Am 10. Mai 1940 überfällt die deutsche Wehrmacht Frankreich, innerhalb weniger Tage sind die französischen Truppen besiegt und das Land besetzt. Was auf den sogenannten ‚Blitzkrieg‘ folgt, sind einschneidende Jahre in der Geschichte der Grande Nation: Zunächst die Teilung des Landes in zwei Zonen mit dem Norden und der Westküste unter deutscher Besatzung und der Herrschaft des Vichy-Regimes im Süden des Landes, die wirtschaftliche und politische collaboration zahlreicher französischer Firmen und Institutionen mit den Deutschen, aber auch die Entstehung verschiedenster Arten von Widerstand in der Résistance. Die Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung beginnt 1944 mit der Offensive der Alliierten am ‚D-Day‘. Im Dezember desselben Jahres sind die deutschen Truppen schließlich aus ganz Frankreich zurückgedrängt.
Nicht ohne Grund werden die Jahre 1940 bis 1944 in Frankreich auch als années noires („schwarze Jahre“) bezeichnet: Der Rückblick auf dieses ‚dunkle Kapitel‘ der Geschichte ist bis heute von Emotionalität geprägt. Der Grund hierfür ist nicht zuletzt in der Vielschichtigkeit der französischen Reaktionen auf die deutsche Besatzung zu suchen. Wie lässt sich beispielweise erklären, dass Franzosen und Französinnen die Mehrheit ihrer jüdischen Mitbürger*innen während der Jahre 1940-44 versteckten und somit vor der Deportation bewahrten, während ein großer Teil der Bevölkerung zugleich die repressive Révolution nationale des Maréchal Pétain unterstützte? Besonders seit den 1970er Jahren wurden diese und weitere kontroverse Themen rund um die années noires in zahlreichen französischen Film- und Fernsehproduktionen verarbeitet. Zu nennen sind insbesondere die Dokumentation „Le chagrin et la pitié“[1] von Marcel Ophüls und der Spielfilm „Lacombe, Lucien“[2] (Drehbuch: Patrick Modiano). Auch Fernsehserien widmeten sich in den 1970er Jahren der Besatzungszeit, unter ihnen beispielsweise „Le 16 à Kerbriant“[3] oder „La ligne de démarcation“[4]. Während jedoch die genannten Kinofilme nicht vor der Darstellung der ‚Graustufen‘ im Verhalten der Bevölkerung von Widerstand bis Kollaboration zurückschreckten, beschränkten sich die genannten Fernsehserien – wie auch zahlreiche Kinofilme – thematisch auf die Erzählung der Geschichte der Résistance. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung französischer Erinnerungskultur ist dies wenig verwunderlich: Wie in Deutschland prägte Verdrängung und nicht Aufarbeitung der ‚unbequemen‘ Kapitel der Geschichte die ersten Jahrzehnte nach dem Krieg.[5] Filme wie „Lacombe, Lucien“ oder „Le chagrin et la pitié“, in denen die Kollaboration einiger Franzosen und Französinnen mit den deutschen Besatzern als ein selbstverständliches Momentum der französischen Geschichte der Jahre 1940–44 dargestellt wurde, stießen weitreichende Debatten an und prägten die Erinnerungskultur nachhaltig.
Die Geschichtsserie „Un Village Français“
Eine Wiederbelebung erfuhr die Diskussion um die Frage nach der Haltung der Franzosen und Französinnen während der années noires durch eine Geschichtsserie: Diese trägt den schmucklosen Titel „Un Village Français“ und wurde 2009 bis 2017 in insgesamt sieben Staffeln im öffentlich-rechtlichen Sender France 3 ausgestrahlt.
Erzählt wird die Geschichte der Bewohner*innen der fiktiven Kleinstadt Villeneuve im französischen Jura während der Zeit der deutschen Besatzung. Die beiden letzten Staffeln greifen darüber hinaus die Themen der libération 1944 und die Erinnerung an die années noires in den Jahren nach dem Krieg auf.
