Bruchstücke der Vergangenheit
Laut prasselt der Regen über eine grüne Wiesenlandschaft. Regentropfen fallen auf die Blätter von Birken, die am Rand einer mit Gras bewachsenen Wiese im Wind wippen. In der Nähe der Birken hat sich Wasser in einer Vertiefung in der Erde gesammelt. Viele Regentropfen brechen die Wasseroberfläche dieses kleinen Tümpels. Rhythmisch fällt der Regen, Tropfen für Tropfen.
Schnitt: Hochsommer. Vögel zwitschern in der glühenden Hitze. Die Wiese ist nicht mehr grün, sondern vertrocknet und gelb. Das trockene, abgestorbene Gras auf der Fläche vor den Birken umkreist mehrere Vertiefungen in der Erde, am Bildrand ein Stacheldrahtzaun. Die Kamera schwenkt um eines der Erdlöcher herum und filmt bis auf den staubtrockenen Grund dieser Löcher im Boden. Am Rand und an den Senkungen dieses Erdloches wachsen vereinzelt grüne Halme. Die Kamera schwenkt langsam über das trockene Erdloch. Auf dem Grund einer anderen Kuhle hält eine kleine Wasserpfütze der gleißenden Sonne stand. Von links laufen zwei Männer ins Bild: Regisseur Christophe Cognet und Historiker Tal Bruttmann gehen bis zum Rand einer dieser Kuhlen und bleiben direkt vor der Absenkung in die Tiefe stehen. Tal Bruttmann weist auf kleine, weiße Stücke am Boden und erklärt, die kleinen Knochensplitter seien das letzte, was noch übrig bleibt. Sie sind letzte Überreste derjenigen, die an diesem Ort vor über 75 Jahren ermordet wurden und deren leblose Körper dann verbrannt wurden. Bis heute finden sich an diesem Ort Bruchstücke der ermordeten Menschen, Opfer des nationalsozialistischen Terrors.
Tal Bruttmann geht langsam in die Hocke und streicht vorsichtig mit seiner in einen weißen Handschuh eingehüllten Hand über die Erdschichten der Vertiefung. Behutsam fährt seine Hand über die Gesteinsschichten, die das Erdloch freigibt. Dabei erklärt der Historiker, dass die Knochenstücke nicht nur auf dem Grund der Vertiefungen zu finden seien, sondern in der Bodensubstanz dieses Ortes regelrecht verwurzelt seien. Die Opfer seien immer noch hier im Grund und Boden dieses Ortes, fasst der Regisseur zusammen. Zustimmend erläutert der Historiker, dass verstreut und vergraben im Boden, auf dem sie laufen, vor allem in der Nähe der ehemaligen Krematorien, der Gaskammern und der Verbrennungsgruben Knochensplitter zu finden seien. Die Kamera schwenkt erneut langsam die Senkungen der Grube hinunter: Zwischen grauem Gestein, einigen grünen aber auch gelben Grashalmen und dunkler Erde blitzen immer wieder die weißen Knochensplitter auf.
Von dort, wo sie standen – Ein französischer Filmemacher auf Spurensuche
Die ersten Minuten des Dokumentarfilms „À pas aveugles“ (2021) zeigen den französischen Regisseur Christophe Cognet auf seiner Spurensuche nach Bruchstücken[1] aus der Vergangenheit. Der französische Regisseur entfaltet in „À pas aveugles“ seine filmische Untersuchung der Häftlingsfotografien aus Konzentrations- und Vernichtungslagern. Als fragender Protagonist des eigenen Films dokumentiert Cognet seine Arbeit: Wie ein Historiker sucht Cognet in der Gegenwart Antworten auf Fragen an die Vergangenheit und begibt sich dafür auf eine Spurensuche, die mit der Erfassung von Fotografien aus der Lagerzeit als Quellen beginnt. In den Archiven begutachtet er gemeinsam mit Wissenschaftler:innen die Originalnegative der Fotografien: Vergilbte Schatullen, zum Teil für Laien unleserlich beschriftet und stark beschädigt, enthüllen Schwarz-Weiß-Abzüge, die den Lageralltag aus der Perspektive der Insassen fotografisch festhalten.
Doch der Film ist nicht das erste Projekt, in dem sich der französische Regisseur mit der Erinnerung an die NS-Lager cineastisch auseinandersetzt. Nicht zum ersten Mal besucht Cognet die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Schon in früheren Filmprojekten Cognets zeichnete dieser die Welt der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager nach. Seine Filme „L'atelier de Boris” (2004), „Quand nos yeux sont fermés“ (2008), und „Parce que j'étais peintre“ (2013) dokumentieren Kunstwerke, die im Geheimen von Lagerinsassen kreiert worden sind. In den Filmen erzählen überlebende Künstler:innen und Maler:innen vor der Kamera von ihren Erinnerungen an die Lagerwelt. Die Überlebenden versuchen bis heute das Erlebte aus den Lagern mit Stift und Papier für die Nachwelt festzuhalten. Fokus seiner vorherigen Filme waren die Kunstwerke, seien es einfache Bleistift-Porträts von Mithäftlingen gezeichnet auf der Rückseite eines Papiers aus der Lagerverwaltung oder eine Naturzeichnung auf einem Stück Innenfutter eines Jutesackes gemalt. Aus der Perspektive der Opfer wird die Möglichkeit der „Kunstproduktion“ in der Brutalität der Lagerwelt, aber auch die hinter den Werken stehenden individuellen Lebensgeschichten der Künstler:innen in den Blick genommen. In den Archiven liegen viele Skizzen, Porträts und Grafiken, die personell nicht zugeordnet werden können: Werke von „unbekannt“. Auch sie spielen eine bedeutende Rolle in der Beantwortung der Frage, wie es überhaupt möglich war in der Grausamkeit der Konzentrations- und Vernichtungslager Kunstwerke zu erschaffen.
