von Christian Mentel, Niels Weise

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1. Februar 2016

 

Mit der im Februar 2016 veröffentlichten, von Frank Bösch, Martin Sabrow und Andreas Wirsching herausgegebenen Studie „Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus - Stand und Perspektiven der Forschung“ entsprechen das Institut für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) der Bitte der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), in einer Bestandsaufnahme den aktuellen Forschungsstand und den bestehenden Forschungsbedarf zur Aufarbeitung der frühen Nachkriegsgeschichte von Bundesministerien und Behörden in der Bundesrepublik Deutschland und der Ministerien und Behörden der DDR in Bezug auf die NS-Vergangenheit zu ermitteln. Im Folgenden wird die um umfangreiche Nachweise gekürzte Schlussbetrachtung der hier in vollständiger Fassung abrufbaren Studie, die von Mai bis Oktober 2015 erarbeitet wurde, bereitgestellt.

 

Aufarbeitungs- und Forschungsinteressen

Seitdem im Jahr 2005 das Auswärtige Amt eine Historikerkommission zur Untersuchung der eigenen NS-Vergangenheit und des Umgangs hiermit in der Nachkriegszeit berief, erlebt die Erforschung der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrer Folgen für die Bundesrepublik und die DDR eine neue Konjunktur. Behörden und Parlamente setzen damit einen Trend fort, der bereits Ende der 1980er Jahre begann. Damals entstanden erste Einzelstudien, zudem begannen private Wirtschaftsunternehmen, ihre Vergangenheit von renommierten Historikern erforschen zu lassen. In den 1990er und 2000er Jahren folgten auch halbstaatliche Einrichtungen und Körperschaften in unterschiedlicher Trägerschaft, darunter Wissenschaftsorganisationen und -institutionen sowie unterschiedliche Vereine und Verbände.

Die mittlerweile in großer Zahl von Behörden in Auftrag gegebenen und finanziell unterstützten zeithistorischen Forschungsprojekte füllen einerseits nach wie vor bestehende Forschungs- bzw. Wissenslücken zur Rolle von Institutionen im NS-Staat und deren Nachfolgeinstitutionen nach 1945 in West und Ost. Andererseits vermitteln sie unter dem Begriff „Aufarbeitung“ die Botschaft, dass nicht nur der deutsche Staat als Abstraktum, sondern auch einzelne Behörden im Konkreten Verantwortung für die eigene Vergangenheit und die Handlungen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen und aus dem heutigen Abstand von zwei und mehr Generationen auch zu übernehmen bereit sind – sowohl in Bezug auf die NS-Zeit als auch hinsichtlich der als ungenügend bewerteten Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit in der Nachkriegszeit.

Eine so verstandene Aufarbeitung ist also nicht alleine oder auch nur primär Teil der innerfachlichen Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung; sie stellt mindestens ebenso stark eine geschichtspolitische Standortbestimmung dar, die das Selbstverständnis des deutschen Staats und der Gesellschaft berührt. Hierfür bedienen sich die Behörden und staatlichen Einrichtungen der Expertise der Wissenschaft, die das Aufarbeitungsinteresse jenseits politischer Erwägungen vor allem als Möglichkeit begreift, Forschungslücken zu schließen und vorhandenes Wissen zu vertiefen. Auch wenn sich die Ziele der Aufarbeitung und der Forschung teils überschneiden, sie mitunter voneinander abhängig und die Grenzen zwischen ihnen nicht immer klar zu ziehen sind – beide Seiten folgen unterschiedlichen Logiken. Das moralische Bekenntnis der Aufarbeitung ist nicht mit der methodisch kontrollierten Erkenntnis der Forschung in eins zu setzen, das Gebot des bestätigenden Erinnerns nicht mit der wissenschaftlichen Tugend der kritischen Infragestellung.

Unterschiedliche Fluchtpunkte von Aufarbeitung und Forschung zeigen sich nicht zuletzt auch in der Tendenz, dass zunehmend neben nachgeordneten Behörden der Bundesebene auch Institutionen und Parlamente der Länder und Kommunen Forschungsprojekte auf den Weg bringen. Während bei diesen das Interesse besteht, ausschließlich ihre eigene, jeweils klar von anderen Einrichtungen abzugrenzende Geschichte immer kleinteiliger erforschen zu lassen, wird auf Seiten der Wissenschaft in steigendem Maße auf die Notwendigkeit hingewiesen, zu allgemeineren und übergreifenden Aussagen hinsichtlich der Nachkriegsentwicklung in beiden deutschen Staaten zu gelangen, da die in abnehmendem Maße über die konkret untersuchte Institution hinausreichenden Ergebnisse mehr und mehr an wissenschaftlicher Relevanz verlieren.