Durchschnittlich 3 Millionen Menschen schalteten bei der Erstausstrahlung der einzelnen Serienepisoden 2009 bis 2017 ein, was einem Marktanteil von 12,3 % entspricht.[6] Vergleicht man diese Zahlen mit dem durchschnittlichen Marktanteil des Senders France 3, der in den Jahren 2009 bis 2017 bei 9,8 % lag,[7] so wird deutlich, dass „Un Village Français“ für den Sender ein eindeutiger Publikumsmagnet war. Demnach ist es wenig erstaunlich, dass die Serie über insgesamt sieben Staffeln fortgeführt wurde – und nach der Produktion von „Engrenages“ des Privatsenders Canal+ die zweite französische Serie mit 50-minütigen Folgen wurde, von der über siebzig Episoden gedreht wurden. Auch im Ausland erfuhr „Un Village Français“ einen beachtlichen Erfolg. Die Serie wurde in insgesamt mehr als dreißig Ländern ausgestrahlt.[8] Dass eine französische Serienproduktion sich von Portugal über die USA bis nach Brasilien und Südkorea verkauft, stellte insbesondere zum Zeitpunkt ihrer Erstausstrahlung eine absolute Ausnahme dar.[9] Von der besonderen Resonanz, die die Serie in den USA erfuhr, zeugen positive Presserezensionen in renommierten Tageszeitungen wie der New York Times,[10] aber auch die Tatsache, dass das Serienkonzept in die USA verkauft wurde und dort aktuell ein Remake der Serie entsteht, dessen Handlung zur Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs angesiedelt sein soll.[11]
Die Kritiken zu „Un Village Français“ fielen nicht nur international, sondern auch in Frankreich sowohl auf Publikumsseite als auch in der Presse äußerst positiv aus. Auf der Website allociné, die nach dem Prinzip der IMDB funktioniert, gehört die Serie mit 4,3 von 5 Sternen (1264 Bewertungen) nach wie vor zu den Top 5 der am besten bewerteten französischen Serienproduktionen.[12] Zahlreiche regionale und überregionale Zeitungen (darunter Libération, Le Monde, Le Figaro …) ‚begleiteten‘ die Serie über all die Jahre hinweg, indem sie vor jeder neuen Staffel Interviews und Rezensionen veröffentlichten. Kritische Stimmen sucht man in den vielen Artikeln über die Serie nahezu vergeblich.
Was aber begeisterte Kritik und Publikum an dem Fernsehdrama über die années noires? Glaubt man den Rezensionen von Fans und Presse, so waren es insbesondere zwei Faktoren, die die Fernsehzuschauer*innen an der Erzählung über die Besatzungszeit faszinierten: Der Blick auf die Alltagsgeschichte von ,Menschen wie du und ich‘ und die Darstellung der ‚Grauzonen‘ im Verhalten der Figuren zwischen Widerstand und Kollaboration und damit gleichsam zwischen Gut und Böse.
Alltagsgeschichte und Multiperspektivität: Die Frage nach dem Wer
Eine Rezension der ersten Staffel der Serie in der Wochenzeitung L’Express verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem alltagsgeschichtlichen Fokus der Serie und dem Interesse der Zuschauer*innen an einer solchen Erzählung: „Dieses ‚französische Dorf‘ zeigt den Konflikt, wie man ihn noch nie gesehen hat. Wie unsere Eltern, unsere Großeltern ihn erlebt haben. […] Hauptdarsteller der Serie ist das Leben, die gewöhnliche und alltägliche Kleinigkeit, der Fokus auf Figuren und Dialoge. Ziel erreicht: Alles wirkt echt und wahr.“[13] In der Tat geht es in „Un Village Français“ nicht darum, die politische Geschichte rund um den Maréchal Pétain, die deutsche Militärverwaltung in Paris oder Regierungschef Laval nachzuzeichnen. Im Mittelpunkt der Serie steht stattdessen ausschließlich das Leben im kleinen Ort Villeneuve; die Zuschauer*innen begegnen männlichen und weiblichen, deutschen und französischen Figuren verschiedenster Generationen, Schichten und Professionen – aber nicht den ‚Promis‘ der Geschichtsschreibung. Dieser alltagsgeschichtliche Fokus auf Personengruppen, die in den Geschichtsbüchern zumeist fehlen, wird in der Geschichtsdidaktik als „Personifizierung“ bezeichnet und stellt eines der zentralen Prinzipien des Geschichtsunterrichts dar. Geprägt wurde der Begriff 1972 durch den Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann,[14] der das Konzept der „Personifizierung“ als Gegenentwurf zur „Personalisierung“, also der „Geschichte der großen Männer“, entwickelte und damit als Erster das Verfahren beschrieb, „Gruppen von Menschen, die man als solche nur generalisierend und abstrakt beschreiben kann, ein Gesicht zu geben“.[15] Dies kann dort, wo man eine umfassende Biographie, die repräsentativ für eine bestimmte Personengruppe stehen könnte, vergeblich sucht, auch durch die Schaffung einer ‚kumulativen‘ fiktiven Biographie auf Grundlage verschiedener (bruchstückhafter) Quellenzeugnisse erfolgen.[16] Gerade die Geschichte sozial und ökonomisch unterprivilegierter Gruppen kann häufig überhaupt nur auf diese Weise erzählt werden.