Seine jahrelange cineastische Auseinandersetzung mit der Welt der nationalsozialistischen Lager hat zur Folge, dass der Regisseur selbst Experte geworden ist. In seinem neuesten Filmprojekt spürt Cognet wie ein Detektiv der Geschichte um die Entstehung von heimlich und illegal aufgenommenen Häftlingsfotografien aus verschiedenen NS-Lagern nach. Audiovisuell dokumentiert er sein Vorgehen: Recherchen zur Überlieferung der Fotografien, deren Sichtung in den Archiven, sowie die Orte der Verbrechen in der Gegenwart. Um die originalen Filmrollen der Fotografien zu inspizieren, besucht Christophe Cognet die Gedenkstätten Dachau, Ravensbrück, Buchenwald, Mittelbau-Dora und Auschwitz-Birkenau, sowie einige Archive. Gemeinsam mit Expert:innen vor Ort begibt sich der französische Regisseur auf eine Spurensuche am Aufnahmeort der Fotografien. Bei seinen Nachforschungen auf dem Gelände der heutigen Gedenkstätten sind Abzüge der Originalfotografien auf Glasplatten sein Anhaltspunkt. Sie dienen ihm als Schlüsselquellen, welche Hinweise geben, den historischen Ort im heute zu erkennen und zu verstehen. Eingehend sucht der Regisseur den exakten Aufnahmeort der Fotografien, versucht den Momentrahmen der Fotografie mit seiner Filmkamera zu rekonstruieren und in der Gegenwart (erneut) einzufangen. Wie Puzzleteile legen die Schemen und Konturen der Originalnegative auf den Glasplatten einen Maßstab für die heutige Suche nach dem fotografischen Aufnahmemoment: Die Glasplatten rahmen das Vergangene ein, was im Heute zu suchen ist. Gefilmt von einer Kamera geht der Regisseur selbst als suchender Akteur gemeinsam mit den Wissenschaftler:innen über das Gelände der ehemaligen Lager und hält die Glasplatten als Folien des Momentes der fotografischen Aufnahme in unterschiedlichen Perspektiven, mal auf Kniehöhe, mal in Frosch- und mal in Vogelperspektive hoch. Das Ausprobieren mit den Glasplatten wird solange betrieben, bis sich die Schemen und Schatten des vergangenen Momentes auf der Glasplatte in die Umgebung des heutigen Gedenkstättengeländes „einfügen“: Die Glasplatte schiebt sich vor die Kameralinse. Im Vordergrund sehen die Zuschauer:innen den fotografisch festgehaltenen, vergangenen Moment aus der Lagerwelt, durch die Schemen und Schatten der Glasplatte hindurch sehen die Zuschauer:innen die Überreste der Lagerwelt heute: Eine filmische Fusion von Vergangenheit und Gegenwart. Die zwei Bilddimensionen Fotografie und Filmaufnahme verschwimmen zu einem Ausschnitt, den die Zuschauer:innen betrachten. Die stillstehenden dunklen Schemen der Gefangenen auf der Fotografie durchbrechen über das heutige Gelände gehende Besucher:innen der Gedenkstätte. Die schwarze Silhouette eines Gebäudes schiebt sich vor die Überreste einer hölzernen Baracke. Ein weiter Appellplatz umzäunt von grauen Stacheldraht schiebt sich vor eine grüne Baumreihe im Sommerwind.
Sein Vorgehen ist teilweise vergleichbar mit dem eine:r Historiker:in – nur sein Ergebnis ist ein anderes: Cognets Film hat keine wissenschaftliche These, die es zu belegen oder widerlegen gilt, stattdessen zeigt sein Film die fotografischen Quellen und ihre Aufnahmeorte heute. Unter der Sentenz zu Beginn: „Puisque ces hommes et ces femmes se sont acharnés à nous transmettre ces images, il nous faut regarder!“[2], fordert der Regisseur seine Zuschauer:innen dazu auf die Fotografien zu betrachten.
„Bilder trotz allem“ – Häftlingsfotografien als Quelle
Lange vor dem Boom der Visual History in den Geschichtswissenschaften, schon in den 1980er Jahren, knapp dreißig Jahre nach der Befreiung der Lager, waren Fotografien zu einer wichtigen Quelle für die Erforschung des Nationalsozialismus avanciert. Heute sind Fotografien als Quelle ein „Schlüsselmedium“[3] in der Erforschung des Gesamtsystems nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslagern. Eigentlich war es jedoch nur dem »Erkennungsdienstes« offiziell erlaubt in den Lagern zu fotografieren:
„Als Abteilung der Verwaltung der Konzentrationslager war er zuständig für die erkennungsdienstliche Erfassung der Häftlinge, wozu auch Fotoaufnahmen zählten; daneben hatte er die Aufgabe Suizide, Unfälle, Exekutionen, alle sogenannten »unnatürlichen Todesfälle« und besonderen Ereignisse, wozu SS-Feierlichkeiten und »hohe Besuche« von Vorgesetzten gehörten, zu dokumentieren.“[4]
Trotz des offiziellen Verbotes[5] wurde in den Lagern massenhaft und vielfältig fotografiert. Die Lagerwirklichkeit wurde aus verschiedensten Perspektiven mit unterschiedlichen Nutzen, Funktionen und Motivationen fotografisch festgehalten. Die Forschung kategorisiert die Bandbreite fotografischer Quellen aus den NS-Lagern anhand der fotografierenden Individuen und ihrer Rollenzugehörigkeit in der Lagerwelt: Sowohl Täter:innenbilder, zu denen die Fotografien des »Erkennungsdienstes«, aber auch private SS-Aufnahmen zählen, als auch die Befreier:innenbilder, Fotografien, die die Alliierten im Moment der Befreiung von den Lagern schossen, prägten das visuelle Gedächtnis an die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager und die offizielle Darstellung der Lagerwelt in Gedenkstätten, Museen und der Öffentlichkeit.[6] Die privaten Fotografien der SS, Fotoalben wie zum Beispiel das „Karl-Otto-Koch-Album“[7], das „Karl-Höcker-Album“ oder auch das „Auschwitzalbum“[8], weisen vor allem individuell lebensgeschichtliche Narrationen als „visuelle Autobiografien“[9] auf, die oftmals die „Lager als ein Ort frei von allen Grausamkeiten darstell[en].“[10] Fotografien, die Berge von Leichen zeigen, Massengräber, halbverhungerte Überlebende auf Pritschen oder hinter Stacheldraht avancierten zu „Ikonen der Vernichtung“[11], „deren Anblick, wie eine griechische Tragödie, Furcht und Mitleid erzeugt, die man aber nicht unbedingt zu verstehen braucht.“[12] Sie begründeten die (Foto-)Geschichte der Konzentrations- und Vernichtungslager, die wir heute erzählen und schreiben.
