwuchs ringenden Universität ist am C²DH ziemlich real: Wichtiges Merkmal für Arbeit und Forschung am Institut: Technikaffinität und Teamfähigkeit, Foto: mit freundlicher Genehmigung des C²DH.

 

Das zur Lehre. Das zweite ist für mich „train the trainers“. Wir haben hier am Zentrum ein systematisches Trainingsprogramm entwickelt und drei sogenannte „Trading Zone Initiatives“ gestartet. Eine davon im Bereich der Skills. Wir haben gefragt, was braucht ihr hier, wo müsst ihr euch weiterbilden, um neue Werkzeuge für eure historische Forschung nutzen zu können? Es gibt hier ein Trainingsangebot, das auf den unterschiedlichen Kompetenzen basiert, die wir im Haus bereits haben. Wenn wir sie nicht haben, kaufen wir sie extern ein. Das heißt, konstante Weiterbildung im Bereich der Skills.

Drittens ist das, was ich eben als Co-Design auf Projektebene beschrieben habe, von großer Bedeutung. Das Problem ist ja, dass die meisten Forschungsprojekte eine Laufzeit von zwei, drei, max. vier Jahren haben. Dabei kommt es manchmal zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Informatiker*innen, Developer*innen und Historiker*innen. Manchmal ist diese Zusammenarbeit auch nicht fruchtbar. Aber nach vier Jahren ist in der Regel Schluss. Dann geht man wieder getrennte Wege. Drei Jahre später beginnt ein neues Projekt und man fängt wieder von vorne an, das Vokabular des Anderen zu lernen und sich mühsam über teils basale Fragen zu verständigen. Somit kommt es praktisch permanent zu einer Neuerfindung des Rades auf Projektebene, wobei der Erkenntnisfortschritt sehr begrenzt bleibt. Damit bleibt das Wissen statisch.
Ich denke, wir brauchen institutionelle Strukturen, in denen die technischen und die fachhistorischen Kompetenzen parallel wachsen können. Institutionen, in denen es wirklich ein Trading gibt und Wissenschaftler*innen, die zehn, zwanzig, vielleicht sogar dreißig Jahre bleiben und miteinander arbeiten und so echte interaktionale, interdisziplinäre Expertise entwickeln.

A.S.: Wir drehen uns ein wenig im Kreis: Die Vorstellung von Institution, die Du schilderst, bedeutet doch, ein völlig neues Fach zu entwickeln. Die aktuell an Universitäten und Forschungsinstituten angebotenen Fortbildungen für Führungskräfte haben mit den Digital Humanities oder der Digital History in der Regel nichts zu tun. Von den Befristungen des Mittelbaus gar nicht zu reden. Aus diesen, ich nenne sie jetzt einmal „idealen Forschungsinstitutionen“, die Du schilderst würde zudem ein neuer Typus Wissenschaftler*in hervorgehen. Wissenschaftler*innen die sich auf Teamarbeit einlassen können und ihre Eitelkeit in Zaum halten. Dazu braucht es Strukturen, sprich Finanzierungen, die eine langfristige Arbeit auf hohem technischem Niveau, mit langfristigen Arbeitsverträgen zulassen.