Das Verfahren der Personifizierung wird, wie „Un Village Français“ anschaulich demonstriert, aktuell nicht nur im Geschichtsunterricht, sondern auch bei der Produktion von Geschichtsserien angewandt. Edgar Lersch und Reinhold Viehoff halten in einer Publikation zum Thema fest, dass Serien mit historischem Inhalt inzwischen „mehrheitlich in einem ‚Realitäts-Fiktions‘-Modus gearbeitet“ seien, der sich „weit im Feld der Fiktion“ bewege, „ohne damit vollständig die Referenz zur Realität aufzugeben“[17]. Serien wie Mad Men[18] oder Downton Abbey[19], die sich in den 2000ern über viele Staffeln hinweg als überaus erfolgreich erwiesen haben und ähnlich wie „Un Village Français“ Alltags- und Epochengeschichte anhand fiktiver Figuren erzählen, bestätigen diese Beobachtung.
Ansprechend für die Zuschauer*innen ist dies einerseits, da sie in den Alltagsgeschichten der Figuren, die ‚ganz normale Leute‘ abbilden, häufig einen größeren Bezug zur eigenen Lebenswelt erkennen als bei der Darstellung der großen und abstrakten Linien politischer Geschichte. Zudem gewinnt die Serie durch die Einflechtung von Figuren verschiedenster sozialer Hintergründe an Komplexität und wird zu einer „multiperspektivischen“[20] Erzählung – um einen weiteren in der Geschichtsdidaktik weit verbreiteten Begriff zu gebrauchen. Denn erst die Betrachtung der Geschichten verschiedenster Personen(kreise) erlaubt es Schüler*innen im Geschichtsunterricht oder eben Rezipient*innen von Geschichtsserien, sich ein umfassendes und komplexes, zuweilen notwendigerweise auch widersprüchliches Bild von der Vergangenheit machen zu können. Fiktionale Werke über Geschichte können somit manchmal die ‚wahrere‘, d.h. die der historischen Komplexität angemessenere Darstellung von Geschichte bieten als faktuale – vorausgesetzt, sie orientieren sich an dem, was an historischen Fakten über die Epoche bekannt ist. „Unsere Arbeit besteht darin, zu erzählen, wie die Dinge sich ereignet haben könnten, und nicht, wie sie sich ereignet haben“[21], beschreibt Frédéric Krivine, Drehbuchautor von „Un Village Français“, seine Aufgabe unter Berufung auf Aristoteles’ Poetik. Vom Streben nach historischer Exaktheit zeugt bei der französischen Fernsehproduktion nicht nur die dauerhafte Einbindung des Historikers Jean-Pierre Azéma in den Produktionsprozess der Serie,[22] sondern auch der große Aufwand, der von den Verantwortlichen für Szenenbild und Kostüm betrieben wurde, um ein möglichst „naturalistisches“ Bild der Jahre 1940-44 zu zeichnen.[23]
Grauzonen und Grenzüberschreitungen: Die Frage nach dem Wie
Wie oben angeklungen, wird die Darstellung der ‚Grauzonen‘ im Verhalten der Figuren zwischen Widerstand und Kollaboration häufig als weiteres Charakteristikum von „Un Village Français“ beschrieben, so zum Beispiel in einer Rezension der sechsten Staffel in der Tageszeitung Libération: „Und dann ist da immer diese liebgewonnene Grauzone in ‚Un Village Français‘, die man wiedertrifft wie eine gute alte Figur, diese Grauzone, […] die ein Frankreich beschreibt, das sich weder zu hundert Prozent in der Résistance wiederfand noch ausschließlich aus Kollaborateuren bestand. Dies gilt für alle Helden und Dreckskerle in ‚Un Village Français‘, sie sind nie durchweg konsequent, immer zerrissen.