Im vergangenen Jahrzehnt ist zudem eine weitere Kategorie fotografischer Aufnahmen aus den Lagern sichtbar geworden: Jene Fotografien, die heimlich und illegal von einigen wenigen Häftlingen der Lagerwelt entrissen wurden. Aus verschiedenen Konzentrations- aber auch Vernichtungslagern sind Fotografien überliefert, die von Insassen versteckt vor den Augen des SS-Lagerpersonals Mithäftlinge aber auch die Lagerwelt visuell aus der Sicht der Opfer fotografisch bezeugen.
„Dies war vor allem Häftlingen möglich, die in bestimmten Arbeitskommandos eingesetzt waren, wie dem »Erkennungsdienst« selbst, aber auch Arbeitsbereichen, die mit Forschungsaufgaben betraut waren, wie landwirtschaftliche Zuchtstationen sowie das Krankenrevier.“[13]
Einige dieser auch der Forschung bekannten Fotoserien[14], die heimlich von Häftlingen aus nationalsozialistischen Lagern aufgenommen wurden, nimmt Cognet in seiner Dokumentation in den Blick:
Aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück sind im Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück fünf Häftlingsaufnahmen aus dem frühen Herbst 1944 überliefert. Aufgenommen wurden sie von der polnischen Gefangenen Joanna Szydłowska, die im Schutz einer Baracke drei ihrer polnischen Mitgefangenen, Maria Kuśmierczuk, Bogumiła Bąbińska und Barbara Pietrzyk, fotografierte.[15]
Im Konzentrationslager Dachau dokumentierte der tschechische Häftling Rudolf Císař in mehreren Dutzend Fotografien den Lageralltag. Zwischen den Sommern 1943 und 1944 konnte er unerkannt Nahaufnahmen und Porträts seiner Mithäftlinge schießen, sowie den Block »Revier«, die Krankenstation des Lagers, in dem er als Pfleger arbeitete, fotografisch festhalten. Unter Mithilfe gelang es Císař die Filmrollen sogar aus dem Lager herauszuschmuggeln. Versteckt in einem Gebüsch auf dem Gelände des Konzentrationslagers Dachau schoss der Franzose Jean Brichaux Aufnahmen des Appellplatzes.[16]
Im Konzentrationslager Mittelbau-Dora fotografierte Wenzel Polak zwischen 1943 und 1945 nicht nur die tschechischen Mitinsassen Jan Chaloupka und Frantisek Linhart, sondern auch vermeintlich unspektakuläre Natur-Außenaufnahmen des Lagerkomplexes.
Im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erreichte ein Sonderkommando um den griechischen Häftling Alberto Errera das Unmögliche: Unter höchster Gefahr fotografierte der Grieche den Prozess der Massenvergasung und Leichenverbrennung um das Gelände des Krematoriums V des Lagers Auschwitz-Birkenau. Eben jener Ort, wo Cognet seine filmische Spurensuche beginnen lässt. Diese Bilder, verwackelt und unscharf, einige nur schemenhaft, dokumentieren fotografisch das unvorstellbare Grauen der Lagerwelt.[17]
Im Konzentrationslager Buchenwald konnte der französische Häftling Georges Angéli an einem Sonntag im Juli 1944 heimlich unter dem komplizenhaften Schutz der Insassen José Fosty, Raymond Montégut und Andé Maes elf Fotografien des Lagergeländes und des »Kleinen Lagers« im Konzentrationslager Buchenwald schießen.[18]
Oft nicht nur als ein „Akt des Widerstandes“[19], sondern auch als eine Form der Selbstermächtigung der Opfer konnten einige Insassen in Situationen höchster Gefahr fotografische Beweise für die Grausamkeiten in den Lagern sichern. „Sie alle entstanden aus ganz unterschiedlichen Motiven, aber immer in der Intention, das sichtbar zu machen, was in dem von der Außenwelt strengstens abgeriegelten Mikrokosmos des Lagers geschah.“[20]
Die Betrachtung der Häftlingsfotografien aus den Lagern birgt einige methodische Besonderheiten und stellt für Forschende eine Herausforderungen dar: Fotografien rufen oft eine bestimmte Vorstellung vom historischen Geschehen hervor.[21] Vorausgesetzt muss also werden, dass Häftlingsfotografien bruchstückhafte Momentaufnahme vergangener Lagerwirklichkeit aus der Perspektive der Gefangenen sind, als visueller Abdruck eines vergangenen Ereignisses, in ihrer Entstehung sowie ihrer Betrachtung an Ort und Zeit gebunden sind.
