Hg. von Annette Schuhmann

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27. Dezember 2024

Am Ende dieses Jahres haben wir die Mitglieder der Redaktion von zeitgeschichte|online gebeten, uns ihre Gedanken zu der Frage zu schreiben:

Welche gesellschaftliche Entwicklung bereitet Euch im Hinblick auf die Zukunft die größten Sorgen – und wo seht Ihr vielleicht dennoch Anlass zur Hoffnung?

An den zumeist zögerlichen Reaktionen war abzulesen, dass es eine schwierige Frage ist: Rechtsextremismus, Antisemitismus, Klimawandel, die Lage im Nahen Osten, ein Verfall der Diskussionskultur wurden genannt. Aber auch Engagement, Vorbilder, Freundschaften und nicht zuletzt die Fähigkeit, die wir als Historiker*innen erworben haben, mit der Geschichte zu arbeiten und damit, wie mein Kollege Christoph Classen schreibt, zu zeigen, dass „es die heile Welt“ nie gegeben hat.

Was mir Sorge bereitet mit Blick auf die Zukunft, ist das Vergessen der Geschichte und das Wegschauen in der Gegenwart. Wir sehen heute, um nur ein Beispiel zu nennen, die Bilder aus der Hölle des Saidnaja-Foltergefängnisses in Syrien und sind entsetzt. Aber wussten wir das nicht schon längst und haben weggeschaut? Bereits im August 2013 schmuggelte ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ über 50.000 Fotos aus Syrien. Fotos von gefolterten und getöteten Gefangenen aus syrischen Regierungsgefängnissen. Human Rights Watch hat 28.000 Fotos auf ihre Echtheit hin überprüft, knapp 7000 Leichen konnten identifiziert werden. Zu dieser Zeit befanden sich über 100.000 Gefangene in syrischen Gefängnissen. Dass dort gefoltert, ausgehungert und geprügelt und schließlich getötet wurde, war allgemein bekannt.

Was mir Hoffnung macht: Überall auf der Welt begeben sich Menschen in Lebensgefahr, um ihr Grundrecht auf ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben zu gewährleisten: die iranischen Frauen, die Weißhelme in Syrien, die Sea-Watch-Initiative, die Bahnhofsvorsteherin in Cherson, die aus dem Bahnhof ein Hilfszentrum machte und viele andere mehr.

In Deutschland, so habe ich den Eindruck, mangelt es an aktiver Hoffnung. Und dennoch: Eine Rede, wie sie der Schriftsteller Marko Martin aus Anlass des 35. Jahrestages des Mauerfalls im Schloss Bellevue hielt, macht Hoffnung, sie macht wach, und sie hebt die weit verbreitete narzisstische Perspektive auf das eigene Land ein wenig auf. Die Rede finden Sie hier.

Hoffnungslosigkeit können wir uns nicht leisten, schrieb Heribert Prantl, der übrigens ein ganzes Buch über die Hoffnung geschrieben hat. Also machen wir uns an die Arbeit: Wir müssen die Welt der Vergangenheit beschreiben, damit wir die Gegenwart besser verstehen. Wir haben das Privileg, durch ein Leben in der Demokratie und durch unsere akademische Ausbildung zu entscheiden, was Sinn macht und was nicht, was wir glauben wollen und was nicht. Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit, Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen …so der große Autor David Foster Wallace im Jahr 2005 in seiner Rede vor dem Abschlussjahrgang des Kenyon College der freien Künste in Ohio.

Vielleicht fangen wir damit erstmal an.

Ich bedanke mich bei allen Redaktionsmitgliedern dafür, dass sie sich immer wieder Zeit nehmen, auf schwierige Fragen zu antworten, und bei Peter Bratenstein und Sophie Stegemann für ihre klugen Kommentare und ihre Furchtlosigkeit im Umgang mit einem sperrigen CMS.

Annette Schuhmann, Dezember 2024

 

Krieg und Frieden im Nahen Osten
Von Annette Vowinckel

Die Auswahl an Krisen und Katastrophen ist dieses Jahr wahrlich groß. Diejenige, die mir persönlich die größten Sorgen bereitet, ist die im Nahen Osten. Leider ist Frieden in der Region in den fast 20 Jahren seit dem Tod Jitzchak Rabins im November 1995 in immer weitere Ferne gerückt. Hatte man in den 1990er Jahren noch das Grundvertrauen, dass die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ein Frage der Zeit sein würde, so ist man jetzt schon dankbar für jeden Tag, an dem nicht Dutzende von Zivilist:innen getötet werden.