A.F.: Das ist natürlich eine strategische Entscheidung der Universität, zu sagen, wir investieren in die interdisziplinären Zentren, in den Bereich der Digital Humanities oder eben wie bei uns in die Digital History.
Wir glauben, dass wir hier leuchtturmartig eine Nische mit relativ geringer Finanzierung schaffen und damit internationale Sichtbarkeit erzeugen können. Das ist die kluge Strategie der Universität Luxemburg als „latecomer“ gewesen. Die Universität existiert ja erst seit 18 Jahren.
Uns war klar, dass wir nicht mit den Max-Planck-Instituten oder ähnlichem konkurrieren können. Wo sind also die Nischen, in denen wir mit nahezu homöopathischen Dosen eine Wirkung erzeugen können, die international ausstrahlt? Ich finde, es war eine kluge Entscheidung der Uni zu sagen, wir machen das.
Ich habe damals gesagt, Zeitgeschichte allein reicht nicht. Dann sind wir das neue ZZF in Luxemburg oder IfZ. Das wäre auch schön. Aber das ist für mich nicht die Zukunft. Die wichtige Message für mich – und dies ist der Versuch eine Antwort auf deine Frage – ist nicht ein neues Fach. Ich glaube nicht, dass wir hier Disziplinbildung betreiben. Wir sind im Bourdieu‘schen Sinne in einem wirklich neuen Feld unterwegs. Was für mich dieses Feld auszeichnet, ist die neue Form des kollektiven wissenschaftlichen Arbeitens und das Ende des Geniekultes. Geschichtswissenschaft und Digital History heißt Teamarbeit. Kollaboratives Arbeiten, in denen diese unterschiedlichen Kompetenzen gleichwertig und notwendig sind. Wenn wir Projekte machen, dann ist der/die Developer*in, Webdesigner*in genauso wichtig wie der/die Historiker*in. Und das muss sich niederschlagen in einer Recognition Culture, etwa wenn wir publizieren. Wenn wir unsere Resultate publizieren, tauchen die Developer*innen und Webdesigner*innen genauso als Autor*innen oder als Mitarbeiter*innen auf wie die Historiker*innen. Und das ist für mich der Unterschied, wie wirklich innovative Forschung in unserem Bereich geht: nur als Teamwork.

Flache Hierarchien und größtmögliche Transparenz im Wissenschaftsbetrieb: Dies drückt sich nicht zuletzt in Architektur und Atmosphäre des Instituts aus: Helle, offene Räume, Foto: mit freundlicher Genehmigung des C²DH.

 

11. Das C2DH – eine Nische oder Ort der Pionierarbeit mit großer Reichweite?

A.S.: Wenn wir bei Bourdieu bleiben. Bildet das C2DH die klassifikatorische Dominanz für die geschichtswissenschaftliche Institutionen der Gegenwart im, sagen wir, westeuropäischen Raum? Wie wirst Du, wie wird das C2DH wahrgenommen? Du agierst durch Gutachten, sitzt in Kommissionen etc. Wie kommunizierst Du dort? Wenn ich mir vorstelle, dass das was Du mir in der letzten Stunde erzählt hast, in jenen Gremien diskutiert wird, die ich kenne, dann denke ich, dass dort zwei sehr verschiedene Sprachen gesprochen werden.

A.F.: Vive la différence! Es macht mir natürlich auch Spaß, mich so ein bisschen als „agent provocateur“ zu outen und offen zu sagen, was ich denke. Aber viel wichtiger finde ich die Frage, wie wir uns hier im Zentrum aufstellen und organisieren. Ich habe sehr viel über die Gouvernance Strukturen des Zentrums nachgedacht. Die Verwaltungsstruktur der Universität ist sehr stark französisch geprägt, d.h. top down, straffe Hierarchien, usw., also das Übliche. Ich habe von Anfang an gesagt, das will ich nicht. Ich will das unter allen Umständen vermeiden. Ich konnte für das C2DH eine zentrumseigene Gouvernance Struktur entwickeln, die, so weit wie es nur geht, auf flache Hierarchien setzt. Und das Guiding Principle für uns ist, dass wir jedem eine Rolle zuschreiben: den Doktorand*innen, der Sekretärin, den Developer*innen, den Professor*innen. Es geht zum einen darum, wie jede*r mit ihren/seinen Kompetenzen und Fähigkeiten eine Rolle ausfüllen kann, die sie/ihn selbst zufrieden stellt, d.h. mit der jeweils eigenen Karrierewünsche und -pläne entwickelt und umgesetzt werden können. Zum anderen geht es darum, diese individuellen Rollen mit der Mission und den strategischen Zielen des Zentrums abzustimmen. Also wie wir die mehrfach beschriebene Idee des C2DH als echte „Trading Zone“ praktisch realisieren können. Wir wollen das Experimentelle wirklich, wir wollen nicht nur darüber reden, sondern es auch praktizieren. Das heißt eben auch, Kompetenz und Expertise ist die Basis für das Delegieren von Autorität. Unsere Philosophie lässt sich in einem Satz zusammenfassen: „Shared Authority – Shared Responsibility“. Wer die „Autorität“ im Sinne von Kompetenzen und Fähigkeiten hat, dem sollte man entsprechende Aufgaben delegieren – unabhängig vom Status. Man delegiert gleichzeitig aber auch die Verantwortung. Das führt insgesamt dazu, dass sich die Mitarbeiter*innen wertgeschätzt fühlen und sich mit ihrer Persönlichkeit für die gemeinsame Sache des C2DH einsetzen und engagieren.