„Die fotografische Aufnahme ist zwar der Wirklichkeit entnommen, sie stellt aber nur einen Ausschnitt dieser Wirklichkeit bereit und wird in ihrer Ausschnitthaftigkeit zugleich zu deren Interpretation. Die Kontextualisierung der Fotografien, die Kenntnis der Bedingungen und Voraussetzungen ihrer Herstellung, wird somit zum zentralen Parameter für historische Erschließung der fotografisch gewonnenen Bilder.“[22]
Illegale Häftlingsaufnahmen aus Konzentrations- und Vernichtungslagern entsprechen häufig nicht den Seherwartungen ihrer Betracher:innen.[23] Eine (wissenschaftliche) Betrachtung der Fotografien von Häftlingen aus Konzentrations- und Vernichtungslagern konfrontiert Historiker:innen mit der Unfähigkeit, sich die dargestellte, abgebildete Lagerwelt „vorzustellen“, „erdenken“ oder „verstehen“[24] zu können. Schon vor zwanzig Jahren formulierte der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman einen Appell ähnlich zu Christophe Cognets Weisung:
„Bilder trotz allem also: trotz der Hölle von Auschwitz, trotz der eingegangenen Gefahren. Wir müssen sie im Gegenzug betrachten, sie annehmen, versuchen, sie zu analysieren. Bilder trotz allem: trotz unserer Unfähigkeit, sie so anschauen zu können, wie sie es verdienten, trotz unserer übersättigten und vom Markt der Bilder beinahe erstickten Welt.“[25]
Georges Angéli – Ein Fotograf in Buchenwald
Mit starrem, aber trotzdem klar bestimmten Blick schaut ein junger Mann, dessen Kopf kahl rasiert ist, in die Kamera. Das Porträt des Mannes zeigt nur seinen Kopf, unterhalb seines Halses eine sechsstellige Zahlenfolge 27 6 43 7. Am 27. Juni 1943 wurde Georges Angéli, der am Vortag im Konzentrationslager Buchenwald angekommen war, im Porträt fotografiert. Gemeinsam mit seiner Haft-Nummer 14824 ist das Porträt ritueller Teil seiner Einlieferung als politischer Häftling ins Lager Buchenwald. Doch wie ist der erst 23-jährige Franzose in nationalsozialistische Gefangenschaft geraten, und vor allem warum?
Georges Angéli wurde am 12. Januar 1920 in Bordeaux geboren. Nachdem er dort seine Schulausbildung abgeschlossen hatte, begann er mit vierzehn Jahren eine Ausbildung bei einem lokalen Fotografen. Im Juli 1939 meldete sich der 19-jährige Georges Angéli freiwillig zum Dienst beim Militär, wurde in Caen als Rekrut ausgebildet und in Blida, einer Stadt im Norden Algeriens, stationiert. Erst 1942 kehrte Georges Angéli zurück nach Frankreich und arbeitete für einige Monate als Fotograf in Poitiers. Dort wurde er zum Arbeitsdienst in La Pallice einbezogen. Im April 1943 desertierte er von dieser Zwangsarbeit, tauchte in Spanien unter, wo er verhaftet wurde. Kurz war er in Perpignan, einer Stadt an der südfranzösischen Grenze zu Spanien, im Castillet-Gefängnis interniert. Danach wurde er in den Norden Frankreichs ins Internierungslager Compiègne gebracht, von wo aus er wenig später nach Buchenwald transportiert wurde. Einen Tag nach seiner Ankunft in Buchenwald musste er gemeinsam mit den anderen Ankommenden aus seinem Transport für die offizielle Aufnahme im Lager zum »Erkennungsdienst«. Während er aufgenommen und für seine »Häftlings-Personal-Karte« fotografiert wurde, fragte ihn der zuständige SS-Offizier über seinen Beruf aus. Nachdem Angéli ihm von seiner neunjährigen Tätigkeit als Fotograf berichtete und auch fachspezifische Fragen beantworten konnte, wurde Angéli der Fotoabteilung zugeteilt.[26] Dort arbeitete er gemeinsam mit einem Dutzend anderer Häftlinge, fast alle ebenfalls politische Gefangene, nur wenige mit fotografischen Vorkenntnissen. Er wurde vor allem im Labor mit der Erstellung einzelner Abzüge von Negativen, die von einem anderen Häftling entwickelt wurden, eingesetzt. Bei dieser Arbeit gelang es ihm, heimlich doppelte Abzüge von Fotografien zu machen, die besondere Grausamkeiten der Lagerwelt, wie Exekutionen, Mordszenen oder Leichen, visuell festhalten. Vor ihm hatte Rudolf Opitz, deutscher Lithograph, der Ende der 1930er Jahre in der Fotoabteilung tätig war, es geschafft einige solcher Negative über entlassene Mithäftlinge aus dem Lager zu schmuggeln. Am 29. Juni 1939 wurde ein Negativ einer Exekution bei ihm gefunden. Nach einem Monat Einzelhaft und Folter wurde Opitz von der SS ermordet. Von dieser Geschichte wusste Georges Angéli als er sich an einem Sonntagnachmittag im Juni 1944 gemeinsam mit den drei Häftlingen aufmachte, das Lager zu fotografieren. Doch sein Drang von der Lagerwelt Zeugnis abzulegen, war stärker als die Angst vor dem Risiko entdeckt zu werden.[27] Dem Fotograf war es aufgrund seiner Anstellung in der Fotoabteilung gelungen, von dort unbemerkt von der SS eine Amateurkamera und zwei 6x9-Filmrollen zu entwenden. An diesem Sonntagnachmittag im Juni 1944 wickelte Angéli die Amateurkamera in eine Zeitung ein und ging zusammen mit drei Häftlingen, die ihn vor neugierigen Blicken schützen sollten, an einige Orte im Lager.
