von Lale Yildirim

  |  

9. Juni 2021

Die dreistündige Dokumentation zeigt den Lehrer Dieter Bachmann und seine Klasse 6b. Es ist die Schulklasse der Georg-Büchner Gesamtschule in Stadtallendorf in Nordhessen. Der Dokumentarfilm begleitet nicht nur die Schüler*innen in ihrem letzten Jahr vor dem Übergang auf die Oberschule, sondern auch Bachmann, der mit Schuljahresende in Pension gehen wird.

Die Klasse entspricht dem demografischen Spiegelbild einer migrationsinduziert pluralen Gesellschaft in einem sozial bzw. finanziell benachteiligten Milieu in einem Industriegebiet. Dieter Bachmann hingegen sticht mit seiner Art, seiner Sprache, seinem Auftreten und vor allem durch seinen differenzierten Umgang mit seinen Schüler*innen hervor und entspricht nicht den allgemein vorherrschenden Vorstellungen eines Lehrers. Anfangs irritiert der Film durch seine Stille, sein langsames und intensives Tempo und seine Länge. Dieses Vorgehen baut jedoch einen feinen und sehr berührenden Spannungsbogen auf, in dem die Zuschauer*innen nicht nur Bachmann näher kennenlernen, sondern auch sanfte und feinfühlige Einblicke in die Gefühls- und Lebenswelt der Schüler*innen bekommen, ohne deren Privatsphäre zu stören.

 

Herr Bachmann und seine Kolleg*innen

Dieter Bachmann spricht die Sprache seiner Schüler*innen. Ihm scheint nicht die erwartete Bildungssprache oder gar Fachsprache wichtig zu sein. Er will seine Schüler*innen erreichen und sie zum Erzählen und zum Mitmachen aber auch zum Hinterfragen motivieren. Musik ist hierbei stets ein Mittel der Empathie und Annäherung.

Die Zuschauer*innen sehen die Klasse auch mit zwei weiteren Lehrer*innen, die beide sehr gefühlvoll und offen auf die Schüler*innen zugehen und sich ebenso wie Bachmann der Klasse gegenüber öffnen. Dies geschieht oft bei Themen, die Migration und kulturelle oder religiöse Prägung ansprechen. Die gezeigten Lehrer*innen teilen hierbei immer wieder auch persönliche Erfahrungen als Personen mit Migrationsbezug und gehen dabei sehr vertrauensvoll mit den Sorgen, Freuden aber auch lebensweltlichen Erlebnissen der Schüler*innen um, um diese so zu motivieren und in ihrer schulischen Entwicklung zu fördern.

Bei allen Lehrkräften scheint neben dem Curriculum und der Vorbereitung auf die Oberschule vor allem der/die Schüler*in zentral zu sein. Ziel der Bemühungen und des Unterrichts sind oft gesellschaftliche Verortung, individuelle Stärken und Herausforderungen und ein Stärken des Individuums durch und mit der Lerngruppe.

Filmstill Herr Bachmann und seine Klasse. Regie: Maria Speth, Deutschland 2021. Berlinale Wettbewerb 2021, © Madonnen Film.

Die Zuschauer*innen sind anfangs noch irritiert über das Anforderungsniveau, den Unterrichtsstil, die Unterrichtssprache. Langsam öffnet sich jedoch der Blick und primäre Bewertungsideen von Leistung, Unterrichtsstoff und Sprache rücken auch für die Zuschauer*innen vor dem Ziel der individuellen Förderung durch Ermutigung, Vertrauen und Unterstützung in den Hintergrund.