Die Studie „Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus“ versteht sich auch als Hinweis darauf, wie sich beide Positionen und Interessenlagen einander annähern könnten, ohne ihre strukturellen Differenzen zu verwischen. Einerseits durch die Benennung von Forschungsperspektiven jenseits des vorgegebenen Behördenrasters, andererseits durch die Entwicklung von Kriterien zur Abwägung, welche Behörden als künftige Forschungsobjekte besonders lohnenswert erscheinen. Dabei ist jedoch zu betonen: Kein Auswahlkriterium vermag eine gültige Hierarchie „wichtigerer“ oder „unwichtigerer“ Behörden zu begründen, auch hier folgt die Relevanz eines Untersuchungsgegenstandes stets der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse, das die Untersuchung leitet. Die hier vorgeschlagenen Kriterien stellen lediglich eine erste Orientierungshilfe in dem weiten Feld staatlicher Institutionen dar, die für die Erforschung ihrer NS-Vergangenheit nach gegenwärtigem Kenntnisstand und gegenwärtiger Interessenlage besonders in Frage kommen.

 

Fortgang der Forschung

Dass eine flächendeckende Erforschung sämtlicher Institutionen der Bundesrepublik und der DDR auf allen Hierarchieebenen weder umsetzbar noch zielführend ist, ist ein Gemeinplatz. Hinsichtlich ihres Erkenntniswerts als gleichermaßen fragwürdig muss eine rein quantitative Erfassung von NS-Belasteten – wie auch immer man diese Gruppe definieren mag – gelten, sofern sie nicht als empirische Datengrundlage für weitergehende Studien dient, sondern scheinbar selbstevidente Aussagen produzieren soll. Schematische, standardisierte Fragestellungen und Vorgehensweisen dieses Typs sind aus wissenschaftlicher Sicht als überwiegend unfruchtbar zu betrachten; der Aufwand steht hier in der Regel in keinem legitimen Verhältnis zum zu erwartenden Ergebnis.

Dagegen trugen die bereits vorliegenden Ergebnisse der Behördenforschung – korrekter: der behördlich unterstützten Forschungsprojekte – in erheblichem Maße dazu bei, das Wissen über die nationalsozialistische Herrschaft, besonders am Schnittpunkt von Verwaltung, Gesellschaft und Ideologie, und deren Folgen für die neugegründete Bundesrepublik und die DDR zu erweitern – und dies wird auch für die momentan noch in Bearbeitung befindlichen Studien gelten. Das ist zum einen darin begründet, dass die Forschung in vielen Fällen erstmals bislang unzugängliche Quellen auswerten kann und in die Lage versetzt wird, Pionierstudien insbesondere zu den Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden zu erarbeiten. Zum anderen ermöglichen die Forschungsprojekte im Rahmen eines Gesamtkonzepts aufeinander abgestimmte Einzelstudien über eine bestimmte Institution, die so von Synergieeffekten erheblich profitieren konnten und können. Nicht zuletzt lenkten die Projekte neue Aufmerksamkeit auf das von der Historiografie in Teilen vernachlässigte Feld der Institutionen- und Organisationsgeschichte.

Trotz dieser positiven Entwicklung, die durch die Behördenforschung möglich wurde, ist zu problematisieren, wie und mit welchen Gegenständen die Forschung grundsätzlich fortschreiten sollte. Die augenblickliche und primär durch die geldgebenden Institutionen und deren jeweilige Interessen bestimmte Tendenz, additiv vorzugehen, sich also Behörde um Behörde durch alle Hierarchien und Abteilungen durchzuarbeiten, kann kein erstrebenswertes Vorgehen sein. Nicht jede Behörde ist allein deswegen zu erforschen, weil dies bislang noch nicht geschehen ist und nun finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.