Die 6x9-Originalfilme im Konvolut mit anderen illegal beiseite geschafften Fotografien vergrub er an einem Ort in der Nähe der Baracken, sodass sie die Zerstörung der Fotoabteilung im August 1944 überdauerten. Die beiden heimlich aufgenommenen Filme entwickelte er nach seiner Rückkehr in seine französische Heimat. In improvisierten, kleinen Ausstellungen der Fédération nationale de Déportés et Internés, Resistants et Patriotes (F.N.D.I.R.P.) zeigte er die elf Fotografien, sowie die Aufnahmen, von denen er doppelte Abzüge gemacht hatte. Dafür beschriftete Angéli die Fotografien mit Buchstaben und Nummer und klebte die Originalabzüge auf Pappen. Die Entstehungsgeschichte der Fotoserie und ihre Überlieferung blieben einer größeren, deutschen Öffentlichkeit bis in die 1990er Jahre unbekannt. Erst die Schenkung des Fotografen an die Gedenkstätte Buchenwald, machte die Fotografien, die heute digitalisiert im Fotoarchiv der Gedenkstätte für jeden frei zugänglich sind, auch der Wissenschaft frei zugänglich. Georges Angélis Fotoserie wurde so bereits in verschiedenen Ausstellungen der Gedenkstätte[28], aber auch anderen Institutionen historisch kontextualisiert und beleuchtet.
Einige dieser biographischen Informationen zu Georges Angéli werden im Film jedoch nicht angesprochen.
Augen blicken auf die Lagerwelt
Gemeinsam mit Harry Stein, Kustos für die Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, und Pamela Castillo Feuchtmann, Mitarbeiterin der Bildungsabteilung der Gedenkstätte, sichtet Christophe Cognet im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald die Filmrollen. Cognet erzählt von seinem Gespräch mit Georges Angéli, den er für die Dreharbeiten an einem anderen Film vor dessen Tod 2010 getroffen hatte, und erläutert dessen Strategie, nicht mit seinen Augen, sondern mit seinem Körper fotografiert zu haben. In den Räumen des Archivs begutachten die drei eine Amateurkamera, die der damaligen nicht unähnlich sei: Verschwommen zeigt sich den Zuschauer:innen ein Bild im Bild, vor die Linse einer Filmkamera wird die Linse der Amateurkamera montiert, während die Person hinter der Kamera, Christophe Cognet selbst, über das Gelände der heutigen Gedenkstätte Buchenwald läuft. Schnitt: Der Regisseur geht gemeinsam mit den beiden Expert:innen der Gedenkstätte die Stellen des Lagers ab, an denen Georges Angéli im Sommer 1944 auf den Auslöser drückte. Der Regisseur wandelt in seinem Film auf den Fußstapfen des Fotografen Georges Angéli, versucht dessen Rundgang durch das Lager abzugehen, eine eigentümliche Form des Reenactments. Gemeinsam mit den Expert:innen der Gedenkstätte probiert Cognet die Route der Foto-Tour Georges Angélis nachzuvollziehen. Die drei suchen auf einem großen Platz auf dem Gelände der Gedenkstätte den Aufnahmeort einer Fotografie Angelis, die einen Augenblick vor der sogenannten „Goethe-Eiche“ festhält. Die erste – so wurde es von den Expert:innen rekonstruiert – der elf Fotografien der Serie zeigt Häftlinge, die auf der Lagerstraße an der sogenannten „Goethe-Eiche“ laufen.
Die alte Eiche, die eine gerade senkrechte Achse durch die Mitte der fotografischen Aufnahme zieht, umringen Legenden. Ihren Namen „Goethe-Eiche“ bekam die dicke Eiche, weil sich angeblich der berühmte deutsche Dichter Goethe bei seinen Wanderungen auf dem Ettersberg oft unter dem Baum ausgeruht haben soll. Für viele Häftlinge jedoch symbolisierte der Eichenbaum die deutsche Nation, weshalb sie sich erzählten, „dass es, wenn es den Baum nicht mehr gebe, auch mit Nazi-Deutschland vorbei sei.“[29] Nur wenige Wochen nach der Aufnahme der Fotografie wurde die „Goethe-Eiche“ bei einem US-Luftangriff im August 1944 durch Bomben beschädigt und danach gefällt. Heute ist nur noch der Baumstumpf erhalten. Von dem einst prachtvollen Baum, bleibt nur ein kleiner Stumpf am Boden übrig. Der Augenblick, den Georges Angéli aus der Lagerwelt fotografisch bezeugt, vermittelt uns nicht das Gefühl des Gefangenseins, Stacheldrahtzäune und Häftlingskleidung fehlen, im Fokus der Fotografie ist der Baum, dessen Sturz die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in sich birgt.