Zwischen 1985 und 1995 habe ich drei Monate im Kibbuz Be’eri und zwei Jahre in (West-) Jerusalem gelebt. Dies war in Israel eine Zeit der Liberalisierung: Man konnte am Schabbat ins Kino und an Pessach Schinkenpizza essen gehen. Israel und die PLO erkannten wechselseitig ihr Existenzrecht an, 1993 unterzeichneten Israel und Jordanien mit Rückendeckung durch Jassir Arafat einen Friedensvertrag. Den langanhaltenden Rechtsruck der israelischen und die islamistische Radikalisierung der palästinensischen Gesellschaft kann ich zwar historisch erklären. Aber es fällt mir schwer, die jüngsten Entwicklungen mit all ihren gewalttätigen Exzessen zu verfolgen, ohne in Defätismus zu verfallen. Optimistisch stimmt mich allein das Wissen darum, dass friedliche Lösungen manchmal gerade dann am Horizont aufschienen, als die Lage besonders düster war. So war es mit dem Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten wenige Jahre nach dem Jom Kippur-Krieg von 1973 und mit dem Oslo-Prozess nach der ersten Intifada von 1987. Manchmal nimmt die Geschichte – so meine Hoffnung – ja doch unvorhergesehene Wendungen zum Besseren.

Picture by unknown, 9 October 2023, rows of abandoned civilian cars following the Nova Festival Masacre, Wikimedia Commons, CC0 1.0 Universal.

 

Fotografie als Hängebrücke
Von Robert Mueller-Stahl

Wie so viele, die in entfernter Weise mit dem Nahen Osten verbunden sind, haben mich der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober und der zerstörerische Krieg, der auf ihn gefolgt ist, erschüttert. Die entfesselte Gewalt, die die Region überzieht, genauso aber auch die oft apodiktische Art und Weise, wie hier und andernorts darüber gesprochen wird, haben mich Tag für Tag betroffen und mitunter sprachlos gemacht. Einen versprochenen Beitrag für das Dossier „Die Welt aus den Fugen“ habe ich zurückgezogen, weil er nicht über eine eigene moralische Standortbestimmung hinauskam. Und davon war im letzten Jahr mehr als genug zu lesen.

Meine Arbeit zu privaten Fotoalben deutsch-jüdischer Familien aus den 1930er Jahren, verbunden mit all den Kontakten und Freundschaften, die durch sie entstanden sind, hat mir den Konflikt nahegebracht. Sie hat aber auch eine enorme Dissonanz offenbart. Während mein Newsfeed zu einem Fließband unermesslichen Leids wurde, habe ich Fotos studiert, in denen Verfolgung und Gewalt, die die Abgebildeten erlitten, selten zu sehen sind. Hier eine fortlaufende visuelle Entmenschlichung, dort der Versuch, der Entmenschlichung mit der Kamera entgegenzutreten. Beides zusammenzubringen, schien mir mitunter unmöglich.

An einer unverhofften Stelle aber hat sich doch eine Verknüpfung aufgetan. Und sie ist dann auch der dünne Faden, an den ich einen Schimmer Hoffnung zu knüpfen wage. Aus meiner Dissertation heraus habe ich in diesem Jahr eine Ausstellung kuratiert. Sie heißt „Das Leben festhalten. Fotoalben jüdischer Familien im Schatten des Holocaust“ und läuft noch bis Ende März im Schöneberg Museum. Entlang privater Fotoalben folgt sie sechs jüdischen Familien durch die 1930er und 1940er Jahre.

Die Alben, die das Gestaltungsbüro Franke I Steinert in liebevoller und akkurater Weise für die Ausstellung reproduziert hat, erzeugen eine Präsenz, die mich nach Jahren der weithin einsamen Beschäftigung mit ihnen selbst überrascht hat. Vielleicht noch mehr als durch schriftliche Quellen schaffen die Fotos eine Verbindung zwischen den Abgebildeten und ihrem heutigen Publikum. So vernehme ich es immer wieder bei Führungen und lese es auch im Gästebuch. Die Einträge darin sind größtenteils auf Deutsch verfasst, aber auch auf Englisch, Hebräisch oder Koreanisch. Kürzlich schrieben zwei uighurische Besucher*innen, dass sie in den Fotos eine imponierende und zugleich vertraute Resilienz und Stärke erkennen.