“[24] Auch die in dem Artikel als „Grauzone“ bezeichnete Ambiguität, die die Darstellung der Handlungen fast aller Figuren in der Serie prägt, findet eine Entsprechung in den fachlichen Zielsetzungen des Geschichtsunterrichts. So sehen viele didaktische Konzepte es als eine seiner zentralen Aufgaben an, bei den Lernenden ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sich Handlungen in der Vergangenheit nicht pauschal als „gut“ oder „böse“ beurteilen lassen. Stattdessen sollen Schüler*innen ein Verständnis dafür entwickeln, Entscheidungen vor dem Hintergrund der Zeit, in der sie getroffen wurden, zu beurteilen – was ein anschließendes Urteil aus heutiger Perspektive nicht ausschließt.[25]
Wie aber werden die „Grauzonen“ in „Un Village Français“ erzeugt? Mit Rückgriff auf Jurij Lotmans Konzept semantischer Räume[26] lassen sich in der Erzählstruktur der Serie Konfliktlinien erkennen, die die Grenzen zwischen verschiedenen Figurengruppen markieren. Besonders auffällige Konfliktlinien verlaufen zwischen den Gruppen der Deutschen und Französ*innen, der jüngeren und älteren Generationen, der Frauen und Männer, der Résistance-Kämpfer*innen und Kollaborateure, der Jüd*innen und Nichtjüd*innen und der Arbeiter*innen und Angehörigen des Bürgertums. Die häufigste Form der Überschreitung dieser Konfliktlinien stellen die zahlreichen Liebesbeziehungen dar, deren Zeuge das Serienpublikum wird. So entwickeln sich in „Un Village Français“ beispielsweise mehrere Affären zwischen deutschen Besatzern und französischen Frauen, zwischen Kollaborateur*innen und Résistance-Anhänger*innen. Insgesamt findet sich in den sieben Staffeln zu jeder der genannten Gegensatzgruppen mindestens ein ‚grenzüberschreitendes‘ Paar. Auffällig ist, dass alle dargestellten Beziehungen, die Figuren aus gegensätzlichen semantischen Räumen zusammenführen, eine Gemeinsamkeit haben: Jede von ihnen stellt ein außereheliches Verhältnis und somit noch in anderer Hinsicht eine Grenzüberschreitung dar – was den Unterhaltungswert der Erzählung für das Publikum natürlich steigert.
Nicht nur durch Paarkonstellationen überschreiten die Bewohner*innen Villeneuves die Konfliktlinien beziehungsweise Grenzen zwischen den gegensätzlichen semantischen Räumen in der Seriennarration, denn die eine oder andere Figur entscheidet sich im Verlauf der Erzählung ganz oder zumindest zeitweise, sich der jeweils anderen Figurengruppe aktiv anzuschließen. Drehbuchautor Frédéric Krivine gab an, dass für ihn bei der Konzeption der Serie ein entscheidender Satz seines historischen Beraters Jean-Pierre Azéma wegweisend war: „Man glaubt immer, dass die Franzosen während der Besatzung dies oder das waren. Sehr oft waren sie allerdings, je nach Situation, dies und das.“[27] Die für die Frage nach den moralischen „Grauzonen" im Verhalten der französischen Figuren wichtigste Grenzüberschreitung stellt wohl diejenige zwischen Kollaboration und Résistance dar. Prominentestes Beispiel hierfür ist die Figur eines mittelständischen Unternehmers, der zunächst aus geschäftlichen Gründen mit der Wehrmacht kollaboriert und zudem eine ,arisierte' Firma übernimmt, sich aber schließlich aus Liebe zu einer Résistance-Kämpferin dem Widerstand anschließt. Aber nicht nur endgültige Grenzüberschreitungen hin zur Résistance finden sich in der Serie, auch kleine, temporäre Akte des Widerstands, wie beispielsweise das aktive Wegschauen eines Angehörigen der Milice, des paramilitärischen Repressionsorgans des Vichy-Staates, der Résistance-Kämpfer in ihrem Versteck aufspürt, diese aber nicht wie befohlen seinen Vorgesetzten ausliefert.