 

12. Personalentwicklungskonzepte für alle!

A.S.: Werden eure Developer*innen genauso bezahlt wie die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen?

A.F.: Teilweise besser. Weil die auf dem privaten Markt konkurrieren und wir gerade Leute brauchen, die diese Doppelkompetenz haben. Also den Wissenschaftsbetrieb verstehen und das Technische beherrschen. Und die sind sehr rar gesät. Das heißt, wir müssen hier auch kompetitiv sein, wenn es darum geht, die Leute entsprechend zu entlohnen.

A.S.: Das heißt, eure Techniker*innen, Developer*innen, Programmierer*innen werden gut bezahlt, weil ihr sie sonst verliert?

A.F.: Die werden gut bezahlt. Sie haben attraktive Stellen in dem Sinne, dass sie eine große Autonomie haben, kreativ tätig sein können und lange nicht unter dem Druck stehen, der in der Privatwirtschaft herrscht. 

Wir haben in den letzten zwei Jahren innerhalb der Universität einen Grading-Prozess durchlaufen, wo für alle Bereiche, den technischen, den wissenschaftlichen, den administrativen, Profile definiert wurden. Und in allen Profilen gibt es unterschiedliche Stufen. Es ist ganz wichtig, dass man den Leuten Aufstiegsperspektiven bietet.

A.S.: Das heißt es gibt für alle Statusgruppen und Mitarbeiter*innen immer die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln?

A.F.: Voilà.

 

13. Gleichstellung nach Luxemburger Modell

A.S.: Wie sieht es in Eurem technikaffinen Feld mit der Gleichstellung aus? Gibt es dafür Konzepte, gibt es einen Gleichstellungsplan?

A.F.: Wir haben einen Gleichstellungsbeauftragten. Wir haben gefragt, wer das machen möchte. Jetzt haben wir einen Postdoc, der Gleichstellungsbeauftragter ist und auch zu dem Thema forscht. Er sagte, ich fände es super, das zu machen, dann haben wir gesagt, prima, du machst das.

A.S.: In Deutschland vertritt die Gleichstellungsbeauftragte die weibliche Belegschaft.

A.F.: Nein, nein, nein. Hier ist es für alle. Das finde ich auch gut. Wenn man sich bei uns die Zahl der Doktorand*innen anschaut, haben wir mehr weibliche Doktorand*innen als männliche.

A.S.: Ja, das haben wir auch.

A.F.:  ...aber auch im Feld von Digital History – was nicht so normal erscheint. Das Gleiche im Bereich Postdoc, im Full Prof. Bereich ist es auch identisch. Im Assistent-Professor Bereich, also in der ersten Stufe von Professor*innen, haben wir noch ein Ungleichgewicht.  Hier haben wir mehr männliche als weibliche Professor*innen. Aber da arbeiten wir dran.

 

14. Auftragsforschung als Experiment

A.S.: Noch zwei Fragen: Wir groß ist die Nähe zur Politik? Wenn ich mir etwa das Remix Projekt anschaue. Anlass für dieses Projekt war die Ernennung der Stadt Esch zur Kulturhauptstadt. Wird dieses Projekt von regionalen Unternehmen finanziert oder von der Stadt? Wie groß ist der Rahmen einer solchen Auftragsforschung? Ist es überhaupt Auftragsforschung?