An der gegenwärtigen Gewalt im Nahen Osten vermögen diese Begegnungen natürlich nichts auszurichten. Um sie einzuhegen, bedarf es einer von gegenseitiger Anerkennung geleiteten Politik, einer tatsächlichen Diplomatie, nicht zuletzt auch eines zivilgesellschaftlichen Engagements, das keiner selbstgerechten Eindeutigkeit verfällt. Was die Eindrücke aber aufscheinen lassen, ist die fragile Fähigkeit, für einen Augenblick die Perspektive zu wechseln, um die Verfolgten so zu sehen, wie sie sich selbst sehen wollten. Was ich im Museum erleben konnte, ist die Möglichkeit von Empathie.

 

Kürzungen statt Unterstützung
Von Lasse Gräf

Bei dieser Frage fiel es mir schwer, nicht intuitiv an den Rechtsruck, die anhaltenden Kriege oder auch den vermeintlichen Zwang zur Aufrüstung zu denken. Doch oft geht über die Diskussion der großen Probleme, die lokale Ebene verloren. Das wurde mir in dieses Jahr klar, als ich auf die anstehenden Kürzungen für Berliner Jugendclubs aufmerksam gemacht wurde.

Hauptsächlich aus Schüler:innen und Student:innen bestehend, probt der Chor, in dem ich aktiv bin, kostenlos in einem Jugendclub in unserem Gründungsbezirk Pankow, wodurch wir nicht auf hohe Mitgliedsbeiträge angewiesen sind und weite Fahrtwege vermeiden können. Die klischeehaft unterbesetzten, überarbeiteten und äußerst engagierten Sozialarbeiter:innen der Einrichtung informierten uns im Sommer, dass die Pankower Bezirksverordnetenversammlung plane, aufgrund des großen Lochs im Berliner Haushalts ab sofort auch bei den Jugendeinrichtungen zu sparen. Besucher:innen der BVV berichteten, dass Pläne von Preiserhöhungen bis Überführung in Freie Trägerschaften oder sogar Schließung mehrerer Häuser debattiert wurden. Als wenn das nicht Grund genug zur Sorge wäre, entgegnete die Bezirksoberbürgermeisterin (Partei Bündnis 90/ Die Grünen) bei einer gegen diese Vorhaben gerichteten Demonstration vor dem Pankower Rathaus, an der vor allem Kinder und Jugendliche teilnahmen, sinngemäß: Man solle auch bedenken, dass Obdachlose und andere Gruppen ebenfalls von staatlichen Geldern abhängig seien und deswegen überall gespart werden müsse.

Diese Zurschaustellung fehlenden politischen Willens und des gegeneinander Ausspielens schwacher sozialer Gruppen machte mich fassungslos. Warum eigentlich? Vielleicht, weil sie sinnbildlich für die oft betonte Polarisierung der Gesellschaft entlang der immer gleichen Linien wie Einkommen oder sozialen Klassen steht. Vielleicht aber auch, weil ich dachte, es sei eine Selbstverständlichkeit, genügend Raum, Zeit und Geld für Kinder und Jugendliche zur Verfügung zu stellen. Doch auch die Frage, was mir in diesem Zusammenhang Hoffnung macht, soll hier nicht unbeantwortet bleiben: Es sind, wie so oft, die Menschen, die sich zusätzlich zu ihrer Schicht im Jugendclub in ihrer Freizeit dafür einsetzen, dass es die von ihnen betreuten Räume für alle Jugendlichen gibt, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Und es sind auch meine Erfahrungen im Chor, dass man gemeinsam Lösungen für komplizierte Probleme finden kann, auch wenn damit Anstrengungen verbunden sind.

 

We still believe
Von Christine Bartlitz

Tagelang bin ich um das Word-Dokument herumgekreist, habe mit Hausarbeit prokrastiniert und dabei über Angst und Hoffnung nachgedacht. Dann habe ich (nicht zum ersten Mal) überlegt, inwieweit ich stärker direkt gesellschaftlich tätig werden könnte, um die Welt vielleicht ein ganz klein wenig besser zu machen oder zumindest mein Gefühl der Hilflosigkeit ob des aktuellen Zustands zu verändern.