Sobald eine Figur auf die eine oder andere Weise die Grenze zwischen gegensätzlichen semantischen Räumen in der Serie überschreitet, macht sie eine Entwicklung durch, die die Komplexität des Charakters der Figur und der Seriennarration insgesamt erhöht. Genau diese Charakterentwicklungen sind es, die dazu führen, dass sich die Figuren der Serie in vielen Fällen in einer „Grauzone“ zwischen Widerstand und Kollaboration wiederfinden und vom Publikum nicht eindeutig in ein Gut-Böse-Schema einordnen lassen. Doch wie passt diese Form der Komplexitätssteigerung in der Erzählung mit dem hohen Unterhaltungswert zusammen, den ein Großteil der Zuschauer*innen der Serie attestieren?
Die Serie macht's möglich: Unterhaltung und Geschichtslernen
Die Medienwissenschaftlerin Daniela Schlütz, die sich mit den „Charakteristika von Qualitätsserien“ befasst hat, sieht mehrere Ähnlichkeiten zwischen den erfolgreichen, überwiegend aus den USA exportierten Serienproduktionen der letzten Jahre. Demnach zeichnen sich diese von ihr als „Qualitätsserien“ bezeichneten Medien unter anderem durch „narrative Komplexität“, „Authentizität“ (Stichwort: „realistische Fiktion“) und „vielschichtige Charaktere“ aus.[28] Blickt man vor dem Hintergrund ihrer Überlegungen auf „Un Village Français“, wird deutlich, dass einige der Elemente, die die Produktion in den Augen des Publikums zu einer guten, also unterhaltsamen Serie machen, mit den geschichtsdidaktischen Konzepten der Personifizierung, der Multiperspektivität und des moralischen Urteilens über Geschichte in Zusammenhang gebracht werden können.
Nur durch die im Vergleich zum Spielfilm deutlich längere Erzählzeit des Medienformats Serie, die bei „Un Village Français“ bei insgesamt mehr als sechzig Stunden liegt, und durch den Erzählmodus der Fiktionalität und damit der Personifizierung ist es möglich, in der Narration einen hohen Grad an Multiperspektivität und „narrativer Komplexität“ zu erreichen. Die Multiperspektivität findet ihren Ausdruck einerseits in der hohen Anzahl der Figuren (in „Un Village Français“ lassen sich allein mehr als vierzig Figuren ausmachen, die über mehrere Staffeln hinweg in der Serie präsent bleiben), andererseits in Weiterentwicklungen von Figuren. Dies wiederum ist entscheidend, um der Serienerzählung Komplexität zu verleihen. Womit wieder an die oben aufgeworfene Frage angeknüpft werden kann: Weshalb schätzt das Publikum komplexe Seriencharaktere und Erzählstränge?
Daniela Schlütz, die „vielschichtige Charaktere“ als wichtiges Merkmal von „Qualitätsserien“ betrachtet und bei ihnen häufig einen „Verzicht auf eindeutige Gut/Böse-Einteilungen“[29] feststellt, deutet den offensichtlich vorhandenen Genuss bei der Rezeption komplexer Figuren als Ergebnis kognitiver Prozesse, bei denen die moralische Bewertung einer komplexen Serienfigur ständig angepasst werden muss, was wiederum als unterhaltend empfunden werde.[30] Die Verwendung komplex verwobener Erzählstränge wiederum erhöhe den Eindruck der Authentizität des in der Serie Dargestellten – da das Leben, so wie wir es kennen, schließlich auch komplex und von Ambiguität durchzogen sei.[31]
Abschließend betrachtet kann also hervorgehoben werden, dass „Un Village Français“ erst durch das Medienformat Serie zu einer in vielerlei Hinsicht geschichtsdidaktisch wertvollen Erzählung über die Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich wird. Umgekehrt bedeutet dies, dass die geschichtsdidaktisch ‚wertvolle‘, multiperspektivische Konzeption einer Seriennarration dieser in den Augen des Publikums Authentizität und Komplexität verleiht und somit ihren Unterhaltungswert steigert.