Die Fotografie der „Goethe-Eiche“ ist nicht nur die vielleicht am häufigsten publizierte Einzelfotografie der Serie, sondern auch diejenige, die auf der am 2. April 2016 nach Georges Angélis Tod am Gemeindesaal von Vouneuil-sur-Vienne angebrachten Ehrentafel abgebildet ist. In Cognets Dokumentation versuchen der Regisseur, Stein und Castillo Feuchtmann den Augenblick der Aufnahme zu rekonstruieren: Das Foto müsste, so wie die Sonne auf dem Bild stehe, nachmittags aufgenommen worden sein. Georges Angéli habe sich im Schatten einer Baracke versteckt und habe mutmaßlich die Kamera in Froschperspektive unterhalb seines Bauches gehalten. Die Mutmaßungen der drei werden konkreter: Eigentlich mussten Insassen der nationalsozialistischen Arbeitslager, deren Zweck vor allem die Ausbeutung der Arbeitskraft[30] der Häftlinge war, jeden Tag einer ihnen zugeteilten Beschäftigung im Lagersystem nachgehen. Eine Ausnahme waren Sonntage, an denen die Häftlinge zum Teil gar nicht oder nur vormittags arbeiten mussten.[31] Viele der anderen Häftlingsfotografien aus den Lagern sind ebenfalls an Sonntagen entstanden. Die Sonntage als (halb-)freie Tage, an denen wenig SS-Personal in den Lagern patrouillierte, boten günstige Gelegenheiten für das heimliche Fotografieren.
Nachdem sich die Glasplatte passgenau vor den gefilmten Ort auf dem Gelände der heutigen Gedenkstätte schiebt, geht es für die drei zum ehemaligen »Kleinen Lager«. Während die Zuschauer:innen Schritte auf dem Kies hören, wird wiederholt das verschwommene Gelände durch die Linse der Amateurkamera gefilmt.
Fünf Fotografien der elfteiligen Fotoserie Angélis zeigen uns Augenblicke aus dem »Kleinen Lager«, das am nördlichen Ende der Baracken ab Ende 1942 als Kranken- und Quarantänelager diente. Dort, „wo die Unterbringung minimiert, die Verpflegungssätze herabgesetzt und die hygienischen Bedingungen katastrophal“[32] waren, wurden kranke und schwache Häftlinge in einem Sonderbereich eingepfercht: „Das Konzentrationslager bedeutet mögliches Überleben, das Kleine Lager bedeutete den sicheren Tod.“[33] Anders als auf der vorherigen Fotografie ist am linken Bildrand ein Zaun abgebildet.
Heute ist vom »Kleinen Lager« auf dem Gelände der Gedenkstätte nicht mehr viel zu sehen: In der Zeit der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald der DDR spielte dieser Bereich keine große Rolle. Gras und Bäume wuchsen über die baulichen Überreste des »Kleinen Lager«. Erst nach 1991 wurden Relikte wie das Latrinengebäude freigelegt. Noch heute ist ein Teil des »Kleinen Lagers« mit Pflanzen überwachsen. Der heutige Zustand der damaligen Gebäude ist fundamentaler Bestandteil der Bildsprache in Cognets Dokumentation. Die Zuschauer:innen sehen ein dichtes, grünes Gebüsch, durch das es für die drei kein Durchkommen gibt, wie Stein bemerkt. Angélis Fotografie der Lagergasse des »Kleinen Lagers« bezeugt vor allem dessen Überfüllung: Auf kleinem Raum sind viele Häftlinge zu sehen. Dicht an dicht sitzen die Gefangenen auf der Anhöhe am Zaun, auch die Spazierenden laufen eher beengt über die schmale Gasse. Wie schon auf der Fotografie der „Goethe-Eiche“ werden auch hier die Häftlinge beim „Nichts-Tun“ dargestellt – eine Ausnahmesituation innerhalb der Lagerwelt. Während der Gegenüberstellung der fünf Fotografien des »Kleinen Lagers« mit dem Zustand des Aufnahmeorte in der Gegenwart besprechen die drei den Aufnahmemoment in der „Halböffentlichkeit“ des »Kleinen Lagers«. Wie der Regisseur bemerkt, ist der Fotograf Georges Angéli den anderen Insassen sehr nah. Die öffentliche Situation des Fotografierens barg für Georges Angéli die Gefahr von seinen fotografierten Objekten, seinen Mitinsassen, beim SS-Personal denunziert zu werden.
Mit einer Fotografie, die sich sonnende Häftlinge auf einer Rasenfläche neben dem Krematorium des Lagers zeigt, wohl eines der spektakulärsten und diskursivsten Bilder aus Georges Angélis Serie, beginnt und endet der Rundgang des Regisseurs. Zurück im Archiv sieht sich der französische Regisseur ein Fotoalbum an. Das Fotoalbum, eine private Schenkung des Fotografen an die Gedenkstätte Buchenwald, versammelt eben jene Bilder, die Georges Angéli heimlich verdoppelte und aus der Fotoabteilung schmuggelte, gemischt mit offiziellen Porträtbildern des SS-Personals, sowie seiner Fotoserie von 1944. Es ist eine private und individuelle Zusammenstellung. Zurück in Frankreich hatte sich Georges Angéli Zeit seines Lebens in verschiedenen Überlebendenverbände in der Bildungs- und Erinnerungsarbeit engagiert. Das Fotoalbum war Werkzeug in seiner Arbeit als Zeitzeuge, um die Erinnerung an den erlebten Horror auch für spätere Generationen aufrecht zu erhalten. In diesem Fotoalbum beendet die Fotografie des Krematoriums am rechten Bildrand eingeklebt, eine Seite, auf der Fotografien von toten Häftlingsgesichtern gezeigt werden.
