von Annette Vowinckel

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9. Juni 2021

Ein israelischer Soldat sitzt vor einer Kamera und erzählt folgende Episode: Während des Sechstagekriegs von 1967 hatte seine Einheit ein palästinensisches Dorf im Westjordanland eingenommen, das bis dahin zu Jordanien gehört hatte. Die Bewohner*innen verließen ihre Häuser oder wurden daraus vertrieben und die israelische Armee quartierte sich in den leeren Wohnhäusern ein. Eines Tages erschien in der Ferne ein alter Mann mit einem Esel. Er näherte sich dem Haus, das seins war, und bat freundlich darum, zurückkehren zu dürfen. Die ratlosen Soldaten holten sich Rat bei ihren Vorgesetzten in Hebron, die darauf bestanden, den alten Mann nicht in sein Haus zu lassen. Der Mann nahm daraufhin seinen Esel und verschwand auf dem Weg, auf dem er gekommen war.

Dies ist eine von mehreren Dutzend Erinnerungen, die israelische Soldaten in The First 54 Years. An Abbreviated Manual for Military Occupation vor der Kamera erzählen. Mit wenigen Ausnahmen zeigen sie ihr Gesicht und ihren Namen, nur zwei Männer sind anonym und ihre Bilder verpixelt. In vielen der Geschichten, von denen sie berichten, geht es deutlich gewalttätiger zu als in der von dem alten Mann und seinem Esel. Allen gemeinsam ist, dass die Ich-Erzähler – etwa 40 Männer aus verschiedenen Altersgruppen – Dinge erzählen, die sie selbst und ihre jeweiligen Einheiten in keinem guten Licht erscheinen lassen. Sie vertreiben Menschen aus ihren Häusern, demütigen sie, schlagen Männer, Frauen und Kinder, schießen auf Zivilisten als spielten sie Computerspiele, benehmen sich wie geistlose Tyrannen, foltern, plündern, rechtfertigen Dinge vor sich selbst, für die sie sich eigentlich schämen, und schieben Schuld auf andere ab. Was sie von vielen anderen Militärs unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie das Schweigen über ihr Tun gebrochen und sich der Gruppe „Breaking the Silence“ angeschlossen haben, die seit 2004 ehemalige Soldat*innen bei der Verarbeitung ihrer Erinnerungen unterstützt und öffentlich über Missstände in der israelischen Armee informiert.
 

Avi Mograbi, der Regisseur des Films, hat die Interviews mit den Soldaten sowie dokumentarisches Material zu einem abendfüllenden Film zusammengeschnitten, in dem er selbst als eine Art Erzähler auftritt. Dieser Erzähler ordnet die Berichte und Sequenzen verschiedenen Unterkapiteln eines fiktiven Handbuchs für Besatzer zu, dem Abbreviated Manual for Military Occupation, wie es im Untertitel des Films heißt. Wie ein Märchenerzähler sitzt Mograbi in seiner Wohnung rauchend vor der Kamera und macht die eine oder andere Erzählpause, um die Spannung zu steigern. Sein Ton ist väterlich, ja großväterlich, als wolle er signalisieren: Ihr jungen Leute, ich erkläre euch mal, wie man am besten Menschen tyrannisiert.

Die Kapitel des von ihm vorgetragenen, alles andere als märchenhaften Stoffs tragen Überschriften wie ‚Normalization‘, ‚Dominance‘, ‚Detention‘ oder ‚Martial Law‘. Sie leiten sich induktiv aus den Geschichten der Soldaten ab, werden aber von Mograbi zu einer handbuchartigen Handlungsanleitung überformt. Sie sind, so erklärt er mit sanfter Stimme, „fundamental principles for the maintenance of a military occupation of a territory with the Palestinian territories as a paradigmatic case”.

Unter dem Stichwort ‚Normalisierung‘ erklärt Mograbi, dass man in einem militärisch besetzten Gebiet zuallererst einen Alltag schaffen müsse, um sicherzustellen, dass die Präsenz der neuen Herrscher nicht täglich angezweifelt werde. Gleichzeitig solle man sich daran machen, das soziale Gefüge der Dörfer und Städte zu zerstören („shredding the social fabric apart“). Bewaffneter Siedler*innen solle man sich dabei als „another platoon of your forces“ bedienen, sie also als fünfte Kolonne des Militärs einsetzen.