So wenig einer bestimmten Institution das Interesse an ihrer eigenen, speziellen NS-Vergangenheit und die Berechtigung ihrer Erforschung abgesprochen werden darf, so sehr ist doch auch darauf hinzuweisen, dass aus geschichtswissenschaftlicher Sicht andere Prioritäten zu setzen wären. Dies beginnt bereits bei der historischen Perspektive, die weniger von den heute bestehenden Institutionen als vielmehr von den in einem bestimmten Zeitraum existierenden und gegebenenfalls später aufgelösten Behörden ausgeht, die keine Nachfolgeeinrichtung fanden – allen voran die Institutionen der DDR, ebenso aber diejenigen der Bundesrepublik und des NS-Staats. Angesichts der in weiten Teilen unerforschten Geschichte der DDR-Institutionen scheint es den Verfassern dieser Studie lohnend, hier einen Schwerpunkt zu setzen und das Potential des deutsch-deutschen Vergleichs im Interesse einer integrierten Geschichte des geteilten Deutschland zwischen 1945 und 1990 zu nutzen.

Vielversprechend erscheinen des Weiteren insbesondere Untersuchungen exemplarischer Institutionen, Querschnittsarbeiten und Untersuchungen von ganzen Politik- und Problemfeldern, die nicht an Institutionen- und Ressortgrenzen auszurichten wären, sondern vielmehr übergreifende Gegenstände und Fragestellungen in den Blick nähmen. In der Folge wäre auch der verstärkte Einbezug der Landes- und Kommunalebene in Arbeiten zu Bundesinstitutionen zu befürworten. Aber auch eigenständige exemplarische Studien unterhalb der Bundesebene bergen noch erhebliches, bisher unerschlossenes Potential, wie die seit jüngerer Zeit in Angriff genommenen Forschungsprojekte zu Landesparlamenten und -behörden, zu Kommunalverwaltungen bis hin zu biografischen Studien von Oberbürgermeistern zeigen.

 

Auftragsforschung und Rahmenbedingungen

Neben dem komplexen Verhältnis der zwei Systeme Aufarbeitung und Forschung, innerhalb dessen sich die aktuelle Konjunktur der Behördenforschung vollzieht, bildet insbesondere die Form der direkten Finanzierung durch die zu erforschenden Institutionen ein diskussionsbedürftiges Thema, das mit dem oft negativ konnotierten Wort „Auftragsforschung“ verbunden ist. Auch wenn der gelegentlich erhobene Vorwurf der unwissenschaftlichen Hofgeschichtsschreibung und distanzlosen Hagiografie zumeist auf populäre Genres im Bereich der Unternehmensgeschichte beschränkt ist, zieht jene spezielle Form der Forschungsfinanzierung grundsätzliche fachliche Konsequenzen nach sich.

So wird in der Fachwelt seit einigen Jahren verstärkt über die Chancen und Risiken der Auftragsforschung und über deren Auswirkungen auf die Geschichtswissenschaft diskutiert. Neben einhellig positiv bewerteten Aspekten – etwa, dass solche Forschungsprojekte überhaupt erst den Zugang zu bislang versperrten Quellenbeständen ermöglichten und Forschungslücken schlossen – haben sich mit Recht auch kritische Stimmen Gehör verschafft. Neben grundsätzlichen Bedenken angesichts der Nähe von Politik und Wissenschaft bei solchen Projekten und ihrer Einbindung in die Imagepflege der Institutionen wird auch genannt, dass Forschungsprojekte oft nicht etwa durch kompetitive Verfahren, sondern auf dem Wege der Berufung vergeben werden. Auch wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die große Zahl strukturell ähnlich gelagerter Auftragsprojekte den Gang der Forschung wissenschaftsexternen Interessenlagen aussetzt, die konventionelle Perspektiven stärkt und methodische Innovationen bremst: Auftragsforschung ist strukturell konservativ; sie entwickelt sich in einem öffentlich akzeptierten Denkrahmen, statt ihn wissenschaftlich neu zu befragen.

Um solchen und ähnlichen Einwänden in angemessener Weise zu begegnen, wären die sich teils deutlich voneinander unterscheidenden Organisationsformen der Behördenforschung und die durch sie vorgegebenen Rahmenbedingungen stärker in den Blick zu nehmen. Das betrifft beispielsweise die Verfahren, nach denen Historikerinnen und Historiker für die Bearbeitung eines Projekts ausgewählt werden. Diese reichen von öffentlichen Ausschreibungen bis hin zur „freihändigen“ Auftragsvergabe an Forschungsinstitute oder an Historikerkommissionen, die von den Behörden selbst zusammengestellt wurden. Abzuwägen wäre hier etwa die durch Ausschreibungen prinzipiell ermöglichte und nötige Transparenz gegen den zu vermeidenden Nebeneffekt, dass aus haushaltsrechtlichen Gründen das kostengünstigste und nicht das substantiell beste Angebot den Zuschlag erhalten könnte.