[1] Ophüls, Marcel, Le Chagrin et la Pitié, Frankreich/Deutschland/Schweiz, 1971.
[2] Malle, Louis, Lacombe Lucien, Frankreich, 1974.
[3] Chatenet, Jean/Cosmos, Jean, Le 16 à Kerbriant, Frankreich, 1972.
[4] Grangé, Henry/Renault, Gilbert, La ligne de démarcation, Frankreich, 1973.
[5] Vgl. Rousso, Henry, Le syndrome de Vichy. De 1944 à nos jours, Paris 1990 [1987].
[6] Vgl. Papin, Bernard, Un Village français. L’Histoire au risque de la fiction, Neuilly 2017, S. 137 und 142.
[7] Vgl. Audiences en France (30.09.21).
[8] Vgl. Boutet, Marjolaine, „Un Village Français. A french auteur(s) series on a public network“, in: Series. International Journal of TV Serial Narratives 3/2 (2017), S. 101-114, hier S. 111.
[9] Vgl. Ziemniak, Pierre, Exception française. De Vidocq au Bureau des Légendes. 60 ans de séries, Paris 2017, S. 57.
[10] Vincentelli, Elisabeth, „A French Village“, in: New York Times, o.J. (25.09.20).
[11] Anonym, „Brian de Palma va adapter aux Etats-Unis ‚Un village français‘, son ‚émission de télé préférée‘“, in: franceinfo, 10. April 2019, (30.09.21).
[12] Vgl. Séries on allocine (30.09.21).
[13] Festraëts, Marion, „Un village à l’heure allemande“, in: L’Express, 21. Mai 2009, S. 122.
[14] Vgl. Sauer, Michael, Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, Seelze 2018 [2001], S. 86.
[15] Ebd.
[16] Vgl. ebd., S. 87.
[17] Lersch, Edgar/Viehoff, Reinhold, „Geschichte als TV-Serie“, in: Spiel. Eine Zeitschrift zur Medienkultur 2/2 (2016), S. 7-19, hier S. 9.
[18] Weiner, Matthew, Mad Men, 7 Staffeln, USA, Erstausstrahlung 2007-2015 auf AMC.
[19] Fellowes, Julian, Downton Abbey, 6 Staffeln, UK, Erstausstrahlung 2010-2015 auf ITV.
[20] Vgl. bspw. Sauer, Geschichte unterrichten, S. 81-84.
[21] Krivine, Frédéric, „Entretien. Autour d’Un Village français. Les usages de l’histoire dans une série TV con-temporaine“, Interview durch Devigne, Matthieu, in: Panter, Marie et al. (Hrsg.), Imagination et histoire : enjeux contemporains, Rennes 2014, S. 179-190, hier S. 189.
[22] Vgl. Boutet, „A french auteur(s) series“, S. 107.
[23] Vgl. Interviews in der Fernsehdokumentation, die parallel zur Veröffentlichung der siebten Staffel ausgestrahlt wurde: Breton, Emmanuel, Mémoires de Villeneuve. Dans les coulisses d’Un Village Français, Frankreich, 2017. Vgl. außerdem Papin, L’Histoire au risque de la fiction, S. 81-90.
[24] Garrigos, Raphaël/Roberts, Isabelle, „‚Un village français‘, allô maman collabo“, in: Libération, 17. November 2014 (30.09.21).
[25] Vgl. bspw. die Stufen des historischen Lernens nach Karl-Ernst Jeismann: Jeismann, Karl-Ernst, Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Schneider, Gerhard (Hrsg.), Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, Pfaffenweiler 1988, S. 15.
[26] Vgl. Lotman, Jurij, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 311-329.
[27] Jean-Pierre Azéma, in: Krivine, Frédéric, „Deuxième saison d’Occupation“, Interview durch Douhaire, Samuel, in: Télérama, 09. Oktober 2009 (30.09.21).
[28] Vgl. Schlütz, Daniela, Quality-TV als Unterhaltungsphänomen. Entwicklung, Charakteristika, Nutzung und Rezeption von Fernsehserien wie The Sopranos, The Wire oder Breaking Bad, Wiesbaden 2016, S. 100-122.
[29] Ebd., S. 119.
[30] Vgl. ebd., S. 203.
[31] Vgl. ebd., S. 105.