Denn ich habe nicht allzu viel Hoffnung, gerade mit Blick auf den Klimawandel und das Artensterben. Eigentlich fühle ich mich hoffnungsloser denn je, mehr noch als in den 1980er Jahren, als die Angst vor nuklearer Verstrahlung in der (westlich-bundesrepublikanischen) Welt jedenfalls in meinem Umfeld groß war (dazu einer der traurigsten Filme aller Zeiten: „Wenn der Wind weht“, GB 1986).

Herausgekommen ist bei all meinen Gedanken nichts Veröffentlichungswertes – bis auf diese Fotografie einer heruntergekommenen Wand hinter dem Potsdamer Hauptbahnhof mit dem hoffnungsvollen Statement We still believe.

Eigentlich gibt es dem nichts hinzuzufügen.

Foto: Christine Bartlitz, Potsdam, 5.12.2024, CC BY-NC-ND 4.0

 

Ist unsere Diskussion wirkungslos geworden?
Von Clara Busch

Die Liste der Krisen, die uns derzeit beschäftigen ist lang und wird jeden Tag länger. Ihre Folgen reich – mal mehr mal weniger explizit – bis in unseren Alltag hinein, und sei es allein durch das private Gespräch darüber. So oft erscheinen die Probleme dabei derart aufgeladen, dass die Frage nach der eignen Position eine Beantwortung mit „dafür“ oder „dagegen“ erzwingt. Die sich daran anschließenden Diskussionen verlaufen meist gleichförmig. Alle Argumente wurden bereits formuliert, jede Gegenrede vorgebracht. Bestimmte Buzzwords genügen, um eine Kettenreaktion auszulösen, in der vermeintlich zwangsläufig aufeinander reagierende Argumente abgespult werden. Grundlegende Diskussionsregeln wie die Offenheit gegenüber neuen Einsichten oder die Bereitschaft zur Aufgabe des eigenen Standpunktes scheinen dabei außer Kraft gesetzt. Die Diskussion kommt damit zu einem wiederkehrenden, vorhersehbaren Schluss; bleibt ohne Folgerungen, ohne Konsequenzen. Vor diesem Hintergrund frage ich mich in letzter Zeit immer häufiger: wozu diskutieren wir überhaupt noch? Und dass, obwohl uns allen bewusst ist, dass wir so keine der heutigen Herausforderungen lösen werden.

 

Bitte keine Worthülsen mehr....
Von Alina Müller und Marie Luise Wallroth

Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen im deutschen und internationalen Kontext beunruhigen und beängstigen uns. Als wir uns über die Frage unterhielten, fanden wir heraus, dass wir beide im Laufe dieses Jahres öfter einmal den Wunsch verspürt hatten, der Realität zu entfliehen – und im nächsten Moment natürlich merkten, dass der Rückzug ins Private keine Lösung sein kann. Nach wie vor ist eine fundierte Auseinandersetzung mit den Problemen in dieser Welt, gesellschaftspolitisches Engagement und Protest der einzige Weg, der bereits etwas verändert hat und in Zukunft verändern wird.

Für die dazugehörigen zukünftigen Debatten wünschen wir uns, dass sie weniger von Worthülsen geprägt sind und stattdessen Raum für Ambivalenzen, Unsicherheiten und Austausch da ist. Es braucht Diskussionen, welche die Komplexität gesellschaftlicher Probleme anerkennen und Kontext ermöglichen, anstatt diese zugunsten vermeintlich einfacher Antworten zu verkürzen. Diese Haltung wünschen wir uns für die Debatten im kommenden Jahr – eine Offenheit, die Fragen zulässt, Unsicherheiten akzeptiert und Raum für Reflexion bietet.

 

Fremdgewordenes Lautsprecher-Land
Von René Schlott

Lange habe ich mit mir gerungen, der Einladung hier einen Text beizusteuern, nachzukommen. Denn was soll ich noch schreiben nach einem Jahr, in dem die Worte ihre Bedeutung verloren haben, die Sprache zu einer Waffe geworden ist, die militärische Logik sich auch der Semantik bemächtigt hat. Ein Diskurs findet nicht mehr statt. Nur noch seine Simulation. Alles ist erwartbar geworden. Die immer gleichen Parolen sind allgegenwärtig. Es fehlt die Substanz. Jeder Versuch der Differenzierung wird unter Schlagworten begraben. Wo keine Argumente sind, wird auf den Sprecher oder die Sprecherin gezielt. Mit Regelmäßigkeit werden Andersdenkenden niederste Motive unterstellt. Woher nur kommt diese Böswilligkeit? Der Neugier auf Auffassungen, die der eigenen widersprechen könnten, sind Vorurteil und Angst gewichen.