In Gesprächen mit Kolleg*innen wird Bachmanns Ziel und seine Vorstellung von einem guten Lehrer deutlich. Man* sieht einem Lehrer zu, der für sich erkannt hat, dass nur mit pädagogischem und wertschätzendem Impetus junge Heranwachsende auf ihrem Weg gestützt und begleitet, aber auch beschützt werden können. Hierfür, so manchmal der Eindruck, überschreitet Bachmann Grenzen. Viele Gespräche und Diskussionen sind lehrerzentriert und oft fragt er sehr persönliche Dinge, die einige Schüler*innen irritieren und überfordern. Doch in gleichem Maße ist er im Gegenzug bereit, Eigenes, Vergangenes und Privates mit seinen Schüler*innen zu teilen.

 

Herr Bachmanns Schüler*innen

Die Klasse 6b ist eine heterogene Klasse. Die Schüler*innen befinden sich gerade – so scheint es, am Anfang, im Übergang oder auch schon mitten in der Pubertät. Schüler*innen sind schüchtern oder präsent. Sie bedürfen differenzierter und individualisierter Zugänge, die Bachmann versucht zu finden. Ein besonderes Instrument seiner Kommunikation und seiner Bemühungen ist die Musik. 

Filmstill Herr Bachmann und seine Klasse. Regie: Maria Speth, Deutschland 2021. Berlinale Wettbewerb 2021, © Madonnen Film.

Mit Musik und Instrumenten gelingt es ihm, viele Schüler*innen zu erreichen. Andere, die sich davon nicht angezogen oder überfordert empfinden, drängt er nicht und versucht andere Wege zu finden.

Als Mensch und Lehrer sieht er in jedem/jeder Schüler*in etwas Besonderes, das er versucht, hervorzuholen. Im Elterngespräch mit den Elternteilen offenbaren sich familiäre Hintergründe, die er als Lehrer durch eine klare Positionierung aufseiten seiner Schüler*innen begegnet.

 

Gemeinschaft und Individualität

Mit dem näher rückenden Ende der Dokumentation, das mit der Klassenfahrt einen krönenden Abschluss finden könnte, macht sich beim Zuschauer*in plötzlich ein Gefühl des Involviertseins bemerkbar. Man* teilt das Interesse an den Schüler*innen und macht sich Gedanken um den Fortgang und zukünftigen Lebensweg, wenn diese in verschiedene Oberschulen gehen und getrennt werden. Die Zuschauer*innen sehen das Ende einer engen Gemeinschaft, in dessen Zentrum Bachmann wie eine Mutterkrake seine Schützlinge umsorgt, gepflegt und geschützt hat.

Die Verabschiedung von seinen Schüler*innen zeigt jedoch eine weitere, bis dahin nicht offen zutage getretene Perspektive. Man* sieht Bachmann allein in der Klasse. Die Kamera zeigt nicht sein Gesicht. Dennoch erkennt man* die Traurigkeit des Lehrers, der seine Klasse entlassen hat und nun allein zurückbleibt. Es ist ein sehr ehrliches, aber melancholisches Bild davon, wie sehr auch der Lehrer seine Schüler*innen braucht. Diese eindringlichen Bilder zeigen dem/der Zuschauer*in was menschliches und pädagogisches Engagement von Lehrer*innen abverlangt und zeigt, was eine Lehrkraft bewirken kann. 

Insgesamt ist „Herr Bachmann und seine Klasse“ eine sehr sensible und intensive Dokumentation, die es aus der Distanz schafft, ihre Objekte als nahbare Individuen zu erzählen und einen emotionalen, nachdenklich und sehr kritischen Eindruck hinterlässt.

 

 

Herr Bachmann und seine Klasse (Deutschland 2021)

Regie und Produktion: Maria Speth

Dauer: 217 Minuten

 

"Herr Bachmann und seine Klasse" läuft im Rahmen des Berlinale-Summer-Specials am Donnerstag den 17. Juni um 20:30 im Freiluftkino Museumsinsel, am Freitag den 18. Juni um 21:30 im Freiluftkino Friedrichshagen oder am Sonntag den 20. Juni um 21:45 im Freiluftkino Pompeji.

Kinostart ist am 16. Septemer 2021.