Doch auf der Fotografie im Album findet der Regisseur keine sich sonnenden Häftlinge, die rechte Seite der Fotografie zeigt eine lückenlose Rasenfläche vor dem Stacheldrahtzaun. Die drei Betrachter:innen im Archiv diskutieren darüber, warum Angéli die Häftlinge wegretuschiert haben könnte. Sie mutmaßen, Georges Angéli habe eine Retusche der Häftlinge wegen der Banalität des Augenblicks für notwendig gehalten. Sie nehmen an, die Aufnahme könnte zu harmonisch zur „Veranschaulichung“ der Lagerwelt gewesen sein, weil sie Menschen (Gefangene) in einem Konzentrationslager zeige, die sich erholen, als wären sie in einem Park oder frei auf einer Wiese. Im Negativ ist klar zu erkennen, dass im Augenblick der Aufnahme Rauch aus dem Schornstein des Krematoriums steigt. Links das Krematorium bis heute ein Sinnbild für die Ermordung der Insassen nur getrennt durch eine Straße, die die Mitte der Fotografie eine Flucht schneidet, rechts die sich auf der Rasenfläche vor dem Stacheldrahtzaun sonnenden Häftlinge. Eine „banale“ Gegenüberstellung, die einen Augenblick aus der Lagerwelt darstellt, die für uns Nachgeborene nicht klar deutbar ist. Harry Stein meint, der Fotograf habe Angst gehabt eine Realität zu dokumentieren, die die Ausnahme war und die niemand erklären konnte, Georges Angéli habe Angst vor dem „Nicht-Verstehen“ der Betrachter:innen gehabt. Eine (wissende) Angst aller Überlebenden, dass niemand diese Lager verstehen würde.
Da die drei hier gezeigten Fotografien im Repertoire der Fotoserie von Georges Angéli sowohl auf gestalterischer als auch inhaltlicher Ebene verschiedene Aspekte des Lagerlebens repräsentieren, die Widersprüche und Kontraste offen legen, habe ich sie als Bespiele für diesen Text ausgewählt. So unterschiedlich die drei Fotografien aus der Serie auch sein mögen, sie alle bilden und bezeugen Augenblicke aus der Welt der nationalsozialistischen Lager.
Digitale Betrachtungen analoger Augenblicke
Auch online sind alle Fotografien der Serie sowie der retuschierte Abzug der Krematoriums-Fotografie mit umfangreichen Metadaten zu Entstehung, Motiv und Provenienz im Fotoarchiv der Gedenkstätte Buchenwald digitalisiert einsehbar. Eine Betrachtung digitalisierter Bilder und Fotografien ist immer mittelbar. Auch Angélis Fotoserie betrachten die Zuschauer:innen der Dokumentation „À pas aveugles“ nicht unmittelbar, sondern gefiltert nicht durch eine, sondern sogar durch mehrere Augen und Linsen. Fotografien im Film erschaffen für die Betrachter:innen einen doppelten Perspektivfilter. Selbstreflexiv und offen legt der Dokumentarfilmer Cognet seine eigene heutige Perspektive auf die Häftlingsfotografien. Die analogen Fotografien werden in einer medialen Transformation zu einer neuen digitalen und audiovisuellen Quelle. Der Film setzt die fotografisch festgehaltenen, eingefrorenen Augenblicke in Bewegung. Nicht ein Bild, sondern viele Bilder aus der Gegenwart vermischen sich mit den Fotografien aus den Archiven zu einem rückwärtsgerichteten Transitraum zwischen dem Zustand der Gegenwart und den Augenblicke aus der Vergangenheit. Im Transformationsprozess der analogen Fotografien zu bewegten Filmbildern geht ihr quellenimminenter Evidenzcharakter jedoch nicht verloren, sondern wird durch ihre detaillierte, durch Expert:innen gestützte Kontextualisierung und die Gegenüberstellung mit der Gegenwart im Film, umso mehr unterstrichen: Alle im Film gezeigten Häftlingsfotografien sind Zeugnisse, die aus der Sicht der Opfer die Lagerwelt dokumentieren, derer wir auch in Zukunft erinnern und gedenken müssen.
Als ich den Film „À pas aveugles“ auf dem Industry Event der diesjährigen 71. Berliner Filmspiele gesehen habe, kannte ich die Fotoserie Georges Angélis bereits. Auch wenn der Film oft lange auf den Fotografien verharrt, sind es doch nur kurze Momente, die die Zuschauer:innen haben, um die gezeigten Bilder zu verarbeiten, dann folgt schon die nächste Szene. Zeit, zum Nachdenken liefern lange Natur- und Geländeaufnahmen der Gedenkstätten, deren Stille nur das leise Zwitschern der Vögel im Hintergrund gelegentlich durchbricht. Den Zuschauer:innen des Films werden zwar bestimmte Informationen über sekundenlange Texteinblendungen vermittelt, doch oft bleiben Lücken oder Fragen zurück – vermutlich ein Stilmittel des Regisseurs sein Publikum zur weiteren Auseinandersetzung und Recherche anzuregen. Ohne moralische Botschaft ruft die Dokumentation die Zuschauer:innen zum Mit- und Nachdenken auf und zwingt seine Zuschauer:innen zur Betrachtung der Fotografien.
Ein Film, der den Forschungsstand zusammen fasst, also ein Forschungsfilm – trotzdem bleibt ein gewisser künstlerisch, ästhetischer Anspruch des Films hinter der rein kritischen Quellenpräsentation zurück. Der Film erlaubt seinen Zuschauer:innen ein „verschwommenes Eintauchen“ in die Augenblicke aus der Lagerwelt.
Am 14. Juni 2021 um 21:30 Uhr läuft „À pas aveugles“ im Rahmen des Berlinale Summer Specials im Open Air Kino HKW
[1] Auch in seinem vorher erschienenen Buch „Éclats. Prises de vue clandestines des camps nazis“ bespricht der Regisseur die Fotografien als Bruchstücke der Vergangenheit. Vgl. Christophe Cognet: Éclats. Prises de vue clandestines des camps nazis. Paris 2019, [zuletzt abgerufen am 14. Juni 2021].