A.F.: Ich mag den Begriff „Auftragsforschung“ nicht. Wir unterscheiden drei Quellen der Finanzierungen, die wir für unsere Projekte haben. Hauptfinanzier ist der Fonds National de Recherche (FNR), das ist die Luxemburgische DFG. Das sind natürlich kompetitive Verfahren. Die meisten unserer Projekte sind FNR-finanziert. Ein paar werden mit EU-Geldern finanziert.
Dann gibt es Forschung, die von staatlicher Seite, etwa von Ministerien oder Behörden finanziert ist, wie zum Beispiel das Projekt „Remixing the Industrial Past in the Digital Age“ im Kontext von Esch 22. Esch-sur-Alzette, also die zweitgrößte Stadt von Luxemburg im Süden des Landes, wird nächstes Jahr Kulturhauptstadt Europas sein, zusammen mit Kaunas. Unser REMIX-Projekt wird also aus dem Budget für die „Kulturhauptstadt“ finanziert. Aber auch hier gab es ein kompetitives Verfahren – wir mussten unser Projekt einreichen, welches dann von einer Jury bewertet und schließlich ausgewählt wurde.
Den dritten Teil könnte man im engeren Sinne als Auftragsforschung bezeichnen. Wir haben beispielsweise ein Projekt zur Geschichte der Post realisiert, dessen Hauptprodukt eine virtuelle Ausstellung war, oder eine virtuelle Ausstellung zur Geschichte der Banque du Luxembourg produziert. Zwar sagen die Firmen, wir hätten gern dieses Produkt, aber wie das inhaltlich und ästhetisch aussieht, definieren wir. Das ist das was man Auftragsforschung nennen kann. Ich finde diese Form wichtig, gerade zum Experimentieren. Die Auftraggeber*innen wollen Produkte, die für das große Publikum attraktiv sind. 600-Seiten Schmöker oder Coffee Table Books sind nur bedingt von Interesse. Vielmehr ist etwas Digitales gewünscht. Für uns eine gute Chance zu sagen, wir experimentieren im Bereich von transmedia storytelling und versuchen, neue Formen der Vermittlung und der Aneignung von Geschichte möglich zu machen.

A.S.: Oder über eine technische, wie Ihr das beispielsweise im Projekt über die Fremdenlegionäre gemacht habt?

A.F.: Das ist auch eine Chance zu experimentieren, weil eben nicht erwartet wird, dass man Peer Reviewed Journal Articles produzieren muss.

 

15. Und zum Schluss: Was treibt Dich an?

A.S.: Letzte Frage. Eine Frage, die meiner Meinung nach zu selten gestellt wird: Was treibt Dich an? Warum machst Du das alles?

A.F.: Das Zentrum hat mir die Möglichkeit gegeben, einen Traum, den ich von Wissenschaft habe, zu institutionalisieren. Das heißt, einen sicheren Ort des Experimentierens zu schaffen, den man so vielleicht anderswo nicht kennt. Hoffentlich ist es hierdurch möglich, ein neues Denken in Gang zu bringen und neue Karrierewege zu entwickeln. Ich glaube, dass wir hier doch ein paar „Ambassadors“ im Bereich der digitalen Geschichtswissenschaft ausbilden. Anita Lucchesi ist jetzt nach Brasilien zurückgekehrt und macht da die tollsten Sachen. Dominique Samanta ist beim Film Fonds und will in Zukunft Filme oder Webdokus mit historischen Themen produzieren. Ich glaube, dass es einen Riesenmarkt gibt für Leute mit diesen Kompetenzen. Vielleicht nur bedingt im akademischen Feld. Wenn wir über Geschichte als wichtigen Bestandteil gesellschaftlichen Lebens nachdenken – und das ist ja genau das Thema des neuen Leibniz-Verbundes „Wert der Geschichte“ –, dann sollten wir nicht vergessen, dass Geschichte zu 90% außerhalb der akademischen Räume definiert, produziert und angeeignet wird. Insofern denke ich, dass wir hier ein Riesenpotenzial haben. Ob sich das wirklich durchsetzt und auf die historischen Institute und Forschungseinrichtungen wirkt? Da bin ich Realist genug, um zu wissen, dass die sich in ganz eigenen Dynamiken des Beharrens und langen Zeiträumen entwickeln.

 

(Transkript: Timur Vorkul)