Wenn ich noch einen Restglauben an eine vernunftgeleitete, sachbezogene Debattenkultur hierzulande hatte, wie sie zuallererst Menschen beherrschen können sollten, die selbst schreiben, ist er mir am zweiten Adventssonntag verloren gegangen, als ich an der außerordentlichen Mitgliederversammlung des PEN Berlin teilgenommen habe. Die deutsche Nabelschau, die seitdem in den deutschen Feuilletons betrieben wird, ist zutiefst beschämend, das Ausmaß an deutscher Kleingeistigkeit und willfährigem Opportunismus erschütternd.

Mein Land und meine Landsleute sind mir fremd geworden. Mein Vertrauen in die politischen und gesellschaftlichen Institutionen - in die Universitäten, die Medien, die Gerichte - ist dahin. Immer wieder ertappe ich mich selbst bei der billigsten aller Ausflüchte: der zynischen Gleichgültigkeit. Als Kind des Jahres 1989 und als Historiker bleiben mir nur einige Gewissheiten mit Blick in die Geschichte: Jede Mauer, jeder Zaun den Menschen in ihrer Hybris errichtet haben, ist irgendwann gefallen. Jede Parole wird mit ihrer Wiederholung leerer und fällt am Ende in sich zusammen. Jeder Versuch die Worte ihrer Kraft zu berauben ist über kurz oder lang gescheitert. Noch jedes Regime ist hinweggefegt worden, das auf Lügen, Unrecht und Unterdrückung gebaut war. Keine Angst ist ewig. Einzelne Menschen haben sich noch unter widrigsten Umständen ihre Sprache nicht nehmen lassen. Jede und jeder hat in jedem Augenblick der Geschichte eine Wahl.

Was mir in diesem Jahr deshalb Hoffnung gab: Basel Adra und Yuval Abraham, die beiden Protagonisten im Film „No Other Land“, die im Angesicht grenzenloser Ohnmacht an der Kraft des gewaltlosen Widerstand festhalten; die Relektüre von Henry David Thoreaus Mitte des 19. Jahrhunderts geschriebenen kämpferischen Essays „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ und von Václav Havels „Versuch, in der Wahrheit zu leben“; die Beharrlichkeit von Omri Boehm, mit der er an der Idee des Universalismus festhält.

Und als Jahresmotto 2025 schlage ich ein Zitat aus Gottfried Benns „Ptolemäern“ vor (das ich neulich in einem Text von Werner Plumpe las): „Rechne mit deinen Defekten. Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.“

 

Verzweiflung als Gefühl, aber nicht als Analyse
Von Nina Neuscheler

Die Krisen der Welt sitzen mit am Tisch, wenn ich meine Freund:innen treffe. Erst vor einigen Tagen trank ich Kaffee mit einem Freund aus Polen, uns verbindet jahrelanges gemeinsames Engagement für den Klimaschutz. Heute ist er beruflich und privat häufig in der Ukraine, Lwiw liegt von Warschau aus näher als Berlin. Wir hatten uns zwar kürzlich erst gesehen, aber die Gelegenheit war günstig und seiner Einschätzung „well these are strange times so who knows when is the next occasion“ gab es nichts hinzuzufügen. Unser Treffen war ausgelassen, aber immer auch bedeutungsschwer: Man weiß nie, wann und unter welchen Umständen wir uns wieder zu Gesicht bekommen. Diese Fragen stellen sich anders von Jahr zu Jahr, das merken wir. 2024 haben sich die Krisen breiter gemacht an den Tischen, an denen ich mit meinen Freund:innen Platz nehme: in Europa tobt ein Krieg, immer mehr Menschen halten Rechtsextreme für wählbar, diesen Rechtsextremen gelingt in schockierendem Tempo eine Diskursverschiebung und die Klimakrise macht 2024 aller Voraussicht nach zum heißesten Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen.

