von Uta Bretschneider

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18. März 2019

Umbruchserfahrungen – Erfahrungsumbruch

Mit den kollektiven Umbruchserfahrungen nach 1989/90 gingen auch individuelle Erfahrungsumbrüche einher. DDR-spezifische Wissens-, Erfahrungs- und Erinnerungsbestände, ideologisch geprägte Geschichtsbilder und über Jahrzehnte erprobte Handlungsmuster wurden mit der Friedlichen Revolution umfassend in Frage gestellt. Die ostdeutschen Transformationsprozesse brachten zugleich ganz lebenspraktische und alltagsbezogene Herausforderungen mit sich. Sicherheiten und Gewissheiten verschwanden mit dem Ende des SED-Staates. Neue Interpretationen und neue Grenzen des Sagbaren entwickelten sich rasch. Es wurde ein Justieren der Erfahrungs-, Erinnerungs- und Wissensbestände im gesamtdeutschen Setting notwendig, bei dem auch vermeintlich ostdeutsche Identitäten (neu) verhandelt wurden. Diese Um-Deutungsprozesse gingen einerseits mit hitzigen und hoch emotional geführten gesellschaftlichen Debatten einher, andererseits mit ganz individuellen Verlusterfahrungen, mit Um- und Aufbrüchen in allen Gesellschaftsbereichen.

Die DDR war mit ihrem Ende für viele Menschen ein problematischer Erlebnis- und Erinnerungsraum geworden. Darauf reagierten einige Akteur*innen mit trotziger Ostalgie, andere mit pragmatischer Zukunftsorientierung. Ein differenzierter Blick auf die individuellen Erinnerungsbestände zur DDR bedurfte erst der größeren zeitlichen Distanz; er ist heute für viele, aber längst nicht alle alltagskulturell relevanten Bereiche gegeben. Die Friedliche Revolution eröffnete jedoch auch neue Möglichkeitsräume und Erfahrungswelten: In Hinblick auf das Zurückliegende, aber auch bezogen auf die Zukunftsperspektiven, boten sich im gesamtdeutschen Rahmen neue Chancen. So erlebten viele Akteur*innen die Phase des Umbruchs als eine des Aufbruchs, deren fluide Strukturen neue Wege ermöglichten. Sie eigneten sich die radikal neu konfigurierten Lebens- und Arbeitswelten in individuellen Prozessen aktiv an und gestalteten die Veränderungen mit.

 

Transformationsgeschichte(n)

Historische Zäsuren finden ihren Niederschlag in individuellen Lebenswegen. Der Soziologe Michael von Engelhardt hat zu dieser Verknüpfung treffend formuliert: „Geschichte dringt als soziokultureller Wandel und in der Form sozialgeschichtlicher Umbrüche, die mit Kriegen, Inflation, Flucht, Vertreibung, Wechsel politischer Systeme etc. verbunden sind, in den Lebenslauf der Menschen ein. Diese Vergeschichtlichung bringt beschleunigte Veränderungen und Diskontinuitäten in das Leben hinein, die in der personalen Identität verarbeitet werden müssen. […] Historische Identität wird zum Bestandteil personaler Identität.“[1]

Personale Identitäten sind also einerseits die Summe eigener Erfahrungen. Diese werden aber andererseits durch fremde Erfahrungen sowie gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen geprägt. Demnach wurden gerade auch die Umbruchserfahrungen Teil der Identitäten ehemaliger DDR-Bürger*innen. Zugleich entstand ein herausforderndes Nebeneinander von marginalisierten oder sogar tabuisierten Erinnerungsbeständen aus der Zeit der DDR und neuen Sagbarkeitsgrenzen, die zum Teil aus Verhaltensunsicherheiten resultierten und selbige beförderten. Mit der Erfahrung der Transformation wandelten sich Deutungsrahmen und Bewertungsmaßstäbe, Ost-West-Konflikte traten offen zu Tage. Die Umbrüche erfassten gleichsam individuelles wie auch kollektives Erinnern. Das ‚kollektive DDR-Gedächtnis‘, das sich aus dem mündlich weitergegebenen Wissensvorrat einerseits (kommunikatives Gedächtnis) und den Denkmalen, Publikationen etc. (kulturelles Gedächtnis) andererseits zusammensetzte, wurde mit den Transformationserfahrungen erschüttert, entwertet und neu bewertet. Die Denkmalstürze und Straßenumbenennungen der frühen 1990er-Jahre sind sinnbildlich hierfür. Bis heute stellen die Entwicklungen nach 1989/90 ein erinnerungskulturelles Vakuum dar. Da der gemeinsame Wissensvorrat wichtiger Identitätsbaustein und Element der Legitimierung gesellschaftlicher Ordnungen ist, waren die Auswirkungen dieser Prozesse tiefgreifend für kollektive Strukturen wie individuelle Selbstverortungen.