[2] Im englischen Untertitel: „Since they worked so hard to pass on these images to us, we must look at them”, (Christophe Cognet, „À pas aveugles“. 00:06:08-00:06:10), [zuletzt abgerufen am 14. Juni 2021].
[3] Vgl. Hildegard Frübis: Einleitung. Beweissicherung und ästhetische Praxis. In: Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis. Hrsg. von Hildegard Frübis, Clara Oberle und Agnieszka Pufelska. Wien, Köln, Weimar 2019. S.10.
[4] Ebd. S.11.
[5] Fotografieren in den Lagern war grundsätzlich verboten und in der Lagerordnung unter strenge Strafen gestellt. Zum Verbot des Fotografieren in NS-Lagern: Vgl. Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem. München 2007. S.42, und vgl. Andrea Genest: Fotografien als Zeugen – Häftlingsfotografien aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. In: Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis. Hrsg. von Hildegard Frübis, Clara Oberle und Agnieszka Pufelska. Wien, Köln, Weimar 2019. S.86.
[6] Vgl. ebd. S.85.
[7] Vgl. Ute Wrocklage: Die Fotoalben des KZ-Kommandanten Karl Otto Koch – Private und öffentliche Gebrauchsweisen. In: Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis. Hrsg. von Hildegard Frübis, Clara Oberle und Agnieszka Pufelska. Wien, Köln, Weimar 2019. S.179-206.
[8] Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller: Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz. Darmstadt 2019.
[9] Frübis, Einleitung. S.18.
[10] Frübis, Einleitung. S.17.
[11] Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung: öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Berlin 1998. S.9.
[12] Ebd. S.234.
[13] Genest, Fotografien als Zeugen. S.88.
[14] Die hier bereits zitierte Publikation „Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis“ geht auf eine gleichnamige Konferenz zurück, die im November 2016 am Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz stattfand. Vgl. Frübis, Einleitung. S.9.
[15] Eben diese Fotoserie nimmt die hier bereits zitierte Andrea Genest in den Blick. Vgl. Genest, Fotografien als Zeugen. S.85-112.
[16] Vgl. Clément Chéroux (Hrsg.): Mémoire des camps: photographies des camps de concentration et d'extermination nazis (1933-1999). Paris 2001. Albert Knoll: Illegale Fotos. Nichtoffizielle Aufnahmen aus dem KZ Dachau. In: Spuren des Nationalsozialismus. Gedenkstättenarbeit in Bayern. Hrsg. von Wolfgang Benz und der Bayrischen Landeszentrale für politische Bildung. 2000. S.72-86.
[17] Vgl. Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem. München 2007.
[18] Vgl. Martina Wittleben: Die Glücksfalle. Sonntage gab es selbst im KZ. Denn Terror greift nur, wenn es auch Hoffnung gibt. Bilder von Georges Angeli. In: Du: Die Zeitschrift der Kultur 65 (2005-2006). Heft 757. Imre Kertész. Der Fremde. S.46-49 und vgl. Ilsen About: La période des camps. In: Mémoire des camps: photographies des camps de concentration et d'extermination nazis (1933-1999). Hrsg. von: Clément Chéroux. Paris 2001. S.29-98.
[19] Vgl. Didi-Huberman, Bilder trotz allem. S.62, und vgl. Frübis: Einleitung. S.12.
[20] Frübis, Einleitung. S.13.
[21] Vgl. Brink, Ikonen der Vernichtung. S.10.
[22] Frübis, Einleitung. S.9.
[23] Genest, Fotografien als Zeugen. S.105.
[24] Didi-Huberman, S.15.
[25] Ebd.
[26] Im Interview mit Ilsen About und Clement Chéroux berichtet Georges Angéli am 13. März 2000 über seine Anstellung in der Fotoabteilung des »Erkennungsdienstes« von Buchenwald. Vgl. Entretien avec Georges Angéli. In: Mémoire des camps: photographies des camps de concentration et d'extermination nazis (1933-1999). Hrsg. von: Clément Chéroux. Paris 2001. S.78-83.
[27] Ebd. S.79.
[28] Zum Beispiel sind zwei Fotografien der Serie von 1944 im offiziellen Ausstellungsband der Gedenkstätte zum Eintrag des »Kleinen Lagers« abgebildet. Vgl. Harry Stein: Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung. Hrsg. von der Gedenkstätte Buchenwald. Göttingen 2. Auflage 2000. S.149. Außerdem finden sich Fotografien der Serie in der virtuellen Ausstellung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora: Schwarz auf Weiß. Fotografien vom Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945, [zuletzt abgerufen am 14. Juni 2021].
[29] Wittneben: Die Glücksfalle. S.48.
[30] „Exploitation of labor“ ist grundlegend im nationalsozialistischen Vernichtungsapparat des Lagersystems. Vgl. Raul Hilberg: The Destruction of the European Jews. New Haven London 3rd Edition 2003. S.1064.
[31] Vgl. Genest, Fotografien als Zeugen. S.106, sowie vgl. Wittneben: Die Glücksfalle. S.46.
[32] Harry Stein: Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung. Hrsg. von der Gedenkstätte Buchenwald. Göttingen 2. Auflage 2000. S.149/150. Über die katastrophalen Bedingungen im »Kleinen Lager«: Katrin Greiser: “Sie starben allein und ruhig, ohne zu schreien oder jemand zu rufen“. Das „Kleine Lager“ im Konzentrationslager Buchenwald. In: Dachauer Hefte 14. Jahrgang 1998 Heft 14: Verfolgung als Schicksalsgruppe. S.102-124, [zuletzt abgerufen am 14. Juni 2021].
[33] Ebd. S.103.