Weiterhin ist dafür Sorge zu tragen, dass die inhaltliche Ausgestaltung eines Forschungsprojekts und die Entwicklung der konkreten Fragestellung stets und ausschließlich in den Händen der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler liegen. Ein eng gefasster Forschungsauftrag oder gar eine Vereinheitlichung von Fragestellungen und Ansätzen innerhalb eines staatlichen Gesamtkonzepts wären mit der Freiheit der Wissenschaft und einem ergebnisoffenen Forschungsprozess nicht in Übereinstimmung zu bringen.

Als Standard sollte des Weiteren gelten, dass die zu publizierenden Ergebnisse der Behördenforschungsprojekte nicht als „amtliche“ Geschichtswerke apostrophiert werden, mit denen der Prozess der Aufarbeitung bzw. Erforschung der NS-Vergangenheit einer Institution abgeschlossen sei. Andere Historiker stellen andere Fragen an den Gegenstand und verfolgen andere Forschungsinteressen, die nicht weniger berechtigt und relevant sind. Schon aus diesem Grund ist ein exklusiver Quellenzugang für die Forscherinnen und Forscher behördlich unterstützter Projekte ein grundsätzlich nicht hinnehmbarer Verstoß gegen die fachlichen Standards. Wo inhaltliche Aussagen und die zugrundeliegenden Quellen nicht überprüfbar sind, ist eine Grundbedingung wissenschaftlichen Arbeitens verletzt.

Um einem zentralen Kritikpunkt an der Auftragsforschung zu begegnen, muss die Forderung erhoben werden, Archivalien, die noch hausintern verwahrt werden und nicht verzeichnet sind, den fachlichen Maßstäben entsprechend zu erschließen, in öffentliche Archive zu überführen und damit deren allgemeine Zugänglichkeit herzustellen und dauerhaft zu sichern. Solche Schritte zu mehr Transparenz, ebenso wie die in vielen Fällen überfällige Freigabe von zugangsbeschränkten Verschlusssachen für sämtliche Forscherinnen und Forscher, allen voran für noch nicht arrivierte Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, würden im Übrigen unabhängige Forschung anregen, ohne dass dies von Seiten der Behörden durch Auftragsvergabe finanziert werden müsste.

Nicht zuletzt wäre die Form der Finanzierung zu thematisieren. Grundsätzlich gilt, dass eine indirekte Finanzierung von Forschungsprojekten über innerfachliche Vergabeformen einer direkten durch behördliche Beauftragung überlegen ist. Zum einen verursachen allzu enge, über Vorgaben wie beispielsweise diejenigen der Deutschen Forschungsgemeinschaft hinausgehende haushälterische Berichtspflichten einen unverhältnismäßig hohen administrativen Aufwand. Zum anderen besitzt eine direkte Finanzierung einen stärker forschungslenkenden Effekt und stellt angesichts der Konkurrenz um Drittmittel und der allgemeinen Bedingungen im akademischen Betrieb eine nicht zu unterschätzende Einflussnahme dar, der die Geschichtswissenschaft reserviert gegenüberstehen muss.

Die Zeitgeschichte lebt von der auch öffentlich verfolgten Auseinandersetzung mit einer Geschichte, die – mit den Worten Barbara Tuchmans – „noch qualmt“. Zugleich aber muss sie sich davor hüten, zunehmend zu einem „Aufarbeitungs-Dienstleister“ zu werden, der Aufträge übernimmt, die aus wissenschaftlicher Perspektive unergiebig sind. Wenn diese unterschiedlichen Logiken von fachlicher Forschung und behördlicher Aufarbeitung respektiert bleiben, wird die Zeitgeschichte von dem gegenwärtigen Interesse am Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach 1945 in der Bundesrepublik und der DDR auch weiterhin erheblich profitieren.

 

Download der vollständigen Studie als PDF: Christian Mentel und Niels Weise: Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung. Herausgegeben von Frank Bösch, Martin Sabrow und Andreas Wirsching. München/Potsdam 2016.