 

Perspektiven der Akteur*innen

Eine dezidiert auf die Akteur*innenperspektive abzielende Kulturwissenschaft steht nun vor der Aufgabe, jene Prozesse aus aktueller Perspektive zu erforschen. Eine individuelle Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte der Transformation rückt die Sicht der Akteur*innen auf zurückliegende Ereignisse vom gegenwärtigen Standpunkt aus in den Mittelpunkt. Wobei diese Sichtweise gewissermaßen durch die Folie der zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen gefiltert wird. Das besondere Potenzial der qualitativen Methoden ist insbesondere darin zu sehen, dass viele Zusammenhänge und Dimensionen mit anderen Quellen nur bedingt oder gar nicht rekonstruierbar sind. Zeitzeug*innen ermöglichen das Zeichnen eines im wahrsten Wortsinn lebendigen Bildes von Zeitgeschichte. Dabei sind Fallstricke wie die Spezifika der Gesprächssituation, soziale Erwünschtheit oder aber Wechselwirkungen zwischen Zeitzeug*innen-Erinnerungen und (zum Beispiel jubiläumsbezogenen) thematischen Konjunkturen in den Medien im Forschungsprozess zu berücksichtigen.

Zur Erforschung der Erinnerungs- und Erfahrungswelten der Transformationsphase eignet sich die vom Kulturanthropologen Albrecht Lehman entwickelte Methode der kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsanalyse besonders. Sie rückt handelnde Menschen in den Mittelpunkt und fragt nach der Gegenwart der Akteurinnen und Akteure und „(...) danach, wie sie die eigene Geschichte, die Geschichte ihrer Milieus und die große Geschichte persönlich erfahren und begreifen“. Die Methode, so Lehmann weiter, „(...) stellt die historische Dimension in den Mittelpunkt des Erkenntnisprozesses: den permanenten Wandel des Bewußtseins in der Lebensgeschichte. Inhalte des Gedächtnisses liegen nicht endgültig fest, sondern sind Teil der Geschichte, die Vergangenheit bleibt lebendig.“[2] Für eine „lebendige Vergangenheit“ spielt auch die transgenerationale Weitergabe eine zentrale Rolle, die für bestimmte Aspekte von individuellen Transformationserfahrungen ein fruchtbares sozialwissenschaftliches wie auch zeithistorisches Forschungsfeld darstellt.

 

Erinnerungslandschaft „Wendezeit“

Die Erinnerungslandschaft „Wendezeit“ ist höchst widersprüchlich und weist viele blinde Flecken und mehr oder weniger bewusste Formen der Nicht-Thematisierung auf. Ein dichtes Bild jener Zeit aus der Sicht der Akteur*innen zu zeichnen, ist eine wichtige Herausforderung auch und gerade für die zeithistorisch ausgerichteten Sozialwissenschaften. Vor allem die Indienstnahme der Erfahrungen und des Vokabulars der Friedlichen Revolution durch Rechtspopulist*innen macht die Fehlstelle offenbar. Dreißig Jahre nach der Friedlichen Revolution sind temporäre Umdeutungen zum Teil zurückgenommen, ist die longue durée der Transformationserlebnisse mittlerweile in der rasch wachsenden Distanz besser erfragbar. Insbesondere weil Erinnerungskulturen und Erfahrungsbestände nicht statisch sind, ist auch für Themenfelder, die in den 1990er-Jahren bearbeitet wurden, eine Neubefragung oft sinnvoll. So können beispielsweise Aspekte des Scheiterns, die etwa erst aus der Erfahrung einer (zumindest partiellen) Resilienz heraus kommunizierbar sind, jetzt angesprochen werden. Studien zu Transformationsgeschichte und -geschichten sollten qualitative Methoden bestenfalls mit anderen kombinieren und kontrastieren. Gerade ein gesamtdeutscher, Ost und West in Begegnung und auch im Konflikt herausarbeitender Blick auf die Phase der Transformation, der die jeweiligen Spezifika hervorhebt, Perspektivwechsel zulässt und mit gegenwärtigen Fragen verknüpft, kann zeithistorisch sehr fruchtbar sein.


[1] Michael von Engelhardt, Biographie und Identität. Die Rekonstruktion und Präsentation von Identität im mündlichen autobiographischen Erzählen, in: Walter Sparn (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, S. 197-247, hier S. 214.
[2] Albrecht Lehman, Bewußtseinsanalyse, in: Silke Göttsch/Albrecht Lehmann (Hg.), Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, Berlin 2007, S. 271-288, hier S. 271 und 276.