In die Kategorie ‚Dominance‘ fallen nächtliche Hausdurchsuchungen mit dem alleinigen Zweck, den Schlaf der Bewohner*innen zu stören und sie bis in ihre Körperfunktionen hinein zu beherrschen. Der Kategorie ‚Detention‘ ordnet Mograbi die Verhaftung von Menschen zu, von denen man weiß, dass sie nichts verbrochen haben. Einer der Soldaten erzählt von der Festsetzung eines alten Mannes bei einer Straßenkontrolle, den man nur deshalb nicht habe laufen lassen, weil er sonst andere vor der Kontrolle hätte warnen können – mit der Folge, dass die Ehefrau dieses Mannes eine Nacht lang nicht gewusst habe, warum er nicht nach Hause kam.

Dass Mograbi seinen Film als Handbuch aufgebaut hat und sich selbst, ohne den Gestus der Anklage, als Geschichtenerzähler geriert, ist ebenso eine paradoxe Intervention wie der Titel des Films, der auf die in der Vergangenheit liegenden „ersten 54 Jahre“ der Besatzung verweist und damit suggeriert, dass eine zweite oder dritte Phase gleicher Länge folgen solle. Auch dass sich die ehemaligen Soldaten im Interview selbst anklagen, ist Teil dieser paradoxen Struktur. Sie brauchen sich für nichts zu rechtfertigen, weil sie gar nicht angeklagt werden. Im Gegenteil wird ihnen vom Erzähler noch bescheinigt, dass sie genau das Richtige getan haben, um die Besatzung aufrecht zu erhalten.
 

Gebrochen wird das paradoxe Szenario durch das zwischen Interviews und Instruktionen eingefügte dokumentarische Filmmaterial. Es zeugt davon, dass die Berichte der Soldaten nicht erfunden oder übertrieben sind, sondern mit der Wirklichkeit – zumindest einer Teilwirklichkeit – in den besetzten Gebieten korrespondieren. Noch in Schwarzweiß gedreht sind Sequenzen aus dem Unabhängigkeitskrieg Israels sowie von der Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung im Zuge der Nakba. Farbige Aufnahmen reichen bis weit an die Gegenwart heran und zeigen unter anderem Szenen aus der ersten Intifada von 1987 oder den Bau einer Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland. Sie untermalen vom „Märchenerzähler“ geforderte Maßnahmen wie die willkürliche Misshandlung von Zivilisten oder den Versuch, verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen („promote snitching!“, „divide et impera!“).

Es liegt auf der Hand, dass dieses dokumentarische Material nur einen Teil der historischen Wirklichkeit abbildet, auch wenn es im Film der Beglaubigung der von den Soldaten erzählten Ereignisse dient. Jan Küveler von der Welt hat Mograbi deshalb vorgeworfen, sein Film sei eine „als Dokumentation getarnte antiisraelische Propaganda“, er übe eine „undifferenzierte Kritik an der Besetzung von Gazastreifen und Westjordanland“, ideologisch stehe er der Boykottbewegung BDS nahe und die Einladung der Berlinale an Mograbi sei „ein Skandal“.
 

Von vielen anderen parteiischen Dokumentarfilmen unterscheidet sich Mograbis Film allerdings durch die Figur des als Märchenerzähler daherkommenden Ingenieurs der Besatzung mit seinem an Foucaultschen Texten wie Überwachen und Strafen geschulten Blick. Er spricht nicht im Duktus der Kritiker*innen, er richtet kein „Empört euch!“ an die Zuschauenden. Stattdessen hält er der Gesellschaft, in der er lebt, einen Spiegel vor. Der Ingenieur der Besatzung mutiert zum Therapeuten, der sein Land auf die Couch legt, um es von den eigenen Zwängen zu befreien.

Kritische Stimmen in Israel weisen seit Jahrzehnten darauf hin, dass mit der andauernden Besetzung des Westjordanlands nicht nur die palästinensische Bevölkerung erniedrigt und an freier Entwicklung gehindert, sondern auch die israelische Demokratie im Kern beschädigt werde. Vor diesem Hintergrund erscheint Avi Mograbis bewegender Film tatsächlich nicht als Anklage, sondern als ein dringender Appell an die eigene Gesellschaft, ihr Tun und Handeln zu überdenken.

 

 

The First 54 Years. An Abbreviated Manual for Military Occupation von Avi Mograbi, Frankreich, Finnland, Israel und Deutschland 2021 (Hebrew, English), 110’.

 

Die Dokumentation von Avi Mograbi läuft im Rahmen des Berlinale Summer-Specials am 12. Juni um 21.30 Uhr im Open Air Kino im Haus der Kulturen der Welt.

 

Anmerkung der Redaktion:
Der Regisseur Avi Mograbi hat den Film The First 54 Years. An Abbreviated Manual for Military Occupation auf seiner Website zur Ansicht freigegeben.