Um jetzt noch die Kurve zur Hoffnung zu kriegen, brauche ich intellektuelle Hilfe. Die finde ich seit Jahren in den Essays von Rebecca Solnit. Dort lese ich Zuspruch, wenn ich ihn selbst nicht formulieren kann. Solnit, US-amerikanische Schriftstellerin und Feministin, ist eine Verfechterin der Hoffnung, vielleicht die unermüdlichste, die ich kenne. Ihre Hoffnung hat Haltung und fordert einen aktiven Einsatz für sich ein. „Hope without action is just wishful thinking” ist das Credo, das sich durch Solnits Schreiben zieht. Und wer aktiv wird und dabei an der Wirksamkeit des eigenen Handelns zweifelt oder gar ungeduldig auf ausbleibende Ergebnisse schielt, für den hat Solnit die longue durée parat: „people have to believe that the myriad small, incremental actions matter. That they matter even when the consequences aren’t immediate or obvious.”[1] Die Messlatte des eigenen Handelns an der Stimmigkeit der Beweggründe auszurichten anstatt am unmittelbaren Eintritt des gewünschten Ergebnisses ist richtig und hält die Hoffnung, die Utopie einer irgendwie erreichbaren, besseren Zukunft, hoch. Der Einsatz im Namen der Hoffnung und damit gleichsam ihre Aufrechterhaltung ist streckenweise mühsame Arbeit. Eine Arbeit, die wir zum Glück nicht alleine machen müssen: Denn nicht nur die Krisen sitzen mit am Tisch, sondern auch die Freund:innen! In diesem Sinne oder wie Rebecca Solnit sagt: „I accept despair as an emotion but not as an analysis.“[2]

 

Vorwärts in die Vergangenheit?
Von Christoph Classen

Ich beobachte in Politik und Gesellschaft einen Verlust an Zukunft, der mir Sorge bereitet.

Das muss ich erklären. Offensichtlich ist die liberale Demokratie unter Druck, auch in Deutschland. Sie wird nicht nur von außen angegriffen, von Autokraten wie Putin, sondern - schlimmer noch - von innen, von Politikern und Wählern, die nach einem autoritären Dezisionismus rufen, der die vermeintlich ineffizienten Verfahren demokratischer Kompromissbildung, konsequenter Gewaltenteilung und rechtsstaatlicher Garantien ersetzen soll.

Nun ist dies weder neu noch ein Alleinstellungsmerkmal der Politiker neuer, offen populistischer Parteien. Was mich im Gegenteil besonders erschüttert, ist die Leichtfertigkeit, mit der in jüngster Zeit demokratische Grundprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit von Regierungsvertretern bis hin zu Staatssekretären und Ministern zur Disposition gestellt werden. Das hätte ich nicht für möglich gehalten.

Aber warum verfängt das jetzt? Warum lassen sich damit politische Erfolge erzielen? Hier kommt der „Verlust an Zukunft“ ins Spiel. Denn offenbar gelingt es den etablierten Parteien nicht mehr, eine glaubwürdige positive Vision zu entwickeln. Die über Jahrzehnte auf Wahlplakaten verewigten Fortschrittsversprechen von mehr Wohlstand, Gerechtigkeit und Sicherheit wirken heute angesichts vielfältiger Krisenerfahrungen und düsterer Zukunftserwartungen nicht mehr glaubwürdig.

Für immer mehr Wählerinnen und Wähler scheint ein anderes, rückwärtsgewandtes Narrativ attraktiver: die Rückkehr in eine nostalgisch verklärte Vergangenheit, als die Dinge noch überschaubar schienen, der Nationalstaat noch Schutz vor der Globalisierung versprach, Tradition als Orientierungsmaßstab dienen konnte, kurz: als die Welt noch in Ordnung war. „Take Back Control“ lautete der Slogan der Brexit-Befürworter.

Der Verlust von Zukunft ist also gefährlich. Aber ich habe auch Hoffnung: Als Historikerinnen und Historiker können wir zeigen, dass es diese heile Welt in der Vergangenheit nie gegeben hat, dass es kein Zurück in diese imaginierte heile Welt gibt. Und als Bürgerinnen und Bürger können wir uns gegen Einschränkungen demokratischer Prinzipien wehren und diejenigen unterstützen, die sich vor allem mit juristischen Mitteln gegen die Unterminierung von Rechtsstaat und Demokratie engagieren.


[1] Solnit, Rebecca: Protest and persist: why giving up hope is not an option, 13.03.2017.
[2] Solnit, Rebecca: Difficult is not the Same as Impossible. An excerpt from ‘Not Too Late: Changing the Climate Story from Despair to Possibility’, 22.01.2024.